Nach derzeitigen Schätzungen besteht in den folgenden Bereichen alternativer Produktion ein besonders hoher Arbeitskräftebedarf:
- Schienenfahrzeugbau, Waggon- wie Triebwagenproduktion (für S- und U-Bahnen, Straßenbahnen, Regional-, Fern- und Güterzüge) sowie Ausbesserungswerke (Instandhaltung) (ca. 100.000 neue Arbeitsplätze);
- Entwicklung und Ausweitung der Produktion von E-Bus-Systemen (Oberleitung, autonom etc.), Klein- und Rufbussen, spezialisierten Nutzfahrzeugen etc. (auch für den maßvollen Export) (ca. 100.000 neue Arbeitsplätze);
- Produktion von Cargo- und E-Bikes (ca. 10.000 neue Arbeitsplätze).
Hinzu kämen die Entwicklung und der Bau von smarten Verkehrsleitsystemen sowie die Schaffung zusätzlicher Energieinfrastruktur. Die neuen Arbeitsplätze, die in der CO2-neutralen Stahlproduktion entstehen könnten, und die durch sinkende Nachfrage in der Autoproduktion wegfallenden Jobs dürften sich in etwa die Waage halten. Bei diesen Zahlen fehlen noch die vielen Arbeitskräfte, die im Betrieb des öffentlichen Nahverkehrs, der Bahn oder im Tiefbau beim Umbau der Infrastrukturen benötigt werden. Geschätzt gibt es allein hier einen Bedarf von über 220.000 Beschäftigten.
Dieser wäre noch deutlich höher, wenn wir eine kurze Vollzeit für alle ansetzen würden. Dies würde circa 75.000 weiteren Stellen bedeuten, womit wir bei fast 300.000 benötigten Arbeitskräften wären. Ebenfalls nicht enthalten in dieser Kalkulation sind die enormen Bedarfe im Bereich soziale Infrastrukturen (vgl. Heintze u.a. 2020), die mit mindestens einer Million Arbeitsplätzen zu Buche schlagen und dringend einer Aufwertung bedürfen.
Gegen die Konzerne, aber mit den Beschäftigten
Die Transformation erfordert unglaublich viel Arbeitskraft. Doch nicht in jedem Fall wird dies für Beschäftigte bedeuten, im selben Betrieb oder derselben Branche bleiben zu können. Damit eine sozialökologische Transformation nicht angstbesetzt ist (oder gar von Betroffenen bekämpft wird), enthält das Eckpunktepapier von Riexinger die Forderung nach einer Jobgarantie: Alle, die erwerbstätig sein wollen, sollen das Recht auf eine öffentlich finanzierte, tariflich bezahlte Arbeit mit “kurzer Vollzeit“ haben. Nicht einfach weniger, sondern andere Arbeit und anders arbeiten sind gefragt.
Die Konzerne werden bei dieser Transformation nicht freiwillig mittun. Sie setzen auf die Verwertung des eingesetzten Kapitals und auf die hohen Profite aus dem Verkauf von SUV-Modellen (gern auch elektrisch betriebenen) und „reiten das Pferd, bis es tot ist“, so ein Beschäftigter aus einem Automobilunternehmen (vgl. Holzschuh u.a. 2020, 7). Investitionen in unsichere Geschäftsfelder, kleinere (E-)Autos oder gar Konversion sind nicht zu erwarten. Entsprechend wären staatliche Kapitalhilfen als Hebel zu nutzen, um Druck in Richtung alternativer Produktion zu entfalten und um eine Beteiligung am Eigentum sicherzustellen bzw. perspektivisch die volle Vergesellschaftung von Unternehmen zu ermöglichen. Eine öffentliche Beteiligung wäre mit einer erweiterten Mitbestimmung von Beschäftigten, Gewerkschaften, Umweltverbänden und der Bevölkerung zu verbinden, zum Beispiel in Form von regionalen Räten. Diese könnten über die konkreten Schritte entscheiden, die notwendig sind, um die Konversion von Automobilkonzernen in ökologisch orientierte Dienstleistungsunternehmen für die Stärkung der öffentlichen Mobilität voranzutreiben. Denn ein solcher Umbau kann nur gelingen, wenn er von umfangreicher Partizipation getragen wird. Die Menschen in den betroffenen Regionen, insbesondere die Beschäftigten, wissen, dass ein Strukturwandel bevorsteht. Es wäre positiv an das enorme Wissen und den Produzenten- bzw. Gebrauchswertstolz der Beschäftigten anzuknüpfen. Die entscheidende Frage ist: Schaffen wir eine sozialökologischen Umbau der Industrie, der zugleich Jobs – nicht zuletzt im Metallbereich – und die Zukunft der Menschheit auf diesem Planeten sichert? Auch hier enthält der Vorschlag des Parteivorsitzenden der LINKEN wichtige und richtige Punkte.
Vielleicht wäre noch einen Schritt weiterzugehen, denn die Konzerne zu vergesellschaften dürfte eine fast unmögliche Aufgabe sein. Selbst wenn mit großen staatlichen Aufträgen Planungssicherheit geschaffen werden könnte und Privatunternehmen gewünschte Produktionen ausweiten würden, bliebe dies ein nur zusätzlichen Segment für die Konzerne und die Kosten würden wegen der Renditeerwartungen tendenziell höher ausfallen. Weshalb sollte daher nicht ein öffentliches Unternehmen für die alternative Produktion der notwendigen E-Busse, Straßenbahnen und Züge aufgebaut werden, streng gemeinwohlorientiert, sozusagen ein „VEB gerechte Mobilität“? Das wäre ein Projekt für die bundespolitische Ebene. Allerdings könnte damit bereits auf der regionalen und kommunalen Ebene begonnen werden: So wie auch bei der Produktion von Wohnungen die Diskussion in Richtung Bauhütte geht, könnten kommunale Verbünde eigene Produktionsstandorte für unterschiedliche E-Busse initiieren. Der Umbau der Automobilindustrie und eine andere materielle Infrastruktur für die Mobilitätswende sind eigentlich nur durch veränderte Eigentumsstrukturen zu bewerkstelligen.
Erreichbare und wegweisende Ziele für gerechte Mobilität
Auch wenn der Strukturwandel der Automobilindustrie als zentraler Pfeiler des Export- und Wirtschaftsmodells der letztlich entscheidende Knackpunkt ist, hat dieser für die Linke gegenwärtig vor allem diskurs- und bündnispolitische Bedeutung. Durchsetzungsmacht werden wir hier in nächster Zeit kaum entfalten. Anders sieht es bei der Mobilitätswende in den Städten aus, weil es hier viel Bewegung gibt, zahlreiche Initiativen aktiv sind, die ein oder andere Kommunal- oder Landesregierung mit Beteiligung der LINKEN existiert und positive und umsetzbare Forderungen damit verbunden werden können.
Winfried Wolf (2020) fasst die Potenziale so zusammen: Der Anteil des Fahrradverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen kann in allen Städten auf 30 bis 40 Prozent gesteigert werden. (Kopenhagen hat ihn inzwischen auf mehr als 50 Prozent erhöht.) Der Anteil der Fußwege an allen Wegen (begünstigt durch eine Politik, die Dezentralität fördert und zum Beispiel wieder flächendeckend Einkaufsmöglichkeiten und Freizeiträume im Nahbereich schafft) könnte bei 20 bis 25 Prozent liegen. Der Anteil des öffentlichen Nahverkehrs kann 35 bis 40 Prozent betragen. (In Zürich liegt er heute bereits bei mehr als 40 Prozent.) Je nach Mix, der von Stadt zu Stadt unterschiedlich sein wird, ist demnach eine Gesamtstruktur möglich, bei der der Pkw-Verkehr sogar bei weniger als 10 Prozent liegt. Erreicht werden kann dies durch viel Carsharing sowie den Einsatz von E-Autos, gegebenenfalls Brennstoffzellen-Bussen oder auch Drei-Liter-Pkw. Für den ländlichen Raum – in dem rund 25 Prozent der Menschen leben – gilt: Auch dieser kann an einen vertakteten und komfortablen öffentlichen Verkehr angeschlossen werden (hier werden Busse eine besondere Rolle spielen). Auch dies ist bereits in der Schweiz der Fall. Nur eine solche Mobilitätsstruktur kann den selbstgesetzten Klimazielen gerecht werden und eine verbesserte Lebensqualität bringen (vgl. ebd.).
Eine Kampagne für eine Mobilitätswende sollte zuallererst darauf fokussieren, dass wir Dinge tun, die nicht nur inhaltlich interessant und programmatisch richtig sind, sondern auch perspektivisch Wirkung erzielen können, einen exemplarischen und produktiven Konflikt bewirken, der die Schwelle der Wahrnehmbarkeit durchbricht. Oder anders gefragt: Was wäre im Bereich der Mobilität das Pendant für den Mietendeckel?
Es braucht orientierende, aber hinreichend konkrete Ziele. Wir müssen uns die Frage stellen: Was wollen wir in zehn Jahren erreichen? Die Forderungen nach einem Ende des Verbrennungsmotors und der Halbierung der Automobilproduktion bis 2030 korrespondierten dann mit den positiven Zielsetzungen weitgehend autofreier (Innen-)Städte, eines entgeltfreien, (multimodal) gut ausgebauten und klimaneutralen öffentlichen Nahverkehrs, einem 50 Prozent billigeren Regional- und Fernverkehr der Bahn, komfortableren Radwegenetzen sowie einem Anteil des Umweltverbundes (aus Bus, Bahn, Verkehr, Rad und Mobilität zu Fuß) am Gesamtverkehrsaufkommen von 80 Prozent.
Wer sind die erwartbaren Gegner, wer die potenziellen Bündnispartner? Wo liegen die Druckpunkte? Vor allem aber wo anfangen und mit wem? Das Papier von Riexinger listet zahlreiche Ansatzpunkte und Projekte auf. Aber welches wären die gegenwärtig gewinnbaren Kämpfe und Auseinandersetzungen, welches die wegweisenden kurzfristigen Ziele bzw. Einstiegsprojekte? Im Folgenden einige Vorschläge:
- Mobilität für alle: Nulltarif im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) für Schüler*innen und Auszubildende (in Berlin bereits realisiert), kurzfristig auch für Senior*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen, 365-Euro-Ticket für alle, perspektivisch eben der generelle Nulltarif. Kofinanziert würde das durch eine Nahverkehrsabgabe der Unternehmen, was zugleich einen Gegnerbezug herstellen würde (statt nur die klammen Kommunen zu adressieren).
- Mehr Mobilität: Aufstockung des Klimapakets der Bundesregierung um 20 Milliarden Euro an Investitionsmitteln für Kommunen zum Ausbau des ÖPNV und eine angemessene Personalbemessung („Mehr von euch ist besser für alle“ bei der anstehenden Tarifrunde im ÖPNV). Allein die umweltschädlichen staatlichen Subventionen für den Auto- und Flugverkehr summieren sich jedes Jahr auf 29 Milliarden Euro. Diese wären umzulenken in den Ausbau des Umweltverbundes. Solche Investitionen könnten auch durch Kreditaufnahmen flankiert werden. Dafür braucht es aber Druck auf die Bundesregierung und ein Ende der Schuldenbremse, um Spielräume für Landes- und Kommunalregierungen zu schaffen, zum Beispiel über eine entsprechende Bundesratsinitiative.
- Bahn für alle: Das Papier von Riexinger fordert eine Aufstockung des Klimapakets um neun Milliarden Euro pro Jahr an Investitionsmitteln für die Bahn zur Stärkung des Regionalverkehrs. Damit könnte eine Verdopplung der Takte bewerkstelligt werden. Hinzu käme eine Halbierung der Preise über die Einführung einer „BahnCard50 für alle“. Privatisierte Strecken sollten grundsätzlich wieder in den Betrieb der Bahn überführt oder rekommunalisiert werden (Stichwort: S-Bahn). Parallel dazu würden ein Verbot von Inlandsflügen bzw. hohe Abgaben für diese zusätzliche Anreize für die Nutzung der ökologischeren Bahn schaffen (vgl. Heuwieser in LuXemburg 1/2020). Zusammen mit den Fridays for Future, der Klimabewegung insgesamt, den Bahngewerkschaften kann entsprechender gegen die Bundesregierung erzeugt werden, für die Finanzierung einer, auf das Gemeinwohl orientierten Bahn für alle (vgl. Waßmuth in LuXemburg 1/2020).
- Raum schaffen für den Umweltverbund und für Erholung, Spiel und Begegnung. Dies kann durch die Ausweisung autofreier innenstädtischer Zonen gelingen, die für die Einrichtung von Spielstraßen und anderen shared spaces genutzt werden können (mit den Auflagen Schrittgeschwindigkeit für Autos, Vorrang von Fußgängern und Car- bzw. Bike-Sharing und wie etwa beim Konzept der Superblocks in Madrid mit nur noch beschränkten Parkmöglichkeiten für Menschen mit gesundheitlicher Einschränkung). Umfangreiche Straßenumbauten wie bei überambitionierten Begegnungszonen sind unnötig, Straßen könnten zunächst mit einfachen Pollern für den (Durchgangs-)Verkehr gesperrt, die entsprechenden Zonen mit Verkehrsschildern ausgewiesen werden. Damit nicht der gesamte Verkehr auf Hauptverkehrsstraßen umgeleitet werden muss (und dort die Anwohner*innen unzumutbar belastet), sollten drei Spuren für die jeweiligen Verkehrsträger (Auto, ÖPNV und Rad) eingerichtet werden. Dies ginge auf Kosten des Parkraums. Dafür sind es viele Hindernisse in den Verwaltungen (vgl. Petri in LuXemburg 1/2020) oder in der Verkehrsordnung des Bundes zu überwinden (vgl. Leidig in LuXemburg 1/2020). Allerdings drängen hier zahlreiche Initiativen sowie Mobilitätswende-Bündnisse nach vorn und gibt es hierfür in der Bevölkerung große Sympathien, selbst unter Autofahrer*innen. Rebellische Kommunen und Bezirke könnten die Grenzen der Gesetzeslage austesten. Übrigens: Wo solche Modelle bereits realisiert sind, führt dies zu einer (Wieder-)Belebung des Einzelhandels.
- Entschleunigung und Sicherheit: generelles Tempolimit von 30 Kilometern in Ortschaften. Dieses ist schon jetzt stufenweise für zentrale und vielbefahrene Achsen eingeführt worden und wäre sukzessive auf ganze Dörfer und Städte auszuweiten. Dies ist eine ausgesprochen wirksame und schnell umsetzbare Maßnahme, die sich mit gesundheitspolitischer Gefährdung und Klimanotstand begründen ließe.
Mit wem soll all dies erkämpft werden? Nun, die anstehende Tarifrunde bietet unmittelbar die Möglichkeit, Forderungen für eine Verbesserung und Verbilligung des ÖPNV mit Forderungen nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten und entsprechenden Investitions- und Haushaltsmitteln zu verbinden, also Gewerkschafts- und Klimabewegung zusammenzubringen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung will dies zusammen mit ver.di und der Bewegung Fridays for Future etwa in diesem Frühjahr versuchen. Dies schließt durchaus ein "rebellisches Regieren" mit ein, um Umwege zu finden, dort, wo die Schuldenbremse bislang Investitionen verhindert oder die Ausweisung autofreier Zonen stark beschränkt ist, da dies nicht unter die Rechte von Kommunen fällt. In Madrid etwa konnte die Stadtregierung mit der Begründung, die Umwidmung des Verkehrsraums diene dem Schutz der Gesundheit der lokalen Bevölkerung, eine veränderte Rechtsauslegung gerichtlich erzwingen. Zu prüfen wäre zudem, wie juristisch belastbar die Ausrufung eines Klimanotstandes ist. Die Erfahrungen mit dem Mietendeckel in Berlin etwa zeigen, dass rechtliche Öffnungen und Grauzonen für die Erweiterung von Spielräumen genutzt werden können – wenn man solche Konflikte gezielt und gut vorbereitet eingeht.