Die vorbereitenden Planungen sind sicherlich nicht zu unterschätzen: Das kanadische Netzwerk Adbusters startete Mitte Juli einen Aufruf, bald beteiligten sich auch us Day of Rage, Anonymous und die nyc General Assembly, die zumeist aus New Yorkers Against Budget Cuts hervorging. Zu einer ersten Besetzung am 27. September erschienen ca. 2 000 Leute – weit weniger als erwartet. Die Initiative hätte verebben können, aber ihre entschiedene gewaltlose Militanz traf auf den Resonanzraum angestauter Problemlagen. Die im September veröffentlichten Statistiken des Census Bureau zeigen, dass die Armut unter Obama einen Höchststand von offiziell 15,1 Prozent erreicht hat, wobei die wirklichen Zahlen konservativ geschätzt eher bei einem Viertel der Bevölkerung liegen dürften. Reformvorhaben und Konjunkturpakete haben nicht verhindert, dass sowohl die Einkommenspolarisierung als auch Arbeits- und Obdachlosigkeit rasant zunehmen. Halbherzigkeit und Hilflosigkeit der Obama-Regierung sind offensichtlich. Bei vielen verschuldeten Studienabgängern, prekär Beschäftigten, Gewerkschaftern, bedrohten Mittelschichten haben sich Enttäuschung, Resignation, Wut angestaut. Offensive Aktionen waren sowohl von Gewerkschaftsseite als auch von der Friedensbewegung für den Herbst geplant. Vor diesem Hintergrund konnten die vorbereiteten Initiativen »zünden«. Sie wirkten als Befreiung und Ermutigung. Allein schon das Ausharren der BesetzerInnen, ihr Mut und ihre Ausdauer erzeugen Bewunderung und werden somit selbst zu einem gewichtigen Faktor in den hegemonialen Kämpfen.

Bedeutend sind die Besetzungen nicht zuletzt in ihrer Auswirkung auf die Linke im weitesten Sinne. Seit 40 Jahren geht es mit ihr bergab. Sie ist entmutigt, weil die politische Hegemonie nahezu ausschließlich zwischen der Rechten und dem »Zentrum« ausgefochten wird. Auch eigene Hilflosigkeit oder Untätigkeit hat sie resignieren lassen. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad liegt in der Privatwirtschaft bei 6,9 Prozent. Sozialistische oder ­kommunistische Parteien sind nahezu verschwunden. ­Einpunktbewegungen hatten ihren Auftrieb, sind aber entweder erschöpft oder wurden vom Mainstream aufgesogen.

Alle diese Linken, die bewussten wie die impliziten, spricht Occupy Wall Street (ows) nun an. Mit der Botschaft »Du bist nicht allein, sondern Teil einer Massenbewegung«, erreicht sie Millionen US-Bürger. Sie sammelt und mobilisiert die Linke, und dies erfolgreicher als die meisten Massenbewegungen vor ihr.

Eine entscheidende Dimension der ows-Bewegung ist ihr breit angelegter und inklusiver Charakter. Die Menschen werden angesprochen und organisiert auf Grundlage der einfachen wie einleuchtenden Entgegensetzung zwischen den 99 Prozent, zu denen sie sich zugehörig fühlen, und dem einen Prozent, dem die Finanzinstitutionen und Großunternehmen gehören und das die Regierung kontrolliert. Der sozialökonomische Gehalt dieser Gegenüberstellung ist soeben vom offziellen Congressional Budget Office Bericht zur Einkommensentwicklung bestätigt worden. Dieses eine Prozent, das die Krise verursacht hat, nutzte seinen Regierungseinfluss dazu, um sich auf Kosten der 99 Prozent entschädigen zu lassen. Auf dieser Grundlage verbindet sich die Kritik am ökonomischen Versagen mit der an einer undemokratischen Politik. Hinzu kommt ein deutlicher Schwerpunkt auf ökologischen Forderungen sowie eine lange Liste eher klassisch-linker Anliegen wie allgemeine Krankenkasse und Verstaatlichung der Banken.

Die ows-Initiative ist offen und einladend. Die programmatischen Aussagen sind allgemein formuliert, breit angelegt und flexibel. In der Selbstdarstellung legt man ein besonderes Augenmerk auf Gemeinschaft, Solidarität, Kreativität und Freude, die die Aktivisten in ihren Engagement finden. Dem passiven Ausgeliefertsein der Vereinzelten wird die Lust am gemeinsamen Tun-Können entgegengesetzt.

Die ows-Bewegung verfügt nur über minimale Organisationsstrukturen – das entspricht ihrer Skepsis gegenüber hierarchischen Strukturen. Dennoch ist sie de facto erstaunlich gut und effektiv organisiert. Das rasche Anwachsen der Bewegung wurde bislang ausgezeichnet bewältigt. Sie war in der Lage, komplexe Manöver mit der Polizei und anderen ­Staatsapparaten durchzuführen. Die interne Logistik im Zuccotti Park läuft wie am Schnürchen. Das Übernachten, die täglichen Verpflegung, die Reinigung des Platzes, die medizinische Betreuung – das zu organisieren, sind schwierige Herausforderungen. Hinzu kommen umfangreiche Weiterbildungsmaßnahmen (Seminare, akademische Vorträge, offene Foren), eine öffentliche Bücherei auf einer Seite des Platzes, die Organisation gemeinsamer Debatten und Entscheidungen in der Generalversammlung, der Umgang mit schnell anwachsenden Pressekontakten, die Vorbereitung und Durchführung von Kulturveranstaltungen usw.

Dass es den Organisatoren gelang, an einem Tag (dem 15. Oktober) mehrere große Demonstrationen und Kundgebungen auf eine Weise zu organisieren, dass sie sich nicht Konkurrenz machten, sondern wechselseitig verstärkten, zeugt von großer politischer Klugheit. Es gibt kulturelle Neuschöpfungen: Das Verbot von Mikrophonen und Megaphonen hat eine neue Form der Massenkommunikation hervorgebracht, bei der die ZuhörerInnen die gehaltenen Reden über wiederholende Sprechchöre weiterverbreiten – Satz für Satz, jeden Satz in mehreren Echowellen. Geht der Kontakt mit den äußeren Reihen verloren, wird die Rede durch den Chor »mic check!« unterbrochen. Beeindruckend ist bereits, dass dies funktioniert. Hinzu kommt, was man etwas altertümlich die Klugheit und Kreativität der Massen nennen könnte. Der Zwang zu kurzen Sätzen sowie das kombinierte Hören-Sprechen schaffen eine intensive Verbindung zur Sprache und zum Miteinander, sind ästhetisches Kunstwerk und Aktionstheater in einem.

Zwei zentrale Probleme lassen sich jetzt schon benennen. Zum einen das schlichte Überleben der Bewegung: Schon die winterliche Kälte kann zum Rückzug zwingen; eine Neuauflage der Konfrontation durch die Polizei (wie z.B. die Räumung des Platzes aus angeblich sanitären Gründen), Gewaltausübung durch politische Gegner, durch Teile der Besetzer selbst oder durch eingeschleuste Agenten; das Aufbrechen innerer Streitigkeiten, die enttäuschte Abwendung eines Teils der Aktivisten, Spannungen zwischen Aktivisten und mitwohnenden Drogenabhängigen usw. Zum anderen die Gefahr, von Mainstream-Organisationen für die eigenen Zwecke kooptiert zu werden. Die Demokratische Partei wünscht sich nichts sehnlicher, als die ows-Bewegung einzuspannen, um den Obama-Enthusiasmus von 2008 für das Wahljahr 2012 wiederzubeleben. Die traditionelle Gewerkschaftsbewegung ist an Bündnissen mit ows-Initiativen interessiert, um ihre Bemühungen zur gewerkschaftlichen Organisierung der Unorganisierten voranzubringen.

Bisher hat die ows-Bewegung sorgsam darauf geachtet, sowohl die lobenden Kommentare aus der Demokratischen Partei als auch die Kooperationsbereitschaft der Gewerkschaften zu befürworten und zu begrüßen. Dies verschaffte ihr drei Vorteile: Zum einen veränderte die Unterstützung durch führende Vertreter der Demokratischen Partei wie z.B. Nancy Pelosi die Berichterstattung der Medien, die nun nicht mehr in erster Linie von seltsamen Hippies, Taugenichtsen und verkrachten Existenzen, sondern von einer »wichtigen neuen sozialen Bewegung« berichteten; zum zweiten wurde der Polizei signalisiert, dass weitere Repressionen gegen die Demonstranten auf Ablehnung in breiten Bereichen der Gesellschaft stoßen würden; zum dritten wurde viele Sympathisanten, die der ows-Bewegung aus Angst vor sozialer Isolation fernblieben, dazu ermutigt, sich aus erster Hand zu informieren oder sich an ows-Aktivitäten zu beteiligen.

Richard Trumka, Vorsitzender der afl-cio, besuchte ows schon frühzeitig, betonte ihre Legitimität und untertützte sie de facto. Dies ermöglichte den lokalen Gewerkschaften, sich an der Bewegung zu beteiligen, ohne Schwierigkeiten mit der Führung des Dachverbands befürchten zu müssen. So solidarisierten sich z.B. die Gewerkschaften der Lehrer und der Kommunikationsbranchen und schützten die ows-Bewegung vor der Polizei, die ebenfalls zu einem großen Teil gewerkschaftlich organisiert ist. Die Gewerkschaften haben mittlerweile Versammlungsräume angeboten. Die ows-Bewegung hat wiederum Demonstrationszüge zu den gerade ablaufenden Streikaktionen, v.a. dem großen Verizon Streik und dem kleineren Streik beim Sothebyʼs Auktionshaus, organisiert. Das Verhältnis zwischen den Gewerkschaften und einer linken, antikapitalistischen Bewegung ist weitaus enger als früher.

Unserem Eindruck nach orientieren die meisten Aktivisten in ows auf eine neue Bewegung, die sich den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Organisationen weder unterordnen noch von ihnen kooptieren lässt. Dies eröffnet die Möglichkeit, dass sich aus der ows-Bewegung (oder in Wechselwirkung mit ihr) eine unabhängige Formation der Linken herausbildet. Ob dies gelingt, hängt wiederum von mehreren Faktoren ab: von der strategischen Weitsicht der ows-Aktivisten, insbesondere hinsichtlich der historischen Erfahrung, dass soziale Bewegungen ohne nachhaltige Auffangstruktur wieder abebben; von der Bereitschaft und Fähigkeit ihrer Bündnispartner, sich auf neue Aktionsformen und Entscheidungsprozeduren einzulassen, zuzuhören und zu lernen, statt alte Rezepte anzuwenden; von der Präsenz einer solidarischen, nicht-kooptierten und zugleich nicht-sektiererischen Linken; von der Zusammenarbeit mit Intellektuellen, die in der Analyse und Kritik des gegenwärtigen High-Tech-Kapitalismus bewandert sind, usw.

Jeder Artikel, der nicht am gleichen Tag veröffentlicht wird, läuft Gefahr, bei Erscheinen schon veraltet zu sein. Niemand kann mit Sicherheit voraussagen, ob die ows-Bewegung überleben oder wie sie sich weiterentwickeln wird. Alle Aspekte ihres gegenwärtigen Funktionierens und ihrer künftigen Orientierung sind Gegenstand intensiver und komplizierter Debatten. Klar ist aber jetzt schon, dass viele Menschen in den usa ein großes Bedürfnis nach neuen politischen Ausdrucksformen und einem grundlegenden Wandel haben. Die ows-Bewegung erscheint ihnen als die beste Gelegenheit seit langem. Es gibt zur Zeit auch keinen Grund, dem Drängen der Medien und einiger »gutmeinenden« Bündnispartner nachzugeben und sich auf eine präzise Forderungsliste festzulegen. Für eine so schnell anwachsende und sich verbreiternde Bewegung wäre dies voreilig. Entscheidend sind nicht fertige Forderungen, die dann von den bereitstehenden Apparaten und ihren Ideologen »sachlich geprüft«, partiell ausgewählt und »weiterverarbeitet« werden, sondern die Debatten um eine Alternative zum gegenwärtigen Kapitalismus selbst mitsamt der mit ihnen verbundenen demokratischen Diskussionskultur. Das Interesse an fundierter marxistischer und sozialistischer Kapitalismuskritik ist beachtlich. Indem die ows diese Kritik in ihre Debattenkultur mit einbezieht, kann sie einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung und Aktualisierung einer linken Alternative im 21. Jahrhundert leisten.