Es gibt im ganzen Land um die 3000 funktionierende Comunas, ergänzt durch etwas 50000 kommunale Räte und andere lokale Organisationen. Sie stellen ein gewaltiges Experiment gesellschaftlicher Partizipation und Selbstregierung ›von unten‹ dar. Die popularen Klassen kümmern sich um die Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen, sorgen für den Bau von Wohnungen und eine Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur. Es entstehen Stadtplanungs-, Kultur-, Bildungs- und Rechtsprechungsprojekte ›von unten‹. Die Comunas können sich außerdem mit anderen Comunas und Organisationen zusammenschließen und gemeinsam Entwicklungspläne erarbeiten. Bemerkbar macht sich dies besonders bei der Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen. Auch wenn die Mehrzahl dieser Projekte durch den Staat finanziert wird, gibt es auch selbstverwaltete Comunas, die sich mit eigenen Ressourcen oder durch von der Gemeinschaft kontrollierte Produktionsmittel finanzieren – also nicht von Zahlungen des Staates abhängig sind.
Schwierigkeiten und Herausforderungen beim Aufbau der Comunas
Diese Form der Organisierung und des Ausbaus lokaler Macht stößt jedoch auch auf Grenzen. Viele der gegenwärtigen Probleme haben mit dem Entstehungsprozess der Comunas als auch mit den strukturellen Rahmenbedingungen zu tun. Venezuela ist außerordentlich stark von seinen Öleinnahmen abhängig, und die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat (der unter Chávez die Verfügungsgewalt über die Erdöleinnahmen zurückerobert hat) sind dadurch stark deformiert. Ich möchte auf Grundlage einer Feldstudie, die wir in den letzten zwei Jahren in drei Comunas von Caracas durchgeführt haben, einige dieser Probleme aufzeigen.
Ressourcenökonomie versus Produktion
In unserer Feldstudie haben wir die enge Beziehung zwischen popularer Macht und materieller Produktion feststellen können. Wenn diese Macht nicht auf Praktiken der Produktion, Aneignung und Verteilung von Gütern beruht, verwandelt sie sich in eine Verwaltungsinstanz ohne Fähigkeit zur Gestaltung des kollektiven Lebens.
Die Beziehung zum Staat
Ein zweites (oben bereits skizziertes) Problem beim Aufbau der popularen Macht ist ihr Verhältnis zum Staat. Dieser verfügt mit der Ölrente über ein Machtinstrument, was oftmals zur Einmischung oder Bevormundung genutzt wird. Mit diesem Hinweis soll nicht gesagt werden, dass die Comunas jede Beziehung zum Staat abbrechen sollten. Während des Übergangs zu neuen Formen der Staatlichkeit übt der Staat notwendigerweise Schutz-, Koordinations- und Souveränitätsfunktionen aus und bietet Dienstleistungen und Güter an, die nicht von den Basisorganisationen zur Verfügung gestellt werden können. Und doch ist die komplexe Beziehung zwischen Comunas und Staat Ausdruck eines politischen Kampfs, nämlich der Auseinandersetzung darum, wer tatsächlich die Macht innehat – die Bürokratie oder das ›Volk‹.
Die Beziehungen zwischen popularer Macht und Staat können von Kooperation, Reziprozität oder Konflikt bestimmt sein, sie können sogar die verschiedenen Merkmale gleichzeitig aufweisen. Aber solange die Comunas von der Macht des Staates abhängig bleiben, besteht die Gefahr der Unterwerfung.
Die Idee des Kommunestaates beruht darauf, dass sich die Commuas Kompetenzen und Ressourcen zur lokalen Selbstregierung aneignen, aber auch über die strategische Ausrichtung der Politik im Land mitentscheiden. Das impliziert eine Transformation des alten Staates, womit die Herrschaft des Staatsapparates überwunden und er in die Dienste des ›Volkes‹ gestellt wird. Kommt es nicht dazu, wird der bürokratische Apparat die neuen Machtformen ›von unten‹ ersticken oder sie in ein Anhängsel beziehungsweise einen Transmissionsriemen der bürokratischen Macht verwandeln.
Die Trennung zwischen Führenden und Geführten
Ein häufig zu beobachtendes Problem ist die Reproduktion von Herrschaftsbeziehungen in den Comunas selbst, also die Spaltung in Führende und Geführte. Sprecher*innen oder Aktivist*innen einer Comuna degradieren die anderen Mitglieder oftmals zu passiven Zuhörer*innen und Entscheidungen werden nur von einer kleinen Gruppe gefällt. Dabei handelt es sich um einen sich selbst verstärkenden Prozess: Umso weniger die lokale Bevölkerung beteiligt ist, desto weniger wird sie sich für Aktivitäten oder Projekte der Comunas interessieren. Wenn eine Person oder eine Gruppe alles allein entscheidet und als Versorger*in gegenüber der Community auftritt, dann schafft sich damit eine ›Klientel‹, mit der die eigene Macht gesichert werden kann. Dabei werden Kritiker*innen und Abweichler*innen häufig als Oppositionelle oder Kriminelle denunziert und ausgegrenzt.
Die Aneignung kollektiver Macht durch einige wenige und die Trennung zwischen Führenden und Geführten sind mit den Kerngedanken der Comunas nicht vereinbar, denn sie reproduzieren die Herrschaftslogik. Eine Führungsgruppe wird zur Regierung im Kleinen, die Probleme ›löst‹ und hinter dem Rücken der Comuna regiert. Dies unterminiert den egalitären Charakter des sozialistischen Projekts, das Gemeinsame zerfällt und wird für Einzelinteressen instrumentalisiert.
Die Beziehung mit dem Territorium und der ›Lokalismus‹
Chávez (2009) hat frühzeitig auf die Gefahren des ›Lokalismus‹ hingewiesen. Die Comuna müsse als eine territorial verankerte Einheit in ein Gesamtsystem eingebunden sein. Das Lokale, das sich auf das eigene Territorium beschränkt, ohne Verbindungen mit anderen Strukturen zu entwickeln, sei reaktionär. Die Comuna selbst stellt eine Antwort auf den Lokalismus früherer Formen der popularen Organisation dar. Ihre Verortung in einer neuen Machtgeometrie bedeutet, das Verhältnis zu größeren territorialen Einheiten (der Stadt, der Region, dem Land und der Welt) zu erkennen, denn nur dann können existierende Ungleichheiten zwischen Territorien, zwischen Armen- und Reichenvierteln, zwischen produktiven und Rentiersregionen usw. überwunden werden. Die Rentenökonomie befördert allerdings lokalistische Tendenzen: Man begibt sich in Konkurrenz mit anderen Nachbarschaften um staatliche Mittel, anstatt strukturelle Ursachen zu bekämpfen, die ein Territorium gegenüber anderen benachteiligen. Bisweilen lässt sich dies auch innerhalb einer einzelnen Comuna beobachten, sodass beispielsweise nur diejenigen Gebiete, in denen die mächtigeren Mitglieder der Organisation wohnen, von staatlichen Finanzhilfen profitieren.
Fazit
Der Aufbau der popularen Macht in Venezuela war ein neuartiges und mutiges Projekt. Wie zu Beginn dargelegt, handelte es sich um einen schöpferischen Prozess ›von unten‹, der schon lange, bevor populare Macht gesetzlich verankert und ›von oben‹ gefördert wurde, entstand. Doch in ihrer Entwicklung ist diese populare Macht mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert, bei denen es sich letztlich um die zentralen Probleme der venezolanischen Gesellschaft selbst handelt – nämlich um die konkrete Form des Kapitals und seiner Herrschaft. Die Beschränkung dieser Macht auf die Verteilung von (sich angesichts der Wirtschaftskrise verknappenden) Pfründen, ihre Verwandlung in einen Transmissionsriemen des bürgerlichen Staates (der seinen Klassencharakter nicht eingebüßt hat), die Restauration alter Herrschafts- und Ausschlusspraktiken auf kleinster Ebene, die Reproduktion von Korruption, Ineffizienz, Postengeschacher und Klientelismus – das sind die realen Gefahren, die sich zu verschärfen drohen.9