Der Umbau des Energiesystems steht nicht vor der Tür, wir befinden uns mittendrin. Erst am Anfang steht aber die öffentliche Debatte darüber, wie der Wandel zur regenerativen Vollversorgung aussehen soll. Zwar ist das Ziel einer CO2-freien Energieversorgung bis spätestens 2050 parteiübergreifend Konsens. Dies ist nicht nur alternativlos, sondern auch nachweislich ohne Atomkraft oder CO2- Verpressung möglich und bezahlbar. Viele Konturen des Weges dahin liegen aber noch einem Nebel, in welchem sich einiges an Konflikten zusammenbraut.
Die Diskussion über die praktischen Schritte beim Ausbau von Erzeugung und Netzen verläuft zunehmend gereizt, selbst unter Umweltbewegten. Bei vielen geht die Angst um, falsche Weichen zu stellen und damit Großkonzernen im Umweltsektor das Feld zu eröffnen. Daher lehnen Klimaschützer bisweilen große Offshore-Windparks im Meer ab. Auch Plänen zur großräumigen Vernetzung des künftigen regenerativen Stromsystems schlägt Widerstand entgegen, weil sie dezentrale Konzepte zerstören und neue Übertragungsnetze notwendig machten.
Dezentralität wird mit bedenkenswerten Argumenten untermauert – auch von Marcel Hänggi. Andere sehen Rot, wenn nur entfernt die Gefahr besteht, dass große Energieversorger oder Kapitalgesellschaften an der Energiewende verdienen könnten – was nicht von Kleinunternehmern und Genossenschaften finanziert werden kann, erscheint inakzeptabel. Wieder andere folgen eher dem Prinzip »nicht in meinem Garten!«, etwa wenn es um eine neue Stromtrasse geht, bei der Anwohnern verdächtig schnell klar ist, die Leitung sei überflüssig für die Energiewende, diene nur der Profitmaximierung von RWE&Co.
Es wäre an der Zeit, die Debatte weniger aufgeregt zu führen. Die Organisation einer postfossilen Wirtschaft ist ein offener Suchprozess. Diskussionen sollten nicht im Keim erstickt, Optionen nicht von vornherein verworfen werden. Eine sichere, bezahlbare und naturverträgliche Versorgung mit regenerativen Energien erfordert ein hochkomplexes System von Erzeugung, Transport, Speicherung und Verbrauchssteuerung. Zweifel, ob eine fast vollständige dezentrale Erzeugung der Königsweg ist oder ob Dezentralität durch größere regenerative Strukturen ergänzt werden muss, sind weder naiv und unpolitisch, noch technikgläubiger Humbug.
Jedes weitere Zurückdrängen von Kohle und Atom wird auf den hartnäckigen Widerstand der überkommenen fossil-atomaren Energieversorger stoßen. Hinzu treten Auseinandersetzungen, deren Konfliktlinien weit weniger scharf zu ziehen sind. Es gibt z.B. ernst zu nehmende Zielkonflikte zwischen Klimaschutz und anderen Umwelt- und Entwicklungszielen: Wie verträgt sich der rasante und notwendige Ausbau von Windkraft oder Stromtrassen mit dem Natur- und Landschaftsschutz? Welche Haltelinien brauchen wir bei den Agro-Energien, um nicht biologische Vielfalt oder Ernährungssicherheit zu gefährden? Der zerstörerische Import von Agrosprit aus dem globalen Süden z.B. ist eine Scheinlösung, die die Grundlagen der Automobilgesellschaft nicht in Frage stellt.
Andere Probleme berühren stärker strategische Fragen der Energiewende, wie sie Hänggi diskutiert. Erhebliche Unsicherheiten bestehen, weil komplexe technisch-ökonomische Sachverhalte mit einer Vielzahl von Variablen miteinander verschränkt sind. Es geht um Fragen wie: Welcher Anteil zentraler Erzeugung aus Wind und Sonne ist bei einer im Wesentlichen dezentralen Strom- und Wärmeproduktion notwendig bzw. sinnvoll? Wie soll das künftige Stromnetz beschaffen sein? Wie wird aus dem naturgemäß fluktuierenden Ökostrom (v.a. aus Wind und Sonne) eine jederzeit sichere Stromversorgung?
Erste Antworten darauf scheinen auf der Hand zu liegen: Verschiedene erneuerbare Energien sichern sich gegenseitig ab – »Irgendwo weht immer der Wind!« –; Biogas fungiert als Energiepuffer, ansonsten müssen Stromspeicher einspringen. Zeitweilig sind auch Gaskraftwerke notwendig, um Engpässe auszugleichen. Im Grundsatz also alles kein Problem, wenn es den politischen Willen gibt.
Im Detail wird die Gemengelage selbst für Fachleute schnell unübersichtlich. Denn die Elemente des neuen Energiesystems sind bisweilen nicht nur widersprüchlich miteinander verbunden, sondern im Umbruch und damit in ständiger Bewegung. Wer an einem Ende zieht, stößt häufig auf ein Knäuel an Unwägbarkeiten, auch rein technischer Art.
Denken wir uns etwa Deutschland in zehn Jahren, also hoffentlich ohne AKWs. Wie viele Kilometer neuer Stromleitungen werden bis dahin gebraucht? Entscheidend ist, welche Art regenerativer Stromerzeugungsanlagen an welchen Orten und in welcher Dimension aufgebaut wird und wo die Verbraucher sitzen. Ist mit sehr vielen kleinen Anlagen zu rechnen, basierend auf Photovoltaik und zerstreuten Windkraft- und Biogasanlagen; oder auch mit einem maßgeblichen Anteil großer Erzeugungsstrukturen mit zentralisierten Einspeisepunkten und fernen Verbrauchszentren, wie bei Windparks an der Küste oder in der See?
Die Hoffnung, durch Dezentralisierung würden im größeren Umfang Netze überflüssig, trügt. Das neue Energiesystem benötigt den zeitweiligen regionalen Stromüberschuss, der bei gutem Wind und Sonne an Defizitregionen oder in Energiespeicher fließen muss – natürlich übers Netz. Dabei dürften Mini-Stromspeicher im Keller von Einfamilienhäusern im Vergleich mit größeren zentralen Speichern nicht nur teurer sein. Jede Windkraftanlage braucht bis zum Verteilnetz eine Stromleitung, die es vorher nicht gab. Unter dem Strich dürfte eine stark dezentral orientierte Erzeugung – wenn sie auf weitgehende Autarkie ohne Stromverbund setzen würde – einzig jene Netzbeanspruchung vermindern, die bei Hochspannungstrassen für den Ferntransport zwischen größeren Regionen anfällt. Im Gegenzug würde sie aber darauf verzichten, die Ökoenergien vorrangig dort zu ernten, wo sie die Natur zur jeweiligen Zeit besonders günstig bereitstellt. Dieser Aspekt kann zwar hinter anderen Erwägungen an Gewicht verlieren, wie etwa der einer Energieautonomie, regionalen Wertschöpfung und Politik gegen Großkonzerne. Der völlige Verzicht auf solche Art von Effizienz ist teuer und Ressourcen fressend.
Künftig sind Großstädte und Ballungsgebiete komplett mit Ökostrom zu versorgen. Trotz der Unmenge an Windkraft- und Solaranlagen, die bereits jetzt jeden Besucher Brandenburgs oder Sachsen-Anhalts ins Auge stechen, halten Wind und Photovoltaik gegenwärtig zusammen nur 8,1 Prozent am bundesweiten Strommix. Biogas ist hierzulande nur begrenzt, Wasserkraft kaum noch ausbaubar. Zudem gibt es neben der Stromversorgung noch weitere Aufgaben, für die regenerative Energien gebraucht werden: für eine nachhaltige Mobilität oder bei der CO2- Minderung im Gebäudesektor. Kurzum, es gibt keine Potenziale zu verschenken. Unter einer allzu engstirnigen dezentralen Autarkiepolitik könnte die Akzeptanz von Windkraft-, Photovoltaik- und Biogasanlagen im Land leiden. Zusätzliche Erzeugungsanlagen, die nur die technisch-ökonomischen Ineffizienzen eines solchen Systems ausgleichen sollten, machen die Landschaft nicht schöner.
Zurück zu den Netzen. Die erwähnte mögliche Entlastung des Hochspannungsübertragungsnetzes durch dezentrale Erzeugung kann nur dann zu weniger Trassen führen, wenn leistungsfähige Stromspeicher zur Verfügung stehen. Diese müssen eine Region über mehrere windarme Winterwochen bringen können. Speicher sind deshalb maß- geblich für den Freiheitsgrad einer dezentralen regenerativen Energieerzeugung. Die naturgegebenen Erzeugungsschwankungen von Wind und Sonne lassen sich in einer vollständig regenerativen Welt nur über zwei Wege ausgleichen: über einen großräumigen Stromverbund, der regionale Unterschiede kompensiert, und/ oder die möglichst verlustarme Speicherung von Elektrizität. Wann es jenseits von Pumpspeicherwerken bezahlbare Stromspeicher mit brauchbaren Kapazitäten geben wird, ist eine weitgehend ungelöste Frage der Energiewende. Offen ist, ob Speicher eher zentral (z.B. großtechnische elektrolytische Verwandlung von Überschussstrom in Wasserstoff oder Methan) oder dezentral (etwa über Nutzung von Akkumulatoren aus der E-Mobilität oder von Druckluftspeichern) organisiert sein werden. Eine Rolle spielt dabei auch, ob der Stromverbund so groß gedacht wird, dass die enormen Speicherpotenziale norwegischer Stauseen ins Spiel kommen, wie es dem Sachverständigenrat für Umweltfragen vorschwebt. Dafür bräuchte es verlustarme Hochleistungs-Gleichstrom-Übertragungsleitungen, Speicherkosten würden enorm gemindert.
Länge und Struktur künftiger Stromtrassen hängen auch von der fossilen Stromproduktion ab: Diese wird beim Ausbau erneuerbarer Energien noch (abnehmend) bedeutsam sein, weil sie Backup-Leistungen sowie Regelenergiedienste für die schwankende Einspeisung von Wind und Sonne bereitstellen muss. Wie schnell und in welcher regionalen Reihenfolge verschwinden die trägen großen Kohlemeiler? Und wie viele moderne und flexible Gaskraftwerke werden dafür an welchen Stellen benötigt? Letztere sind wahrscheinlich noch Jahrzehnte notwendig. Um so besser es gelingt, über datengestützte Verbrauchssteuerung und Verträge bei den ortsnahen Verbrauchern die Stromnachfrage so zu steuern, dass möglichst viel davon in die Zeiten der witterungsbedingt höchsten Stromproduktion fällt, um so mehr Speicher und Fernleitungen kann man sich sparen. Allerdings raufen sich die Datenschützer über die dafür notwendigen sekundengenauen Dateninformationssysteme schon jetzt die Haare.
Fazit: Es ist außerordentlich schwierig, die Länge künftiger Netze oder den Grad einer sinnvollen Dezentralisierung voraus zu bestimmen. Für die Zukunft des regenerativen Energiesystems muss offen bleiben, in welchem Ausmaß darin ergänzende zentrale Elemente eine Rolle spielen werden. Denn die langfristige Entwicklung, insbesondere bei künftigen Speichertechniken, aber auch bei den Systemvorteilen und Kosten der unterschiedlichen Erzeugungsarten, sind nur schwer abzuschätzen. Nicht umsonst haben unterschiedliche Forschungseinrichtungen für die Zeit bis 2030 oder 2050 eine Reihe von Szenarien erarbeitet, die eines gemeinsam haben: Eine rein dezentrale regenerative Stromversorgung ist nicht dabei.
Das konzernkritische Ringen um möglichst viel dezentrale Erzeugung sollte daher nicht in einen Schützengraben führen, in dem grundsätzlich gegen Offshore-Anlagen, große Binnenwindparks, neue Stromtrassen oder einen regenerativen Stromerzeugungs- und Speicherverbund gekämpft wird. Die Haltung zu diesen »Großen Techniken« sollte sich vielmehr an dem orientieren, was auch Hänggi schreibt: Die zentralen Strukturen dürfen die dezentralen nicht dominieren oder ausbremsen.