1 | »Stabile« urbane Arbeitsplätze in der Produktion der Auto-, Flugzeug-, Stahl- und anderen Schwerindustrien wurden ins Ausland oder, in manchen Fällen, in ländliche Gebiete oder Gewerbegebiete in äußeren suburbanen Ringen verlegt. Diese De-Industrialisierung nach 1970 betraf weiße, aber auch viele schwarze Beschäftigte und war für die Innenstädte von Los Angeles (Davis 1990), Detroit sowie New York und Chicago (AbuLughod 1999) verheerend.
2 | Flexible und instabile Beschäftigung in den re-industrialisierten Niedriglohn-Sektoren (Sweatshops), in Dienstleistungs-Sektoren, im öffentlichen Dienst oder verschiedene Arten von Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen wurden die wichtigsten Formen des Broterwerbs für Angehörige der Arbeiterklasse.
3 | Zur gleichen Zeit nahm die Zuwanderung deutlich zu, sowohl aufgrund der Lockerung der Immigrations-Richtlinien in den 1960er und 1970er Jahren, als auch infolge der verschärften Auswirkungen von Wirtschaftskrisen auf die arbeitende Bevölkerung der Dritten Welt (wobei letztere vor allem durch massive staatliche Verschuldung im Zuge von Strukturanpassungsprogrammen und Kriegen verursacht wurden).
4 | Der Abbau gut bezahlter Stellen für die Arbeiterklasse und die Zunahme instabiler Niedriglohn-Jobs bedeutete, dass vor allem women of color1 mehr als je zuvor gezwungen waren, die doppelte Zeit zu arbeiten – in ihrer unbezahlten häuslichen Arbeit und in Lohnarbeit, typischerweise in Niedriglohn- Anstellungen (wobei sie in vielen Fällen bezahlte häusliche Arbeit für andere Familien leisten).
5 | Im Bereich Finanzen, Versicherungen und Immobilien wurden Arbeitsplätze geschaffen, die sich im städtischen Raum konzentrieren.
Durch diese Umwälzungen wurde die amerikanische Arbeiterklasse in ihrer Beziehung zu den Kapitalsektoren neu zusammengesetzt; sie besteht jetzt zu weit größeren Teilen aus Migranten, people of color und Frauen. Die Klasse ist instabiler geworden, flexibler und schlechter entlohnt. Sie ist steigendem Zeitdruck, prekären Arbeitsverhältnissen, verschiedenen Abstufungen von Staatsbürgerschaft oder Legalisierung, zunehmenden Perioden von Arbeitslosigkeit und beschränktem oder keinem Zugang zu Sozialleistungen ausgesetzt.
Eine zentrale Aufgabe ist nun, die Knotenpunkte in dieser neustrukturierten politischen Ökonomie zu identifizieren, an denen wir kämpferische Massenorganisationen aufbauen müssen, und die historischen Schlüsselakteure auszumachen, die Einheit schaffen und eine Bewegung für das Recht auf Stadt führen können. Eine Schlüsselfrage ist: Welche Gruppen oder Einzelpersonen können auf welcher Basis erfolgreich Widerstand organisieren und politische Alternativen entwickeln?
SOZIALE REPRODUKTION: GENDER, MARKT-INTEGRATION UND EIN NEUER HISTORISCHER AKTEUR
Eine Antwort der herrschenden Klasse auf die Akkumulationskrise der frühen 1970er Jahre war es, gesellschaftliche Reproduktionsarbeit (schulische Ausbildung, Kinderversorgung oder Haushaltsführung) verstärkt marktförmig zu organisieren. Traditionell nicht entlohnte Arbeit wurde zu Lohnarbeit. Die Bewegung von Frauen in die berufstätige Bevölkerung, vor allem in ihre unterbezahlten und überausgebeuteten Sektoren, vergrößert den Arbeitsmarkt und die zentrale Bedeutung der Kämpfe der Arbeiterinnen. Zudem schuf die neoliberale Umstrukturierung mit ihrer zunehmenden Polarisierung von Reichtum und Macht neue Nachfrage nach häuslichen und anderen Dienstleistungen2 Diese neu entstehende Schicht der Klasse ist am schlechtesten bezahlt, arbeitet am längsten und befindet sich beständig in der Krise. Einwanderungsgesetze fragmentieren den Arbeitsmarkt zusätzlich und schaffen einen grauen Markt für Illegalisierte, deren Rechte kaum durch Gesetze geschützt werden. An der Schnittstelle von »race«, Klasse und Gender ist ein wichtiger historischer Akteur entstanden – arbeitende women of color. Sie sind die wichtigste soziale Basis für die Neuen Organisationen der Arbeiterklasse (New Working Class Organizations, NWCOs), die in den letzten 20 Jahren in den USA entstanden sind. Organisationen der Arbeiterklasse, die in den Nachbarschaften, communities, verankert sind, haben zugenommen (vgl. Mayer in dieser Ausgabe; Fine 2006). Es gibt über 200 solcher Organisationen in den Vereinigten Staaten und über 40 von ihnen haben sich in dem landesweiten Bündnis für das Recht auf Stadt zusammengeschlossen (Fine 2006), unter ihnen Organisationen wie City Life/Vida Urbana in Boston, Community Voices Heard in New York, Miami Workers Center in Miami und Causa Justa/Just Cause in San Francisco/Oakland. Ich bin in meiner Rolle als Leiter der Vereinigten Mieter und Arbeiter [Tenants and Workers United – TWU] und der Neuen Mehrheit in Virginia [Virginia New Majority] Teil dieser Bewegung. Beide sind in Nord Virginia (den inneren und äußeren Vororten Washington DCs) aktiv. Zu Beginn der 1980er Jahre wurde Arlandria, ein Vorort (oder barrio) des nördlichen Alexandria, die neue Heimat für mehr als 8 000 Migranten, die vor Bürgerkrieg, Zwangsrekrutierung und ökonomischer Zerstörung aus El Salvador geflohen waren. Sie kamen zur afro-amerikanischen Bevölkerung, die ihre Wurzeln in der kolonialen Ökonomie der Plantagen Virginias hatte, und einer kleinen Gruppe weißer Arbeiter hinzu. Seit Mitte der 1980er Jahre veränderte sich die lokale Wirtschaft Arlandrias, ihre Bewohner wurden in Hotels, als Reinigungskräfte, Köche und Bauarbeiter angestellt. Sie bildeten den kämpferischen aktivistischen Kern der TWU. Die TWU haben verschiedene, kulturelle und nationale Zugehörigkeiten überschreitende Kämpfe geführt: Sie verhinderten eine geplante Massenräumung von 8 000 Bewohnern Arlandrias (1985–89); bauten eine 300 Wohneinheiten umfassende Wohnungs-Kooperative auf (1990–96); kämpften in Hotels für sprachliche Selbstbestimmung und Löhne, die die Lebenshaltung abdecken (1992–2000); sie erstritten einen Schuldenerlass von 1,5 Millionen Dollar (medizinische Kosten) und 400 000 Dollar jährliche Subvention für die häusliche medizinische Versorgung von Kindern (2000–2004). Natürlich beteiligten sich Männer of color und übernahmen wichtige Führungsaufgaben, aber es waren vor allem migrantische und manchmal afro-amerikanische Frauen, die die formalen Anführerinnen waren. In anderen städtischen Regionen im ganzen Land waren es ebenfalls women of color, die den Großteil der NWCOs bildeten und führten.
Die politischen Forderungen des Rechtauf-Stadt-Bündnisses betreffen vor allem die soziale Reproduktion, den »sozialen Lohn«. Sie artikulieren kollektive Bedürfnisse und Wünsche, wie arbeitende Menschen leben und aufwachsen wollen. Viele Kämpfe sind darauf gerichtet, die kollektive und gesellschaftliche Basis für soziale Reproduktion zu erhalten und zu erweitern. Dazu zählen Kämpfe um bezahlbaren und staatlichen Wohnraum, leistungsfähige Schulen, um Leistungen der öffentlichen Daseinsfürsorge wie die Subvention von Kinderbetreuung sowie Zugang zum öffentlichen Raum und Freizeitmöglichkeiten.
ORGANISIERUNG IN ZEITEN DES NEOLIBERALISMUS
Jahrzehntelang hat in den USA das Alinsky-Modell die Organisierungsansätze am Arbeitsplatz und in communities bestimmt. Alinsky befürwortet »nicht-ideologische«, pragmatische Organisierung.3 Er beeinflusste mit seinem Ansatz4 Generationen von Organizern, u.a. Cesar Chavez und die United Farm Workers, die Service Employees International Union und die Association of Communities Organized for Reform Now (ACORN). Gleichzeitig hat es die Arbeiterbewegung – mit wenigen Ausnahmen – versäumt, die dynamischsten Bereiche der Arbeiterklasse zu organisieren und sich erfolgreich an deren Veränderungen anzupassen. Über 87 Prozent der Arbeitnehmer in den USA sind nicht gewerkschaftlich organisiert. Die »fordistische« Praxis der Gewerkschaften hält vor, in der nur eine kleine Schicht von Arbeiter organisiert werden und direkt mit dem Arbeitsplatz zusammenhängende Interessen der Arbeiter mit dem Kapital ausgehandelt werden (business unionism). Diese Form begünstigte die Organisierung weißer Männer gegenüber working people of color und Frauen. Weite Teile der Arbeiterklasse waren von den Privilegien der gewerkschaftlich organisierten Sektoren ausgeschlossen. Folglich gründeten Millionen Menschen eigene Organisationen und schrieben ihre eigene Geschichte. Im Vakuum des Alten bildeten sich neue Organisationsformen heraus und nahmen ihre Kämpfe auf.
ORGANISATIONEN FÜR DIE NEUE KLASSE
Die neuen Organisationen der Arbeiterklasse sind gewachsen und haben eine neue städtische Bewegung gebildet: Causa Justa/Just Cause Oakland, Miami Workers Center, TWU, Domestic Workers United, POWER und viele andere. Die soziale Basis dieser Organisationen besteht aus Frauen unterdrückter Nationalitäten, Afro-Amerikanern und anderen Menschen, die durch die »Reform« des Wohlfahrtsstaates und globalisierungsbedingte Einwanderung in den Niedriglohn-Sektor gedrängt wurden.
Durch direkte Aktionen, bewusste politische Bildung und gegen-hegemoniale Forderungen, die den herrschenden »Common Sense« herausfordern, kämpfen diese Organisationen für bezahlbaren Wohnraum, ein Ende von Vertreibung durch massive Privatisierung von Wohnraum, für Zugang zu qualitativ hochwertigem Nahverkehr für diese neue Schicht von Arbeitern und ein Ende der massenweisen Kriminalisierung von Jugendlichen of color.
Sie gehen bewusst über die Grenzen des Alinsky-Modells hinaus, das eine Verschiebung von Kräfteverhältnissen im größeren Maßstab nicht zulässt. Sie versuchen, lokale Basisarbeit mit Arbeit gegen den US-Imperialismus zu verknüpfen, indem sie ihre Mitglieder aufrufen, sich an Kämpfen und Solidaritäts-Aktionen gegen Krieg, Besatzung und die finanzielle Kontrolle der Dritten Welt zu beteiligen. Dies geschieht zum einen, indem sie eine neue Schicht von führenden Akteuren aus der neuen Arbeiterklasse ausbilden, die sich der finanziellen, politischen und militärischen Rolle der USA in der Welt bewusst sind. Zum anderen beteiligen sie sich aktiv an nationalen und internationalen Sozialforen und anderen internationalen Austauschformen, die ein internationalistisches Verständnis der Organisierung aufbauen und festigen.
Unabhängig davon wurden dutzende Organisationen anderer politischer Ausrichtung gegründet, die meist pädagogischen Konzepten einer »Bildung von unten« (popular education) folgen. Anhänger pragmatischer Organisierung nach Alinsky fokussieren darauf, Führungsfertigkeiten und Herangehensweisen nur hinsichtlich der schmalen vorgesehenen Kampagne zu entwickeln. Den NWCOs geht es darum, in ihrer Bildung ideologische Entwicklung mit praktischem Grundwissen der Organisierung zu verbinden. Sie verwenden beachtliche Ressourcen (an Zeit, Geld und Mitarbeitern) für kontinuierliche Bildungs- und Fortbildungsprogramme für führende Akteure, wie beispielsweise die Durchführung und Auswertung von »Hausbesuchen« oder Tür-zu-Tür-Organizing, den effektiven Umgang mit den Medien und Übungen zur Kontextualisierung der eigenen Aussagen. Auf der Ebene der Planung und Durchführung der Kampagnen ist es zentral, dass unsere Mitglieder Führungsakteure sind und an allen Entscheidungsprozessen und Aktionen beteiligt werden. Sie sind von bezahlten Organizern, die auch Führungsfunktionen erfüllen, zu unterscheiden.
Die Führung der NWCOs ist vornehmlich akademisch gebildet, sie kommt aus der »Mittelschicht« und meist nicht aus der neuen Arbeiterklasse selbst. Die Unterschiede mit Blick auf formale Bildung und politisches Wissen einerseits und die persönlichen Erfahrungen von Mitgliedern und Leitenden sind oft groß. Kulturelle Unterschiede hinsichtlich religiöser oder spiritueller Überzeugungen und sozialer Praxen bergen weiteres Konfliktpotenzial. Finanziell sind die NWCOs zu einem Großteil ihres Budgets von philanthropischen Stiftungen abhängig. Damit geht meist eine Reihe von Auflagen einher. Mindestens bedarf sie der Gründung einer Non-Profit-Organisation als juristische Form, was rechtliche Beschränkungen mit sich bringt, vor allem hinsichtlich der Unterstützung von und Teilnahme an politischen Wahlen. Das Schreiben von Anträgen erfordert ein hohes Niveau an formaler Bildung, meist müssen diese auf Englisch eingereicht werden. Finanzierungen durch die Stiftungen haben auch eine stärkere institutionelle Basis für die Organisierung geschaffen – einen physischen Ort, Büroausstattung und professionelle OrganizerInnen. Die Mitglieder haben oft eine starke Mitsprache bei Kampagnen- und Programmplanung sowie -durchführung und stellen die Vorstände. Dennoch führt die Finanzierungssituation zu einer eher Organizer-zentrierten Struktur. Die Zweckbindung und der begrenzte Umfang der zur Verfügung stehenden Finanzierung sowie die relativ geringen Spenden oder FundraisingAktionen an der Basis setzen den Möglichkeiten zur Mobilisierung und Organisierung von Massen enge Grenzen.
Große Teile der Bewegung fokussieren auf »unsere Nachbarschaft« oder »unsere Nationalität«, was es erschwert, Bündnisse aufzubauen und zu leiten. In unserem Bereich konnten wir beachtliche Expertise in der Herausbildung von politisch bewussten und differenzierten Mitgliedern entwickeln, aber es fällt uns schwer, diesen soliden Kern in Massenorganisationen mit breiter Basis zu transformieren. Die NWCOs haben sich vor allem auf die Organisation von gerade diesem neuen Sektor der Arbeiterklasse konzentriert und haben wenig Erfahrung in größeren Konstellationen. Nach der Finanzkrise und den darauffolgenden Verminderungen von Stiftungsfinanzierungen befinden sich viele unserer Schwesterorganisationen in finanzieller Notlage.
EINE URBANE BEWEGUNG
Der ursprüngliche Aufruf zur Gründungskonferenz von »Recht auf Stadt« bestand in einer kurzen Beschreibung der politischen Situation. Jede der Organisationen, die an dem Treffen teilnahm, kämpfte – meist isoliert – gegen Aspekte von Gentrifizierung: vom Kampf für öffentlichen Wohnungsbau (Oakland) über den Kampf gegen Zwangsräumungen (Boston) bis zum Kampf für öffentlichen Raum (New York). Die meisten hatten bis zu diesem Zeitpunkt vor allem lokale Kampagnen geführt, in manchen Fällen auch auf bundesstaatlicher Ebene. Das Bündnis war der erste Schritt, um eine gemeinsame Vision für unsere Städte zu artikulieren, und ein Sprungbrett, um koordinierte landesweite Forderungen und Aktivitäten zu entwickeln.
Wir waren mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert. Unsere Praxis war ein Jahrzehnt lang darauf ausgerichtet, dass jede Organisation aus eigener Kraft funktioniert – d.h. auch auf sich bezogen. Eine Demonstration von 200 Menschen in einer Stadt für eine lokale Kampagne gegen eine lokale Regierung ist gut, aber acht oder zehn solcher Demonstrationen sind, selbst wenn sie exzellent koordiniert sind, nicht ausreichend, wenn sie Forderungen an die Bundesregierung stark machen sollen. Es kostete einige Zeit, einen Weg der Unterstützung und gleichzeitiger Kritik von Obama zu finden und für unsere radikalere Vision eintreten können. Es hat sich als schwierig herausgestellt, politischen Raum zu gewinnen und einen Platz am nationalen »politischen« Tisch mit anderen größeren, weniger radikalen Organisationen wie Gewerkschaften, etablierten Netzwerken und anderen Mittelsleuten einzunehmen. Unsere Analysen positionieren uns jenseits der Policy-Debatten der auf Washington orientierten sozialen Bewegungen. Beim Versuch, nationale Forderungen zu formulieren, fanden wir uns auf einmal blockiert und schwankend zwischen einer reformistischen, fragmentierten und letzten Endes kurzsichtigen Position und Forderungen, die scharf und klar sind – und derzeit keine Aussichten haben, Unterstützung im Parlament zu gewinnen.
Im Sommer 2010 haben wir bundesweit auf drei inhaltlichen Ebenen begonnen. Auf der ersten Ebene drängen wir auf eine »Reform« der Immigration, und zwar translokal. Das bedeutet, dass die Kämpfe lokal geführt werden, in der Hoffnung, dass strategische Kommunikation untereinander zu nationaler Wirkung führen kann. Die lokalen Aktionen gegen Polizeigewalt beim Durchsetzen der Migrationsbestimmungen werden verbunden mit dem bundesweiten Kampf gegen die rassistische und fremdenfeindliche Gesetzgebung in Arizona (Einwanderungsgesetz SB 1070). Auf einer anderen Ebene kämpfen wir für die Durchsetzung eines Bundesrechts, das bei Instandsetzungen von öffentlichem Wohnraum vorschreibt, dass die BewohnerInnen diese selbst ausführen können. Auf einer dritten Ebene machen wir Grundlagenarbeit – Forschung, Analyse und Führungsentwicklung – um unsere Vision von ökologischer Gerechtigkeit in Städten zu etablieren.
Es wird deutlich, dass ein Spannungsverhältnis besteht zwischen den radikalen theoretischen Wurzeln, den lokalen Praxen und der Herausbildung von Führung innerhalb des Recht-auf-Stadt-Bündnisses einerseits und den auf die Bundes- oder Landesebene gerichteten Forderungen andererseits, die als reformistisch bezeichnet werden könnten. Diese Spannungen zu bearbeiten, ist eine zentrale Herausforderung für das Bündnis: Wie wägen wir ab zwischen den unmittelbaren materiellen Forderungen und Bedürfnissen unserer Basis und einer Analyse und Forderung, die umfassend und tiefgreifend radikal ist? Wie schaffen wir es, einen starken Kern der am meisten Unterdrückten aufzubauen und zu erhalten und gleichzeitig Kontakt und Zusammenarbeit in Bündnissen mit anderen Gruppen wie z.B. der organisierten Arbeiterschaft oder Gläubigen zu suchen?
DER STAAT – EINE NEUE MÖGLICHKEIT?
Die meisten Organisationen hatten sich im Laufe der neoliberalen Jahrzehnte gegen eine Teilnahme an Wahlen entschieden. Einerseits war oder ist die eigene Basis vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen, gleichzeitig wollte man die bürgerlichen Parteien nicht unterstützen. Bei den Präsidentschaftswahl 2008 war vieles anders – viele der frühen Migranten und ihrer Kinder waren nun wahlberechtigt. In vielen Gebieten, besonders im Südwesten und Südosten der USA, war eine demographische Mehrheit der people of color entstanden.
Auf der Ebene der täglichen Aktivitä- ten haben die Neuen Organisationen der Arbeiterklasse vieles gemein. Unsere Arbeit kreist um die Organisierung arbeitender Frauen of color in städtischen Vierteln. Unsere Forderungen nach öffentlicher Daseinsfürsorge richten sich mehrheitlich an den Staat. Unsere Ansätze ähneln sich dahingehend, dass wir Kampagnen organisieren, in denen Mitglieder direkte Aktionen führen, sich mit Verbündeten zusammentun und strategische Kommunikation nutzen, um größere politische Blöcke zu bewegen. Jede Gruppe im Bündnis integriert politische und inhaltliche Schulung in ihre Organisierungsarbeit. Diese basiert auf der Überzeugung, dass die Organisierung von workers of color zentral ist, um auf eine Transformation der Gesellschaft auf mehreren Ebenen zu zielen. Wir stehen für eine Klassenanalyse, die mitdenkt, wie Rassismus und patriarchale Strukturen die US-amerikanische Gesellschaft geprägt haben und immer noch prägen.
Weniger einig sind wir uns in den Analysen des Staates. Diejenigen, die eine bundesstaatsweite Organisierung vorantreiben und an der Organisierung von Wahlkampagnen beteiligt sind (auch Virginia New Majority) sehen ihre Strategie in Verbindung mit Poulantzas: Sie wollen einen politischen Raum schaffen, der weder einen Parallelstaat darstellt, der den alten ersetzt (einen Bruch erzeugt), noch einfach neue Leute wählt, die den existierenden Staat füllen (neuer Wein in alten Schläuchen). Stattdessen zielt die Strategie auf die Entwicklung neuer Strukturen und Gesetze, die Risse in den race-, gender- und klassenbasierten Machtordnungen im Staat bewirken und ihn dadurch zunehmend verändern.
Beispiele hierfür wären Anstrengungen, das System zu demokratisieren – wie die Möglichkeit, sich am Tag der Wahl als Wähler registrieren zu lassen, die Briefwahl oder die Zulassung von ehemaligen Straffälligen zur Wahl, Bürgerhaushalte und partizipative Gebietsabgrenzung kommunaler Gerichtsbarkeit. Andere Beispiele wären Initiativen, die strukturelle Hürden beseitigen, die systematisch people of color benachteiligen wie etwa die landesweiten nicht-proportionalen Senatswahlen. Wieder andere zielen auf eine Demokratisierung der Ökonomie über Steuern auf Transaktionen von Finanzkapital oder über eine gemeinschaftliche Kontrolle der Banken und Kapitalflüsse.
NEUE ORGANISIERUNGSANSÄTZE
Viele NWCOs haben versucht, Einfluss auf die Wahlen zu nehmen. Virginia New Majority (VNM) konzentrierte die Arbeit darauf, zehntausende Menschen zu mobilisieren. In den Jahren 2008 und 2009 wollten wir 100 000 Haushalte abdecken. Das bedeutete, dass ein/e Stimmenwerber/in der VNM nur drei Minuten an jeder Tür hat, in der Stunde an über 15 Türen klopft. Obama hat in der republikanischen Hochburg Virginia gewonnen, das zeigt die beträchtliche Wirkung dieser Methode.
Die Wahlkampf-Mobilisierung ermöglicht einen übergreifenden Block zu bilden, der Wähler unterschiedlicher Nationalität, Schicht oder geographischer Lage zusammenbringt. Der Nachteil ist, dass eine breitere Formation von Menschen mit eher lockeren politischen und persönlichen Bindungen sich um die Wahl von Kandidaten gebildet hat – Kandidaten, deren Politik keineswegs so progressiv, radikal oder zumindest kohärent wie unsere eigene Position ist. Diese Diskrepanz zu verhandeln ist eine politische Herausforderung. Es müssen Wege gefunden werden, wie ein wackeliger Wahlblock in einen historischen Block transformiert werden kann, der erfolgreich den herrschenden common sense und herrschende race-, gender- oder klassenbasierte Machtordnungen in Frage stellt.
Dieser Prozess, insofern er von Neuen Organisationen der Arbeiterklasse geführt wird, kann ermöglichen:
1 | Gegenhegemoniale Forderungen oder zumindest ein gegenhegemoniales Framing zu entwickeln, die durch problemzentrierte oder kandidatenzentrierte Kampagnen transportiert werden. Kampagnen werden nach einfachen Erfolgskriterien beurteilt (Gewinn der Wahl). NWCOs müssen ihre Wahlerfolge nutzen, die Grundlagen des Neoliberalismus und des Empires in Frage zu stellen. Kandidat Innen beider Parteien treten unter der Frage an, »wie Virginia unternehmerfreundlicher werden kann«. VNM organisierte Kandidatenforen und unabhängige Wahlkampfarbeit und fragte, wie ein Beschäftigten-freundliches Virginia aussehen könnte.
2 | Konkrete materielle Ansprüche durchzusetzen, die das Leben unserer sozialen Basis verbessern, die Bewegung erfahrbar machen und stärken sowie eine Umverteilung von Ressourcen von der Kriegsökonomie zur öffentlichen Daseinsfürsorge erzwingen (die Forderung nach Erhöhung der Daseinsvorsorge, wenn auch sehr gering, ist ein Erkennungsmerkmal der meisten NWCOs).
3 | Unsere Praxis und Theorie voranzubringen durch die Beteiligung weiterer (Massen-) Kräfte an Wahlen, die für die meisten die Hauptform politischer Beteiligung sind. Das zwingt uns, unseren Basisaufbau fortzusetzen wie auch einen historischen Block/ein Ensemble verschiedener race- und klassenbasierter Kräfte zu bilden – als Voraussetzung für eine neue Ordnung, die nicht von Kapitalinteressen dominiert wird. Verschiedene organisierte Bereiche – Gewerkschaften, Lehrer und Schü- ler/ Studierende, NWCM-AktivistInnen und andere – können so aufeinander abgestimmt zusammenarbeiten.
4 | Begrenzte Formen der Steuerung und Macht zu praktizieren. NWCOs, Organisationen nach Alinsky und Gewerkschaften haben Erfahrungen im Erkämpfen von Zielen und dem Gewinnen einflussreicher politischer Unterstützer. NWCOs, die größtenteils aus einer Tradition von Wahlkampf-Abstinenz kommen, haben diese Erfahrung nicht.
Die politische Situation – Wahlniederlagen der reaktionärsten Präsidentschaftskandidaten (McCain/Palin), aber Sieg der Republikaner in den Midterms, eine tiefe und langwierige ökonomische Krise sowie eine aktive und motivierte reaktionäre Basis (Tea Party) – erfordert, unseren Einfluss auf andere Ebenen auszuweiten und um Macht (Ideen und Programme) auf nationaler Ebene zu kämpfen. Unsere Hoffnung ist, dass lokale, über ein gemeinsames »framing« miteinander verbundene Aktionen eine Wirkung auf nationaler oder internationaler Ebene entfalten können.
Aus dem Amerikanischen von Tashy Endres und Jana Seppelt
LITERATUR
Abu-Lughod, Janet L., 1999: New York, Chicago, Los Angeles: America’s Global Cities, Minneapolis
Alinsky, Saul D., 1971: Rules for Radicals, New York
Ders., 1969: Reveille for Radicals, New York (dt. Anleitung zum Mächtigsein, 2. Aufl. Göttingen 1999)
Davis, Mike, 1990: City of Quartz, New York (dt. City of Quartz, 4. Aufl. Berlin 2006)
Fine, Janice 2006: Workers Centers – Organizing Communities at the Edge of the Dream, Ithaca
Anmerkungen
1 Die Übersetzung hat die Formulierungen »people/ women/worker of color« beibehalten. »Farbige« oder »nicht-weiße« trifft im Deutschen nicht die Funktion der Selbstbezeichnung, in der ein Konzept von Bündnis und gemeinsamer Handlungsfähigkeit mitgemeint ist.
2 Vgl. www.faireconomy.org/files/GD_10_Chairs_and_ Charts.pdf
3 In Stunde der Radikalen [Rules for Radicals, 1971] und Anleitung zum Mächtigsein [Reveille for Radicals, 1946] entwickelte Alinsky einen Ansatz, der militante Taktiken der Kommunistischen Partei (und anderer) aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise mit einer pragmatischen Orientierung verband.
4 Die Industrial Areas Foundation ist der Dachverband von Bürgerorganisationen in den USA, die nach der Methode des Community Organizing arbeiten.