Wir befinden uns in einer beliebigen Innenstadt im Jahre 2030: Auf den ersten Blick scheint sich kaum etwas geändert zu haben. Es gibt nach wie vor Arme und Reiche. Fußgänger*innen, Limousinen, Eckensteher*innen. Eine der einschneidensten Neuerungen der letzten Jahre bleibt unsichtbar: Jeder Schritt auf dem, was früher einmal Bürgersteig hieß, kostet heute. Schritt für Schritt wird von der verpflichtend vorinstallierten Smartphone-App »Walk Maut« erfasst und die diesbezüglichen Informationen werden an ein Konsortium der Fußwegbetreiber weitergeleitet.

Der öffentliche Raum im emphatischen Wortsinn ist abgeschafft und Bewegungsprofile werden nicht nur allgemein erfasst, sondern unmittelbar in Wert gesetzt: Cent für Cent flaniere ich also durch die Stadt und steigere damit auch noch das Bruttosozialprodukt – falls ich zu denen gehöre, die sich das noch leisten können. Andere können ihren Fußweg immerhin von der Steuer absetzen – aber nur, wenn sie zu der Minderheit mit einem Arbeitseinkommen gehören und auch nur für den direkten Weg zwischen Schlafwabe und Arbeitsplatz. Wem sein Online-Konto keinen Schritt erlaubt, sitzt an der Ecke, nicht anders als immer schon. 

Alles ist unheimlich effizient geworden: Umwege auf eigene Kosten kann sich heute kaum noch wer leisten. Denn nicht nur die Schritt-Maut wird fällig. Wer überleben will, sollte auch gut versichert sein. Denn bekanntlich kann ich mich, je nachdem wie hoch meine Versicherungsprämie ist, freier oder weniger frei zwischen den selbstfahrenden Autos bewegen. Deren mobile und vernetzte Digitaltechnik erkennt mich auf der Straße (Gesichtserkennung und/oder Smartphone-Signatur), prüft in Echtzeit meinen Versicherungsgrad in einer Online-Datenbank und leitet daraus einen Faktor ab, der in die Entscheidung des Steuerungsalgorithmus einfließt: Bremsen, Ausweichen oder Umfahren. 

Umgekehrt zwingt mich mein eigenes selbstfahrendes Auto, für bestimmte Leute sogar extra anzuhalten und sie über die Straße zu lassen, selbst wenn ich schon spät dran bin oder einen wichtigen Termin habe, zum Beispiel als Arzt zu einer lebenswichtigen Operation im Krankenhaus muss. Robo-Cars in Verbindung mit der Versicherungswirtschaft haben uns den privatisierten und deterritorialisierten Zebrastreifen beschert. Manuelle Bedienung von Hupe und Gaspedal sind temporär deaktiviert (»zu meiner eigenen Sicherheit«). Schön für diejenigen, die sich das Zebra-Plus in ihrer Verkehrsversicherung leisten können. 

Wer sich darüber empört, den weisen die Robo-Cops in die Schranken, damit niemand den reibungslosen Verkehr der Besserbezahlenden in der schönen neuen (»smarten«) Verkehrswelt ins Stocken bringt. Wenn eine staatliche Stelle dich aus dem Verkehr ziehen will, schickt sie deinem Autohersteller einen National Security Letter und das Robo-Car wird per stiller SMS umstandslos zum Robo-Cop umprogrammiert und fährt dich direkt und – klar – mit deaktivierten Türöffnern in den Knast. »Drive-in-Kitchen« witzelt der Volksmund, genauso wie er von den »kill switches« munkelt, mit denen bestimmte Behörden und hackende Mafiazusammenhänge angeblich die Kontrolle über ein Fahrzeug aus der Ferne übernehmen können. 

Angesichts des Langzeitarbeitslosen, der unglücklicherweise totgefahren wird, während Sach- und Personenschaden an der gegenüber haltenden Anzugträger-Limousine gerade noch vermieden werden kann, hilft dann nur noch Beten, dass der Hersteller die ethischen Vorgaben brav umgesetzt hat und die unsichtbare Hand es schon richten wird. 

Schon in den 2010er Jahren, als die technopolitischen Weichen gestellt wurden, hätten wir ahnen können, in welche Richtung das smarte Fahren steuert. 2016 etwa schrieb Alexandra Millonig, Senior Scientist im Geschäftsfeld Dynamic Transportation Systems, über die mögliche Rationalisierung des Lkw-Transports:

»In San Francisco entwickelt ›Otto‹, ein Start-up ehemaliger Google-Mitarbeiter, bereits ein System, mit dem Fahrzeuge um 30.000 Dollar zum autonomen Gefährt aufgerüstet werden können – bei einem Trucker-Jahresgehalt von circa 40.000 Dollar eine Investition, die sich aus Sicht der Fuhrparkunternehmer*innen schnell amortisiert, zumal Roboter-Lkw auch keine Pausen brauchen und sicherer unterwegs sind. Für den Transportsektor gute Nachrichten, da Transport dadurch billiger wird; umgekehrt heißt das aber möglicherweise auch deutlich mehr Güterverkehr.« (Quelle: ak-umwelt.at)


»Sicherheit« wurde dann zum marketingmäßigen Einfalltor auch im Pkw-Bereich: Im selben Jahr warb Daimler öffentlich mit Sicherheit für Insassen, wenn nötig auf Kosten anderer Verkehrsteilnehmer*innen:

»Selbstfahrende Mercedes werden so programmiert, dass sie, wenn sie einen Unfall haben, den Fahrer retten, und nicht die Person oder Personen, die sie angefahren haben. Das ist die Konstruktionsentscheidung, die hinter den künftigen autonomen Autos der Stufen 4 und 5 von Mercedes Benz steht« (Quelle: fastcompany.com), so der Leiter der Abteilung für die Sicherheit fahrerloser Autos, Christoph von Hugo.


Statt sich um lästige Details wie die Ethik zu kümmern, wird Mercedes seine Autos einfach so programmieren, dass sie den Fahrer und die Insassen des Autos in jeder Situation retten. Spätestens 2020 hätten wir es wissen können.

(Dieser Text ist Teil der Debatte “Autonomes Fahren – Dystopie oder Transformationsprojekt”)