Eine Fülle neuer und gar nicht so neuer Verkehrsmittel tummelt sich auf unseren Straßen und Gehwegen. Von E-Rollern und E-Scootern über von Apps getriebenen Sammeltaxis bis hin zu autonomen Shuttles, die testweise fahrerlos unterwegs sind. Insbesondere Großstädte sind zum Experimentierfeld privater Firmen, Startups und global operierender Plattformen geworden, die neue Dienste und Geschäftsmodelle erproben.
Die Angebote punkten zunächst durch eine hohe Nutzerfreundlichkeit. Sie sind ohne Sprachkenntnisse bedienbar und erlauben das einfache Buchen, Auffinden, Entsperren, Abstellen und schließlich Bezahlen eines Vehikels – alles per App auf einem mobilen Endgerät. Jedoch: Wer über ein solches Gerät oder die notwendige Bonität nicht verfügt oder eingeschränkt mobil ist, bleibt außen vor.
Die Nutzung dieser Dienste generiert außerdem jede Menge Daten, die eine wertvolle Ware darstellen. Insbesondere wenn nennenswerte Nutzerzahlen erreicht werden, macht dies einen erheblichen Teil der Gewinnkalkulation der Betreiber aus. Um zu funktionieren, sind sie auf Daten angewiesen – ohne GPS würden die frei entleihbaren E-Scooter und Leihfahrräder niemals wiedergefunden werden. Zugleich optimieren sie den Service: Fahrräder werden dort postiert, wo sie vermutlich als nächstes genutzt werden.
Die vielen neuen Angebote kommen als grüne und moderne Alternative zum herkömmlichen Pkw daher und werben damit, den Autoverkehr in den Ballungsräumen zu reduzieren. Sie sind meist batteriebetrieben und auch bei Carsharing-Angeboten liegt der Anteil von Elektrofahrzeugen mit circa 20 Prozent deutlich höher als bei privaten Fahrzeugen oder im ÖPNV (Statista 2017). Die neuen Angebote machen den bestehenden öffentlichen Verkehrsangeboten Konkurrenz und lassen diese teils alt aussehen.
Defizite des öffentlichen Verkehrs
Hätte der motorisierte Individualverkehr (MIV) nicht so schamlos Vorfahrt – finanziell, städtebaulich, ideologisch und rechtlich (vgl. Haas/Wissen in diesem Heft) –, würde der ÖPNV besser funktionieren. Doch einige Schwächen sind auch hausgemacht: Der öffentliche Verkehr wird größtenteils mit Infrastrukturen und mit Linienplanungen abgewickelt, die aus dem letzten oder gar vorletzten Jahrhundert stammen. Die Busse kommen immer zur gleichen Zeit, halten an denselben Stellen, fahren leer oder voll, sommers wie winters. Der öffentliche Verkehr plant zu wenig nutzerorientiert und daher oft an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Daher stellt sich die Frage, ob die Forderung nach „mehr ÖPNV“ nicht zu kurz greift und beispielweise mehr fest getaktete Busse und Bahnen im ländlichen Raum per se sinnvoll sind?
Denn auch die Ökobilanz des ÖPNV könnte besser sein: Zwar haben Bahnen neben Fuß und Fahrrad mit die beste Umweltbilanz. Auch ein vollbesetzter Linienbus stößt relativ wenig Schadstoffe pro Personenkilometer aus. Doch leer fahrende Busse insbesondere in städtischen Randlagen und auf dem Land sind ein Problem. Ganz zu schweigen von den Taxis: Die meist hochmotorisierten Fahrzeuge sind oft mit nur einem Fahrgast besetzt oder kurven auf der Suche nach Kundschaft leer durch die Stadt. Sie sind zwar privat, aber nach den Regeln des Personenfördergesetzes organisiert und gewissermaßen der Puffer für die Lücken des öffentlichen Verkehrsangebots.
Der Boom der App-basierten Mobilitätsdienstleister verweist auf diese Defizite des ÖPNV und fordert ihn auf, aus seiner „Bereitstellungslogik“ auszubrechen. Mobilitätsangebote müssen sich an der realen Nutzung und der flexiblen Verzahnung der einzelnen Verkehrsmittel orientieren: Wie viele Fahrgäste warten an der nächsten Haltestelle, wo wollen die hin und welche speziellen Bedürfnisse haben sie? Was ist die schnellste und bequemste Route für sie? Alle diese Informationen könnten in Echtzeit vorliegen. Im liniengebundenen ÖPNV tun sie es nicht.
Doch wie gelingt dem ÖPNV das Update? Soll er konkurrieren oder kooperieren mit den digitalen Mobilitätsanbietern? Die Städte und Kommunen gehen mit den neuen Herausforderungen unterschiedlich um.
Berlin vs. Herne: E-Scooter, aber richtig
Am Nutzen von E-Scootern für die Mobilitätswende scheiden sich die Geister: Die einen erhoffen sich eine gerechtere Nutzung des öffentlichen Raums und geringere Emissionen im Verkehr. Die anderen sehen sie als zusätzliches Ärgernis im Verkehrschaos und beschweren sich, dass die Roller wild auf Gehwegen parken und mit überhöhter Geschwindigkeit fahren. Problematisch ist auch ihre kurze Lebensdauer und damit schlechte Ökobilanz. Um das Aufladen herum hat sich eine eigene prekäre Ökonomie herausgebildet: Juicer, die Flaschensammler der neuen Mobilität, laden nachts zu einem Spottpreis die Fahrzeuge auf.
Auf Berlins Straßen lässt sich beobachten, was passiert, wenn eine Vielzahl von privaten Mobilitätsdienstleistern in Wild-West-Manier die Straßen erobert. Derzeit gibt es in der Stadt circa 16.000 Leihroller, 14.000 Leihräder, 6.000 stationslose und 1.000 stationsgebundene Carsharing-Autos sowie 2.300 E-Roller (Der Tagesspiegel, 23.11.2019). Die Fahrzeuge der unterschiedlichen Anbieter häufen sich in den angesagten Bezirken. Offenbar gibt es keine wirksamen Regelungen, um dies zu verhindern, und keinen Verfolgungsdruck durch Ordnungsamt und Polizei. Es gehört zum guten Ton, auf die Scooter-Rowdys zu schimpfen, während der motorisierte Individualverkehr sich weiterhin uneingeschränkt breitmachen kann. Dass sich die E-Scooter aber auch gezielt in die Verkehrsplanung einbinden lassen, zeigt das Beispiel Herne.
Die kleine Großstadt im Ruhrgebiet mit 160.000 Einwohner*innen ist Vorreiterin bei der Zulassung von E-Scootern und dafür eine Partnerschaft mit dem Berliner Startup Circ eingegangen. Der Leiter der Stabsstelle Digitalisierung der Stadt Herne, Pierre Golz, ist im Telefoninterview stolz auf die Vorreiterrolle seiner Stadt: „Die Kommunen müssen das organisieren, klare Vorgaben machen, z.B. ein genaues Mapping vorgeben, wo die E-Scooter fahren und parken dürfen und wo nicht.“ Allerdings sei es wichtig, dass die Ordnungsbehörden Regeln auch durchzusetzen, um eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung zu erreichen: „Sanktionsdruck muss da sein, sonst funktioniert es nicht.“ Die Arbeitsbedingungen des Startups waren ebenfalls ein wichtiges Kriterium für die Kooperation. Es gibt tarifvertragliche Festanstellung und Bezahlung deutlich über Mindestlohn. Auch die berüchtigten Juicer haben es besser: Sie heißen bei Circ „feet supporter“ werden dort fest angestellt und sind auch für Reparaturen zuständig (E-Scooter-Blog 2019).
Darüber hinaus sieht Golz die Kommunen in der Pflicht, eine proaktive Datenpolitik zu betreiben: „Technischer Sachverstand ist wichtig. Die Bereitstellung von Schnittstellen sowie eine Open-Data-Strategie gehören dazu, ebenso wie kooperative Datennutzungsvereinbarungen, die die Datenschutzgrundverordnung berücksichtigen.“ Open Data bedeutet, dass die Städte ihre Daten sowohl der Allgemeinheit, aber auch privaten Partnern öffentlich zugänglich machen. Das Open-Data-Portal Herne richtet sich dabei nach Standards auf EU-Ebene (Smart-City-Standard). „Die Stadt stellt detailliertes Kartenmaterial zur Verfügung, die z.B. Zonen definiert, wo nicht geparkt werden darf. Über eine WMS- oder WMF-Schnittstelle[1] werden die Infos dem Anbieter zur Verfügung gestellt.“ Open Data ist aber keine Einbahnstraße, sondern heißt auch, dass Daten an die Stadt zurückfließen. Aus den Daten von Circ lassen sich anonymisiert die Routen, die Geschwindigkeit und die Distanzen ausrechnen. Die erste Auswertung in Herne ergab eine durchschnittliche Strecke von 1,2 Kilometern und eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 11 km/h – das ist wertvoll für die Verkehrsplanung und hilft, jenseits des Mythos der Roller-Rowdys ein Bild von der Nutzung dieses Verkehrsmittels zu erhalten.