Die Autoindustrie setzt beim autonomen Fahren nach wie vor auf den Fahrer, den sie mit immer mehr Technik immer leistungsfähiger machen will. Die Linke muss dagegen den fahrerlosen Kollektivtransport in den Blick nehmen. Sie muss sich die Diskurshoheit über das „autonome Fahren“ als Teil eines zukünftigen öffentlichen Verkehrs aneignen. Denn als Passagiere sollten wir uns nur mit den besten Fahrer*innen zufrieden geben – seien es Profis aus Fleisch und Blut oder ausgereifte Algorithmen.

Dieser Text ist Teil der Debatte “Autonomes Fahren – Dystopie oder Transformationsprojekt”

Passagiere auf dem Weg zum Mond

Wir alle kennen die Astronauten, die mit der Apollo 11-Mission zum Mond geflogen sind.  Auch ihre Fahrzeuge – die Saturn-Rakete, das Kommandomodul und die Mondlandefähre – sind uns vertraut. Bloß: Wer ist eigentlich gefahren, wer saß am Steuer? Nur zum einem ganz geringen Teil die Astronauten selbst. Sie lagen  die meiste Zeit untätig in ihren engen Liegen und harrten der Dinge, die da kommen würden. Sie waren die meiste Zeit Passagiere auf ihrer eigenen Mondfahrt. Tauchte ein Problem auf, wandten sie sich hilfesuchend an die Erde: „Houston, wir haben ein Problem!“ Doch auch in der Kommandozentrale in der texanischen Hauptstadt war niemand, der tatsächlich gesteuert hätte. Die gesamte Reise war programmiert. Gefahren ist also letztlich ein Algorithmus bzw. viele miteinander verknüpfte Computerprogramme.

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Margaret Hamilton mit Code-Ausdruck  

(Foto: Draper)

Die besten Programmierer*innen  ihrer Zeit hatten das Programm geschrieben, das die drei Astronauten sicher zum Mond und wieder zurückbrachte. Eine von ihnen war Margaret Hamilton, die Leiterin einer Abteilung für Softwareentwicklung bei der NASA, die insbesondere für das Mondlandemodul verantwortlich war. Die Pionierin ihrer Branche trug später maßgeblich dazu bei, dass aus der Softwareentwicklung eine anerkannte Ingenieurswissenschaft wurde. Aus ihrer Zeit bei der NASA erzählt sie folgende Anekdote:

Meine Tochter Lauren  kam oft nachts und am Wochenende zu mir, wir arbeiteten Tag und Nacht. Sie spielte gern Astronautin, weil sie mich beobachtete, wenn wir bestimmte Simulationen ablaufen ließen. Einmal schaffte sie es, den Simulator zum Absturz zu bringen, und ich dachte: “Oh mein Gott, wie ist das passiert?” Sie hatte mitten im Flug die Taste für das Startvorbereitungsprogramm ausgewählt, was ein Astronaut niemals tun sollte. Die Leute von der NASA oder vom MIT sagten: “Das wird nie passieren, weil die Astronauten so gut ausgebildet sind.” Nun, schon beim nächsten Flug ist genau das passiert. Danach sagten sie: “Ja, Margaret, du kannst Deine Code-Änderung einpflegen.” Also ist es für die nächste Mission dort reingekommen.[1]

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Hamilton und ihr Team

(Foto: Draper)

Zurück zur Apollo 11-Mission: Hamiltons Insistieren erwies sich als goldrichtig. Am 20. Juli 1969 kündigte das Computersystem beim Landeanflug auf den Mond durch einen „1202″-Alarm an, überlastet zu sein. Die Astronauten landeten dennoch auf dem Mond anstatt den Anflug aufgrund von Computerproblemen abzubrechen. Hamilton hatte eine Routine programmiert hatte, die im Falle eines solchen Alarms weniger wichtige Programmteile abschaltete, damit wichtige (wie das Anflug-Radar zum Rendezvous mit der Mondoberfläche) störungsfrei weiterlaufen konnten.

Warum nicht auch auf der Erde?

Was hat diese Anekdote mit der Debatte um das „autonomen Fahren“ zu tun? Andersherum gefragt: Warum soll das, was beim Mondflug funktioniert, nicht auch auf der Erde klappen? Zugegeben, es gibt weniger Verkehr auf dem Weg zum Mond. Aber gerade durch den vielen Verkehr auf der Erde und mit Blick auf die Unfallstatistiken würde auch hier  ein höheres Maß an Professionalität und Automatisierung im Verkehr mit Sicherheit nicht schaden. Die Geschichte von Margaret Hamilton eröffnet uns aber auch eine neue Perspektive auf das automatisierte Fahren, die ich die Passagierperspektive nennen möchte: Warum sollten wir nicht auch auf der Erde den Anspruch anmelden, vom weltbesten Programm chauffiert zu werden, das von den weltbesten Leuten programmiert worden ist

Schon heute ist es gar nicht so unüblich, dass wir in bestimmten Situationen unsere Souveränität abgeben und uns von einem programmierten System befördern lassen. Seid Ihr in letzter Zeit mal Aufzug gefahren? Dann habt Ihr Euch in ein vollautomatisiertes Verkehrsmittel begeben, dessen Fahrzeugführer längst durch einen Algorithmus ersetzt ist und dessen Verhalten vom Hersteller vorprogrammiert worden ist. Nachdem ihr dem System durch einen Knopfdruck euer Wunschziel mitgeteilt habt, geht ab da alles ganz automatisch: Ihr seid zum Passagier geworden!

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Aufzugsteuerung

Nicht nur Aufzüge, auch U-Bahnen, Fernzüge und Zubringer-Systeme auf Flughäfen sind heute oft vollautomatisch und fahrerlos unterwegs. In vielen Bereichen ist der Trend zur Automatisierung und damit zur Einschränkung menschlicher Entscheidungsspielräume zu beobachten. Nutzen wir den öffentlichen Verkehr, begeben wir uns wie selbstverständlich in die Obhut von Profis, niemand käme auf die Idee, den Ferienflieger oder die Regionalbahn selbst steuern zu wollen – wir überlassen es denjenigen, die das am besten können.

So ist das Selbst-Steuern von PKWs im öffentlichen Straßenraum– eben weil es so gefährlich ist – verboten. Ihr habt richtig gelesen: Die Fahrerlaubnis, auch Führerschein genannt, ist eigentlich eine Ausnahme von der Regel, eine Sondergenehmigung, die nur unter bestimmten Bedingungen und an einen reduzierten Personenkreis ausgestellt wird, ganz wie beim Waffenschein auch. Die Selbstverständlichkeit mit der allerdings jeder eine solche Lizenz zum Fahren (und ab und an auch zum Töten) erwerben kann ist nur ein weiterer Beleg für unsere autozentrierte Welt mit ihrer nicht hinterfragten Fahrerperspektive.

Die Dominanz der "Fahrerperspektive"

Die Vorstellung, uns von einem fahrerlosen Gefährt kutschieren zu lassen, kommt uns unheimlich vor? Diejenigen, denen diese Vorstellung nicht behagt, sind meist Männer. Vielleicht, weil sie sich selbst für die besten Fahrer halten, obwohl viele heute nicht einmal mehr die Führerscheinprüfung bestehen würden? Hier kommt ein automobiler Tunnelblick zum Tragen, den der Philosoph Thoma Vasek nennt  die „Fahrerperspektive” nennt – das ist der Blick durch die Frontscheibe, die Perspektive des automobilen Subjekts.”[2] Sie ist eine überwiegend männliche Perspektive, die Selbst-Fahrer beherrschen die gesamte Autowelt: Sie designen Fahrzeuge, Fahrwege und Infrastrukturen, sie sitzen in den Konzern- und Gewerkschaftszentralen, sie sitzen am Steuer. Wer muss hinten sitzen? Die Kinder! Wer muss mit dem Beifahrersitz Vorlieb nehmen? Die Frau.

Das Gefahrenwerden – wie wir es im öffentlichen Verkehr erleben – erscheint aus der Fahrerperspektive als zweitklassig. Der ÖPNV ist strukturell der Verkehr für diejenigen, die sich „richtigen Verkehr“, sprich selbstgesteuerte, im Privatbesitz des Lenkenden befindliche Straßenfahrzeuge nicht leisten können  – Frauen, Schüler*innen, Blinde, Alte, Geflüchtete etc.. „Straßen werden von Männern gebaut und Frauen sterben auf ihnen.“[3] Erscheint euch das Statement der Wissenschaftlerin Sarah George zu dramatisch? Der Verkehrsgerichtstag brachte jüngst Zahlen, die die These untermauern: So sind 70 Prozent aller Todesopfer von Abbiegeunfällen Frauen.[4]

„Mobilitäts-Ungerechtigkeit“ nennt das die Verkehrsforscherin Mimi Sheller. Eine Ungerechtigkeit, die schon lange bevor sich jemand an das Steuer setzt, implementiert und zementiert wird.[5] Die Soziolog*innen Boltanski und Chiapello sprachen angesichts der strukturellen Benachteiligung gar von einer „Ausbeutung der Immobilen durch die Mobilen“.[6] Die Aktivistin Janna Alljets fasst zusammen: „Während die toxische und hegemoniale Männlichkeit auf dem Prinzip des Stärkeren und damit auf Exklusivität basiert, muss es um Inklusivität und die Rücksichtnahme auf Schwächere und gesellschaftlich Benachteiligte gehen.“[7]

Autonomes Fahren aus der Fahrerperspektive

Paradoxerweise wird selbst die Debatte um das autonome Fahren hierzulande von der Fahrerperspektive dominiert. Beim autonomen Fahren dominiert das Bild des Privat-PKW, der es dem männlichen Fahrer und Besitzer erlaubt, auf der Autobahn Excel-Tabellen zu studieren, und der temporär das Rasen der Technik überlässt, ohne dadurch in seiner Eigenschaft als Herrscher über Auto und Straße in Frage gestellt zu werden. So zumindest stellt sich die Autoindustrie das autonome Fahren vor. Sie versucht auf diese Weise ihre klassische Klientel anzusprechen und ihr zu versichern, dass sie – trotz aller Technik – nach wie vor Herr im Haus bleibt. Die Autokonzerne stecken immer mehr Technik in die Fahrzeuge, um dem Fahrer, an dessen privilegierter Position als Steuermann nicht gerüttelt wird, zu unterstützen. Die Verkehrswissenschaftler Andreas Knie und Weert Canzler diagnostizieren einen notorischen „Geräteblick“: “Die Zukunft wird aus dem klassischen Fahrzeug heraus gedacht (…) im Kern soll der Fahrer doch der Souverän in seinem Gefährt bleiben.”[8]

Gegenmodell Passagierperspektive

Dieser Fahrerperspektive stellt der öffentliche Verkehr seit jeher die Passagierperspektive gegenüber – hier sind all gleichermaßen Passagiere, Fahrgäste, Kund*innen und User. Die Steuerung überlassen wir Profis, die dafür ausgebildet sind, die nicht mit dem Handy telefonieren, nicht ihr Ego ausleben müssen, für die das Steuern eine verantwortungsvolle Arbeit ist und nicht eine „Lebensform“ (Thomas Vasek), die oft auf Kosten anderer ausgelebt wird.

Fahrerlosen Passagiertransport auf der Straße versuchen eher Digitalkonzerne zu ermöglichen. Allen voran Google mit seiner Tochter Waymo, aber auch  chinesische Startups versuchen sich zunehmend am sogenannten Robo-Taxi. Ihnen schwebt tatsächlich ein Verkehrsmittel vor, das den Fahrer abschafft und ihn durch einen Algorithmus ersetzt: „Wir wollen keine besseren Autos bauen, wir wollen den besten Fahrer bauen“ sagt Waymo-CEO John Krafcik im Hinblick auf die gemeinsamen Anstrengungen seiner Firma, automatisierten, fahrerlosen Passagiertransport zu verwirklichen.  Die Verwirklichung ist eher nicht in 20 oder 30 Jahren zu erwarten, sondern deutlich schneller. Waymo unternimmt seit Oktober 2018 einen Großversuch auf öffentlichen Straßen, seit Oktober 2020 auch standardmäßig ohne Personal an Bord. Der Service kann über eine App gebucht werden und liegt preislich unter der einer Taxifahrt. Trotz Millionen gefahrenen Kilometer kam es bislang nicht zu Unfällen mit Verletzten oder gar Toten – anders als bei Testläufen des Konkurrenten Uber oder im Zusammenhang mit Teslas Autopilot.[9]

Viele befürchten, ein Robo-Taxi-Modell würde dem privaten Autoverkehr buchstäblich noch einen draufsetzen. Es wird befürchtet,  dass die automatisierten Gefährte dem Kollektivtransport Konkurrenz machen, dass sie letztlich zu mehr Autoverkehr führen und zu einer sozialen Spaltung beitragen in diejenigen die sich den PKW-Verkehr – selbststeuernd oder fahrerlos – leisten können, und dem Rest, der auf die ausgedünnten öffentlichen Angeboten verwiesen wäre.

Diese Befürchtungen sind sicher berechtigt und sollten uns erst recht Anlass geben, über automatisierten Personentransport neu nachzudenken. Denn: Das was Waymo macht, erscheint viel eher als (ein Teil der) Zukunft des ÖPNV als dass es ihm Konkurrenz machen müsste.  Auch der Taxiservice mit Fahrer*innen, wie wir ihn kennen, ist schließlich Teil des ÖPNV. Warum nicht dafür sorgen, dass auch der fahrerlose Passagiertransport, autonome Shuttles und eine breite Palette weiterer fahrerloser Transportmittel Teil davon wird?

Doch auch die Robo-Taxi-Flotten, die die Digitalkonzerne planen sind Teil des Passagierverkehrs. Freilich, es steht außer Frage, dass Exzesse  aus ökologischen und tairflichen Gründen vermieden werden müssen, das gilt für jedes Verkehrssystem, das ganz oder teilweise kapitalistischen Marktbedingungen ausgesetzt ist. Derzeit gibt es auch beim Taxi keinen Sozialtarif, keine Verpflichtung, emissionsarme Fahrzeuge einzusetzen, und die Branche ist für schlechte Arbeitsbedingungen bekannt.  Doch auch das Taxi ist dem Bus viel näher als dem Privat-PKW: Es ist Teil eines kollektiven Systems, gedacht als dessen Ergänzung in speziellen Situationen.

Die gebetsmühlenartig wiederholte linke Forderung nach einem „Ausbau des ÖPNV“, nach mehr Bussen und Bahnen, kann keine attraktive öffentliche Alternative zum Privatauto entwickeln. Die Pandemie hat die Krise dieses Modells noch verschärft. Der ÖPNV muss es zu seiner Aufgabe machen, auch Menschen, die auf einen Rollator angewiesen sind, von Tür zu Tür zu transportieren, und das zu einem bezahlbaren Preis. Taxis, wie wir sie kennen, können das nicht leisten – es gibt ja nicht einmal einen Sozialtarif beim Taxi.

Ich plädiere daher dafür, dass wir uns durch die Diskursmacht der Konzerne und ihre Leitbilder für den Verkehr der Zukunft nicht die eigene Vorstellungskraft nehmen lassen. Wir sollten in der Ablehnung der “Autonomes Fahren”-Vision der Automobil- und Digitalkonzerne nicht gleich jede Perspektive auf teil-, hoch- oder vollautomatisierte Verkehrslösungen aufgeben.

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Shenza-Shuttle in Helsinki

Es lebe die Passagierperspektive!

Jenseits von Privat-PKW und Robo-Taxis gilt es eine dritte Variante stark zu machen: den öffentlichen Passagiertransport – und zwar unabhängig davon, ob dort eine, mehrere oder viele Personen transportiert werden. Damit der öffentliche Verkehr in Zukunft eine wirkliche Alternative zum Auto werden kann, muss er auch für dünn besiedelte Regionen, für Randzeiten und für spezielle Transportbedürfnisse attraktive Angebote bereit halten. Das kann an vielen Orten unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit nur fahrerlos realisiert werden.

Wir sollten daher die Vorstellung von „autonomem Fahren“ als einer weiteren automobilen Hochrüstung ersetzen durch die Vorstellung eines öffentlichen fahrerlosen Passagiertransports.  Wie bei der “Elektromobilität”  gilt es beim “autonomen Fahren” umzudenken. Weg von der reinen PKW-Antriebswende und weg vom immer weiter aufgerüsteten PKW, hin zu intelligentem, ökologischem Kollektivtransport. Dieser kann nur elektrisch betrieben sein und – wo sinnvoll – eben auch automatisiert.

Der eingangs erwähnte Aufzug – ist er nicht eine Paradebeispiel für ein Verkehrsmittel, das  barrierefrei ist, außerordentlich sicher, durchweg kostenlos, darüber hinaus ökologisch? Kurz: ein Beispiel autonomen Fahrens, das wir nur begrüßen können?

[1] wehackthemoon.com/people/margaret-hamilton-her-daughters-simulation

[2] Thomas Vasek. Land der Lenker. Die Deutschen und ihr Auto. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2019.

[3] Sarah George, Die Automobilindustrie und ihre Männer, 20.11.2020, www.verkehrswendebuero.de/die-automobilindustrie-und-ihre-maenner/

[4] www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/unfaelle-mit-radfahrern-frauen-ueber-65-besonders-gefaehrdet/19287874.html

[5] Mimi Sheller,. Mobility justice : the politics of movement in an age of extremes. London Brooklyn, NY: Verso, 2018.

[6] Boltanski Luc et Chiapello Ève, « Inégaux face à la mobilité », Projet, 2002/3 n° 271, p. 97-105.

[7]  Janna Aljets Raum nehmen. Warum wir eine feministische Verkehrsplanung brauchen. Mai 2020

[8] Weert Canzler Andreas Knie, Digitale Mobilitätsrevolution. Oekom, München S. 31.

[9] Siehe auch: Timo Daum, Missing Link: Tschüss Auto, hallo Robo-Taxi! Verkehr à la Silicon Valley, www.heise.de/newsticker/meldung/Missing-Link-Tschuess-Auto-hallo-Robo-Taxi-Verkehr-a-la-Silicon-Valley-4554167.html

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