Die Geschichte ist offen, aber eines steht fest: Auch die kommenden Jahre werden politisch im Zeichen der ›Flüchtlingskrise‹ stehen. Vor dem Hintergrund der Kriege in Syrien, Irak, Libyen, Afghanistan, Ukraine, Mali und Jemen ist kaum anzunehmen, dass die Zahl der nach Europa flüchtenden Menschen abnehmen wird. Und auch wenn die politische Klasse mit dem Asylpaketen I und II nun auch die Maghreb-Staaten zu »sicheren Herkunftsstaaten« erklärt und den Familiennachzug stark eingeschränkt hat, steht die politische Klasse vor der Aufgabe, weit über eine Million Menschen, die das Recht auf Asyl genießen, eine lebbare Perspektive zu bieten. Scheitert die Regierung, wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die antineoliberale Linke stärken, sondern die extreme Rechte.
Die ›Flüchtlingsfrage‹ ist damit nicht nur für die Regierung, sondern auch für die Linke eine gigantische Herausforderung. Deren strategische Ausgangslage ist allerdings äußerst ungünstig: Für die Linke ist entscheidend, dass die Integration der Flüchtlinge gelingt. Ob sie gelingt, hängt jedoch – wenigstens kurz- bis mittelfristig – kaum von ihr selbst ab. Zwar ist die Linke nicht völlig handlungsunfähig und zur Passivität verdammt. Im Gegenteil, sie kann und muss sich bemühen, die ›Flüchtlingsfrage‹ als Klassenfrage auszubuchstabieren und das Gros der erwerbstätigen Flüchtlinge mit ihren durchaus vorhandenen (Klassen-)Kampferfahrungen in die eigenen (Klassen-)Organisationen (Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, auch linke Parteien) zu integrieren, um so die Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt zu reduzieren. Die Linke weiß, dass sie nur gewinnen kann, wenn es ihr gelingt, eine Verbindung herzustellen zwischen ihrer »Mobilisierung für die Flüchtlinge« und »dem Kampf für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen derer, denen ein ›Herzlich Willkommen‹ so schwer fällt« (Goes 2015). Und doch hängt die Integration maßgeblich von politökonomischen Grundsatzentscheidungen Deutschlands und der Welt ab, auf die die Linke vor dem Hintergrund der bestehenden Kräfteverhältnisse absehbar so gut wie keinen Einfluss hat. Damit liegt ihr Schicksal aber in den Händen eines – national wie europäisch durch innere Spaltungslinien geschwächten – Machtblocks, dessen politische Integrationsfähigkeit im Zuge eines (Euro-)Kriseninterregnum sukzessive nachlässt und am rechten Rand als Neonationalismus ausfranst. Die Linke befindet sich damit in einer brandgefährlichen Situation, in der die Verhältnisse so im Argen sind, dass sie eigentlich die Machtfrage stellen muss, dies aber nicht realistisch tun kann.
Die Integration muss gelingen, kann sie es auch?
Es gibt zwar keine Alternative dazu, den Geflüchteten hier tragfähige Perspektiven zu eröffnen, nur wie realistisch ist dies angesichts der politökonomischen Gesamtstrategie Deutschlands und im Euroraum? Diese Großaufgabe wird durch ungünstige wirtschaftliche und (außen-)politische Rahmenbedingungen erschwert. Da wären zunächst die wirtschaftlichen Faktoren: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Mischung aus globaler und Eurokrise mit ihren dauerhaft schwachen Wachstumsimpulsen, dem immer noch starren Festhalten der Bundesregierung am Primat der ›schwarzen Null‹ und der mittelfristigen Perspektive einer kapitalgetriebenen Rationalisierung (Industrie 4.0) zu einem Anstieg von Massenarbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und zu einer entsprechenden Verschärfung der Arbeitsmarktkonkurrenz führen wird. Dies würde die Verhandlungsposition der Gewerkschaften schwächen und die Tarifbindung weiter erodieren, wenn etwa Flüchtlinge durch die Arbeitsmarktlage gezwungen würden, untertariflich zu arbeiten. Im Niedriglohnsektor ist eine erbarmungslose Lohnkonkurrenz absehbar, bei der die Gefahr einer Ethnisierung groß ist (vgl. Birke in diesem Heft).
Politisch kommt hinzu, dass es der extremen Rechten gelingen kann, die ›Flüchtlingskrise‹ zusätzlich zu der – von ihr national gerahmten – sozialen Frage auch noch mit der Frage der inneren Sicherheit zu verknüpfen. Hierzu dienen ihr nicht nur unvermeidliche Meldungen über kriminelle Handlungen eines kleinen Teils der Flüchtlinge, sondern auch der dschihadistische Terrorismus. Diese Gefahr ist deshalb groß, weil die deutsche Beteiligung an der ›westlichen‹ Kriegspolitik gegen ISIS über kurz oder lang Terroranschläge zur Folge haben wird. Mit seinem in Syrien praktisch gewordenen außenpolitischen Tabubruch, ab sofort Waffen auch in Kriegs- und Krisengebiete zu liefern, ist der deutsche Staat zum Kriegsakteur geworden, was wiederum Deutschland in den Augen der ISIS-Sympathisanten zum Kriegsgebiet macht. Entsprechend wurden zumindest die letzten Anschläge von Paris, San Bernardino und London begründet. Die gezielten Angriffe auf Zivilisten sind dabei Teil einer barbarischen instrumentellen Vernunft in einem asymmetrischen Krieg gegen einen militärisch überlegenen und im Drohnenkrieg nicht minder barbarisch vorgehenden Gegner: Schock und Angst sollen – nach dem Vorbild der Madrider Terroranschläge von 2005 – zu einem Rückzug der ›Besatzungstruppen‹ führen und/oder zu einer Polarisierung zwischen nicht muslimischen und muslimischen Deutschen. Letztere würden in einem solchen Fall systematisch diskriminiert und wären damit eher offen für Sympathien mit ISIS. Kurzum: Krise und Austeritätspolitik, Integrationsprobleme und kriminelle Handlungen seitens eines kleinen Teils der Flüchtlinge, deutsche Kriegspolitik, ISIS-Vergeltungsterror sowie das linke Handlungsfähigkeitsdilemma bilden eine brisante Mischung.
Die Linke nach Paris und Köln
Eine Vorstellung dessen, was uns blühen mag, hat die Bild-Zeitung die »Sex-Mob-Attacken« der Kölner Silvesternacht getauft. Linke und liberale AntifaschistInnen haben in der aufgeheizten Stimmung verschieden reagiert: Sie wiesen darauf hin, dass sich ausgerechnet konservative Politiker plötzlich zu Verteidigern von Frauenrechten aufschwangen. Sie kritisierten, dass die Raubdelikte und Sexualstraftaten von rechts für eine Antiflüchtlingsagenda instrumentalisiert wurden. Und sie betonten, dass Deutschland keine sexismusfreie Gesellschaft ist, sondern Frauen sexuelle Gewalt vor allem in den Familien droht und zugleich sexuelle Belästigung vom Arbeitsplatz bis zu Massenveranstaltungen (Oktoberfest, Kölner Karneval) unerträgliche Normalität ist. Diese Reaktionen waren zweifellos richtig und wichtig. Aber welche über diese Ideologiekritik hinausgehenden politisch-strategischen Möglichkeiten bieten sich der Linken in dieser diffizilen Situation? Und warum verfängt eigentlich die rechte Stimmungsmache bei so vielen?
Die Massenstraftaten von Köln rühren unmittelbar am Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung, vor allem an dem von älteren Menschen, die weit überdurchschnittlich unter den AfD-UnterstützerInnen vertreten sind. Der Mindset hinter einem Großteil der Empörung ließe sich vielleicht so zusammenfassen: »Ich befolge alle Gesetze, die von mir gewählte Politiker in meinem Namen erlassen haben, und ich erwarte, dass auch alle anderen sich an sie halten. Ich erwarte, dass das Leben verlässlich und zivil ist; dass ich mich ohne Angst davor, überfallen und ausgeraubt oder sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, in der Öffentlichkeit bewegen kann, weil die Polizei über die Einhaltung dieser Gesetze wacht und dafür Sorge trägt, dass sich alle an sie halten und diejenigen, die das nicht tun, verfolgt und nach geltendem Recht verurteilt werden.« Diese Erwartungshaltung beruht auf einem Gesellschaftsvertrag, dem zufolge der Staat als Gewaltmonopolist Steuern erhebt, mit denen er Polizei und Justiz finanziert, die wiederum die Zivilordnung garantieren. Der Skandal ist demnach auch das Versagen der Kölner Polizei, diesen Gesellschaftsvertrag zu erfüllen, indem offenbar trotz massiver Präsenz Straftaten nicht verhindert wurden, also quasi ein ›rechtsfreier‹ Raum entstehen konnte. Kurz: Es geht um die Frage der inneren Sicherheit.
Innere Sicherheit – eine unbequeme Frage
Die radikale Linke tut sich mit dieser bekanntlich schwer, ist sie doch – nicht nur auf ihrem anarchistischen Flügel – antistaatlich. Auch die kommunistische Idee vertritt die Vorstellung vom Absterben des Staates. Entsprechend verteidigt die Linke zwar die »linke Hand des Staates« (Pierre Bourdieu), also den Sozialstaat, gegen den Neoliberalismus. Der Ruf nach einer Stärkung seiner ›rechten Hand‹ gehört jedoch nicht gerade zum traditionellen linken Forderungskatalog, sei es, weil man selbst schon einmal unter Polizeiknüppeln und Tränengas für eine gerechte Sache demonstriert hat oder weil man schlicht weiß, dass Prävention effizienter ist und totale Sicherheit eine kostspielige Illusion.
Als linker Intellektueller ist man zugleich geneigt einzuwenden, dass es doch ziemlich irrational ist, wenn nach den Pariser Anschlägen jeder dritte Deutsche verstärkt auf »verdächtige Gegenstände« achtet und jeder vierte nun große Menschenansammlungen meiden will. Schließlich liegt die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland bei einem Terroranschlag ums Leben zu kommen, einer Studie der Universität Stuttgart zufolge bei unter 0,002 Prozent (n-tv, 10.4.2015). Das Risiko, Opfer von Gewaltkriminalität, einschließlich sexuellen Missbrauchs, zu werden, ist nicht in der Öffentlichkeit am größten, sondern im persönlichen Umfeld. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Der sicherste Ort ist ironischer Weise die Menschenmenge.
Weil die Linke glaubt, beim Sicherheitsdiskurs nur verlieren zu können, ist ihre Haltung häufig ein leidgeprobter Diskursvoluntarismus. Nach dem Motto: »Hoffentlich geht der autoritäre Sicherheitsdiskurs bald vorbei und es gelingt, die Aufmerksamkeit wieder auf die soziale Frage zu richten.« Damit scheint die Linke aber nicht nur durch äußere Ereignisse, die angesichts der prekären Situation der Geflüchteten zunehmen werden, zur Passivität verdammt. Sie vergisst auch, dass die innere Sicherheit selbst eine soziale Frage ist. Die Sicherheitsfrage ist nicht per se rechts. Zunächst einmal erhebt die Linke den Anspruch, ein besseres Leben für alle zu ermöglichen. Dies gilt vor allem für die Schwächsten, die auf schützende (Staats-)Strukturen angewiesen sind. Die Befriedung des öffentlichen Lebens, die Abwesenheit von (strafloser) Gewalt ist hierfür eine Grundvoraussetzung. Wenn Angst vor Kriminalität die Lebensqualität von größeren Bevölkerungsteilen so einschränkt, dass sie bestimmte Orte meiden, ist dies für die Linke eine elementare Frage. Auch in einem zukünftigen Sozialismus wird es ein Recht auf Zivilordnung und rechtsstaatliche Verfahren geben. Die Kritik der Linken am kapitalistischen Staat richtet sich schließlich nicht gegen die Rechtsstaatlichkeit, sondern verweist darauf, dass diese in einem System struktureller Ausbeutung und Unterdrückung nicht ausreicht. Die bürgerliche Rechtsstaatsidee ist dennoch eine historische Errungenschaft, hinter die eine sozialistische Demokratie nicht zurückfallen darf. Mehr noch: Die Grundannahme in der sozialistischen Arbeiterbewegung war stets, dass der Kapitalismus die Existenz einer zivilisierten Ordnung infrage stellt, weil seine systemimmanente soziale Ungleichheit systemische Kriminalität produziert. Ihre Vision war hiergegen, dass mit der Abschaffung des Kapitalismus auch der Traum einer durch und durch zivil(isiert)en Gesellschaft realisiert würde.
Was die Linke nicht tun darf, ist, aus Angst, der Sicherheitsdiskurs könnte Wasser auf Mühlen der Rechten sein, ihn deren autoritären Antworten zu überlassen. Das Bedürfnis nach Sicherheit ernst zu nehmen, bedeutet schließlich nicht, im Einklang mit der Rechten nach mehr Überwachung, Gefängnissen, Abschiebungen und härteren Strafen zu rufen.
Innere Sicherheit und Ideologiekritik
Aber wie könnte ein linker Ansatz aussehen? Tatsächlich fängt er mit Ideologiekritik an. Er weist zunächst auf die Widersprüche in der autoritären Vorstellungswelt hin. Er verdeutlicht, dass die Rechte bestenfalls kurzfristig wirksame oder nur Scheinlösungen für komplexe gesellschaftliche Probleme fordert und schlimmstenfalls gar keine Lösungen sucht, sondern schlicht Ressentiments bedienen und Pogromstimmungen gegen Minderheiten schaffen will. Deutlich werden muss auch, dass die Rechte gesellschaftliche Widersprüche externalisiert, wenn sie so tut, als kämen (sexuelle) Gewaltkriminalität oder der Terrorismus von außen und als könnten sie entsprechend mit Maßnahmen der Ausgrenzung bekämpft werden.
Fakt ist, die Probleme entspringen in Wahrheit ›einheimischen‹ Konstellationen: Erstens zeigt etwa die Analyse der terroristischen Täterbiografien, dass die Mehrzahl im ›westlichen‹ Kapitalismus sozialisiert wurde und sich hier radikalisierte. Sie zeigt auch, dass der (dschihadistische) Salafismus als Wurzel des Terrorismus mittlerweile eine zentrale Gegenkultur und Oppositonsideologie geworden ist – auch für entfremdete oder ökonomisch abgehängte, christlich sozialisierte Deutsche (Sven Lau, Pierre Vogel, Marcel Krass, Dennis Rathkamp, Denis Cuspert etc.). Was also die nationalistische Rechte in klassischem völkischen Denken als ein kulturell-ethnisches Problem fassen will, ist in Wirklichkeit ein soziales Problem, ein Ergebnis der deutschen Klassengesellschaft und des Ausschlusses von politischer, kultureller und anderen Formen gesellschaftlicher Teilhabe. Schon hier zeigt sich: Wer innere Sicherheit will, muss die Klassen- und Demokratiefrage lösen. Dies geht aber nur über einen Bruch mit der Austeritätspolitik, mit einem radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel und mit gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung. Die rechte Politik der Bestrafung und Ausgrenzung hat dabei nicht nur keine oder bloß Scheinlösungen parat, sondern verschärft die Probleme geradezu. Zum einen sind westliche Gefängnisse heute zentrale Rekrutierungsanstalten des Salafismus. Zum anderen produziert die rechte Verfolgungspolitik zwangsläufig weitere Ungerechtigkeiten und Polarisierung. Diese begünstigt aber genau das, was die Rechte zu kritisieren behauptet: die Entfremdung und Abwendung von Teilen der muslimischen Deutschen von der hiesigen Gesellschaft. ISIS hat dies längst verstanden und rekrutiert seine Anhänger etwa mit den rassistischen Wahlkampfreden von Donald Trump. Die nationalistische Rechte und die Islamfundamentalisten sind füreinander gleichsam Konjunkturprogramme, weil sie sich gegenseitig hochschaukeln. Das macht sie beide so brandgefährlich.
Rechten Versuchen, hiesige Widersprüche zu externalisieren, muss zweitens entgegengehalten werden, dass die Ursachen von islamfundamentalistischem Terrorismus und globalen Flüchtlingsbewegungen auch in der westlich-imperialen Außenpolitik liegen. So hat zum einen die (oft schuldenimperialistisch erzwungene) kapitalistische Durchdringung und einseitige (Agrar-)Marktöffnung im Rahmen der Freihandelsabkommen der letzten 35 Jahre im globalen Süden zu einer hundertmillionenfachen Massenproletarisierung von Kleinbauern geführt. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ist die globale Klasse der Lohnabhängigen seit 1980 fast auf das Doppelte gewachsen. Diese Durchdringung und ihre im Zuge der Krise noch einmal verschärften sozialen Folgen (Massenarbeitslosigkeit, Informalisierung der Arbeit, Drogen- und Menschenhandel etc.) sind wiederum der wesentliche Grund für den Staatszerfall und die »neuen Kriege«, das heißt die oft ethnisierten Verteilungskriege in der Schattenglobalisierung, die weltweit Menschen ausbluten und massenhaft Flüchtlinge produzieren. Zum großen Drama dieser Fluchtbewegungen gehört dabei, dass die ›westlichen‹ Staaten während ihres eigenen kapitalistischen Take-off im 18. und 19. Jahrhundert einen Bürgerkrieg verhindern konnten, weil sie ihre Überschussbevölkerungen als kolonialistische Siedler exportieren konnten, während heute diese Möglichkeit den kapitalistisch durchdrungenen ›Entwicklungsländern‹ durch die Grenzregime der EU, USA und Japans verwehrt ist. Zum anderen hat die ›westliche‹ Außenpolitik im Kalten Krieg die säkular-sozialistischen Bewegungen im arabischen Raum bekämpft und damit den Islamismus zu der wichtigsten Oppositionsbewegung gegen den globalen Kapitalismus und westlichen Imperialismus und die lokalen Unterdrückerregime gemacht, auf die sich der Imperialismus häufig stützt. Dabei ist sie in jüngerer Zeit mit ihrer destabilisierenden Kriegspolitik in der Region katastrophal gescheitert.
Ideologiekritik für die Linke heißt also zu betonen: Wer nicht von der Globalisierung des Kapitalismus und westlicher Imperialpolitik als Kriegs- und Fluchtursache Nr. 1 sprechen will, der soll auch von der ›Flüchtlingskrise‹, von Integrationspolitik und vom islamistischen Terrorismus schweigen. Mehr noch: Wer die Gefahr terroristischer Anschläge minimieren will, der muss vor allem die neue Offensivausrichtung in der deutschen Außenpolitik beenden und für einen friedenspolitischen Kurswechsel sorgen. Es ist gerade vor diesem Hintergrund richtig, dass die Linke die EU-Abschottungspolitik als zutiefst inhuman brandmarkt. Da der humanitäre Diskurs angesichts der Zunahme wohlfahrtschauvinistischer Stimmungen und gesellschaftlicher Ängste vor Kriminalität und Terrorismus bei einem signifikanten Bevölkerungsteil jedoch nicht mehr verfängt, ist es genauso wichtig, ein Bewusstsein für die Ressourcen zu schaffen, die das Grenzregime mittlerweile verschlingt. Nach Berechnung von MigrantFiles wurden zwischen 2000 und 2014 wenigstens 12,9 Milliarden Euro für Grenzbefestigungsanlagen, ihre Überwachung und Abschiebungen ausgegeben. Diese Mittel werden für eine Politik veräußert, die auf der Illusion beruht, dass Abschottung überhaupt möglich ist.
(Innere) Sicherheit als soziale Frage
Linke Politik kann sich jedoch nicht in Ideologiekritik erschöpfen. Sie muss konkrete Alternativen anbieten. Wie aber soll sie sich aus dem eingangs beschriebenen Dilemma befreien? Wie will sie verhindern, dass Austeritätspolitik, Flüchtlingsbewegung und islamfundamentalistischer Terrorismus zum Konjunkturprogramm der Rechten werden? Wie erlangt sie im Kontext der zunehmenden Bedeutung der Sicherheitsfrage Handlungsfähigkeit? Der linke Diskurs zur inneren Sicherheit behandelt allgemein die Frage, wie Kriminalität im Kapitalismus entsteht und nachhaltig bekämpft werden kann. Diesbezüglich kann die Linke zunächst selbstbewusst konstatieren: Gelingt es dem (Austeritäts-)Staat im bürgerlichen Kapitalismus nicht mehr, die zivile Ordnung aufrechtzuerhalten und entstehen ›rechtsfreie‹ Räume, dann besagt das nichts anderes, als dass der Kapitalismus immer weniger in der Lage ist, elementare Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Dagegen ist ein Leben ohne Angst vor sexueller Gewalt, Raub oder Mord Teil der sozialistischen Utopie.
Nun ist die Polizei zwar einerseits zweifellos die ›rechte Hand des Staates‹. Ihre Funktion besteht darin, die Eigentumsordnung zu schützen. Sie ist aber nicht nur das: Denn in dem Maße, in dem die Kombination aus wachsender Vermögensungleichheit und Kürzungspolitik im öffentlichen Sektor zu einer Privatisierung von Sicherheit (gated communities, private Sicherheitsdienste etc.) führt, sind es vor allem die unteren Klassen, die sich der kriminellen Fäulnis des Kapitalismus ausgeliefert sehen. In diesem Sinne schützt nicht nur das Gesetz die Schwachen vor den Starken, sondern ist die Polizei das Mittel zu seiner Durchsetzung. Wenn etwa Kürzungspolitik in ökonomisch peripherisierten Regionen zur Folge hat, dass die Aufklärungsquote bei Einbruchs- und Diebstahlsdelikten angesichts der Überforderung des Sicherheitsapparats nocht weiter zurückgeht, weil diese aus Personalmangel teils gar nicht mehr verfolgt werden können, ist das ein Thema für die Linke.
Als Linke die Sicherheitsfrage zu stellen, impliziert dabei freilich nicht den autoritär-populistischen Ruf nach härteren Gefängnisstrafen. Und reduziert sich auch nicht darauf, mehr Polizei- und Justizbeamte zu fordern. Die Frage der (inneren) Sicherheit von links zu stellen, hieße, sie in ein radikales realpolitisches Transformationsprojekt einzubetten. Nur im Rahmen einer Rekonstruktion der Commons durch einen allgemeinen Ausbau der öffentlichen Investitionen kann sie sinnvoll bearbeitet werden. Denn es fehlen schließlich nicht nur PolizistInnen, sondern auch LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, KindergärtnerInnen, KrankenpflegerInnen und so weiter. Damit ließe sich das Sicherheitsthema im Rahmen einer breiteren fortschrittlichen Reformagenda von links besetzen und würde nicht seiner populistischen Ausschlachtung durch rechtsautoritäre Politiker überlassen.
Entscheidend wäre dabei, den Sicherheitsdiskurs aus seiner Engführung als ›Innere Sicherheit‹ zu lösen. Er sollte verknüpft werden mit einer Kritik an der herrschenden Gesamtunsicherheit und Fragen der allgemeinen Absicherung, der sozialen Sicherheit. Im Rahmen einer umfassenden Reformagenda ergäbe sich so eine Verknüpfung zwischen Sicherheit im öffentlichen Raum und (ab)-gesichertem Leben – jenseits von prekären Beschäftigungsverhältnissen, Unplanbarkeit von Familie und Beruf oder prekärer Alterssicherung. Denn die Unsicherheit ist kapitalistisch und Sicherheit ein linkes Thema.