Ein beliebter Vorwurf, den Linke gegen den Kapitalismus erheben, sind die vielen Sorten Zahnpasta. Auch wenn niemand genau weiß, wie viele es sind, gelten die 38, 52 oder »gefühlt 300« verschiedenen Sorten Zahnpasta als ein Inbegriff der kapitalistischen Anarchie und Verschleuderung gesellschaftlicher Ressourcen. Während aus de Gaulles Diktum, »Wie will man ein Land regieren, in dem es 246 verschiedene Sorten Käse gibt?«, ein gewisser Respekt vor dem lässigen Eigensinn seiner Landsleute spricht, steht der Zahnpasta-Antikapitalismus in der langen Tradition eines »Das-ist-doch-alles-nicht-nötig«-Sozialismus.
Ernst Lubitsch hat ihm in »Ninotschka« ein schönes Denkmal gesetzt, als Greta Garbo als Sonderbeauftragte Genossin Ninotschka ihr Hotelzimmer in Paris betritt und fragt: »Und wie viele Personen wohnen noch in diesem Raum?« Auch Ursula LeGuin macht sich in »Planet der Habenichtse« darüber lustig, als Bedap die orange Decke seines Freundes Shev kritisiert:
Die Farbe ist jedenfalls eindeutig exkrementell […] Als Funktionsanalytiker muss ich darauf hinweisen, dass für Orange keine Notwendigkeit besteht. Orange erfüllt im Sozialorganismus weder auf dem zellularen noch auf dem organischen Level eine lebenswichtige Funktion […] Färb die Decke schmutziggrün, Bruder!«
Aus Sicht des grünen Sozialismus gibt es gegen die Vielzahl der Zahnpasta-Sorten keine Einwände. Mehr Zahnpasta-Marken verbrauchen nicht (wesentlich) mehr Ressourcen. Im Zeitalter der flexiblen Automation sind Produktvarianten und kleinere Produktserien möglich, ohne neue Maschinen oder Fabriken zu bauen. Auch zu Zeiten der handwerklichen Produktion war das so. Dramatisch ist das Wegwerfen von Produkten. Der Beweis, dass weniger Zahnpasta weggeworfen wird, wenn es nur eine Sorte davon gibt, steht jedoch aus. Insofern sind 246 Sorten Käse genauso okay wie 246 Sorten Zahnpasta.
Auch das Verfrachten von Massengütern über die Weltmeere ist ökologisch verhältnismäßig billig. Sowohl im Preis als auch im Umweltverbrauch ist ein Transport im Containerschiff über 3000 Seemeilen erheblich billiger als die anschließenden 100 km im Lastwagen. Was nicht geht, ist just-in-time, Flugzeugtransporte, Kühlschiffe. Globalisierung an sich ist nicht »unökologisch«. Es kommt darauf an, welche.
Grüner Sozialismus nimmt die ökologische Herausforderung an: 9 Milliarden Menschen, die gut leben wollen, in einer Welt ohne fossile Rohstoffe und ohne Klimakatastrophe. Das geht nicht ohne entwickelte Technik und Wissenschaft. Es geht auch nicht ohne Überwindung des Profitprinzips und der privaten Eigentumsrechte an der großen Produktion. Ein Sozialismus, der nicht grün ist, und eine Zukunft, die nicht sozialistisch ist, können nur die Privilegien einiger Weniger erhalten. Damit alle gut leben können, muss anders produziert, anders gelebt, anders organisiert werden.
Kommunen im Jahr 2030
Es ist ein hilfreicher Einstieg in die Fragen einer post-fossilen Gesellschaft, sich vorzustellen: Welchen Problemen, die durch das Ende des fossilen Zeitalters verursacht sind, werden Kommunen schon in etwa 20 Jahren gegenüberstehen? Öl wird dann bereits knapp und teuer sein. Wer sich den Liter Benzin bei zehn Euro, den Liter Heizöl bei fünf Euro und das Barrel Rohöl bei 500 Dollar vorstellt, liegt sicher nicht zu niedrig. Der politische Druck auf eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes wird, weil es fünf vor zwölf ist, massiv gestiegen sein. Die Transportkosten, die im Zeitalter der Globalisierung zunächst extrem gefallen sind, werden in 20 Jahren so hoch sein, dass sie wieder einen relevanten Teil der Endpreise darstellen. Auch andere Rohstoffe wie Metalle und Industriestahl werden sehr viel teurer sein als heute, da ihre Förderung energieintensiv ist. Energie kann man nicht mehr einfach aus einem Loch im Boden holen, wo die Ergebnisse jahrmillionenlanger biologischer Produktion lagern. Energie muss »angebaut« werden, entweder durch ausgefeilte Anlagen zur alternativen Energiegewinnung oder durch Felder zur ergänzenden Produktion von Biokraftstoffen. Beides kostet Fläche. Der Druck auf die Flächennutzung zur Lebensmittelproduktion steigt: Durch die Konkurrenz mit der Energieproduktion in der Fläche und durch die Tatsache, dass eine energieärmere Landwirtschaft nicht mehr alles überall anbauen kann.
Was nicht knapp sein wird, ist Wissen und Information. Die Trends zur Digitalisierung von Wissen und zum Ausbau der digitalen globalen Kommunikationsmedien sind unumkehrbar. Neue Wissens- und Netzwerkarchitekturen werden entstanden sein, so dass die Menge des global und lokal verfügbaren Wissens exponentiell ansteigt.
Wer in 20 Jahren nicht das Zivilisationsniveau der Mehrheit seiner Gemeindebewohner radikal absenken will, sollte dann schon reagiert haben. Die Maximen werden sein:
Reparieren statt Wegwerfen. Da Energie und Rohstoffe im Verhältnis zur Ware Arbeitskraft deutlich teurer werden, gehört dem Reparieren (und dem »Anpassen«) die Zukunft. Dieser Trend wird gestützt durch die lokale, ja individuelle Verfügbarkeit von globalem Wissen, bedeutet aber eine deutliche Vergrößerung dieses volks- und lokalwirtschaftlichen Sektors und eine Wiederaufwertung handwerklicher Tätigkeiten.
Integrieren statt Fahren. Die starke räumliche Trennung von Wohnen, Leben und Arbeiten gehört der Vergangenheit an. Nähe und die Mischung der Funktionen im Stadtteil sind das überlegene Modell. Dafür müssen Kommunen rechtzeitig umgebaut und »umgenutzt« werden.
Wissen teilen statt Güter transportieren. An die Stelle der globalen Massengütertransporte wird ein Aufschwung der lokalen Produktion treten, da die Transportpreise ihr wieder einen Konkurrenzvorteil verschaffen. Hinzutreten wird eine individualisierte Produktion: Einfache Bauteile werden überhaupt nicht mehr transportiert, sondern an Ort und Stelle produziert. Fabbering, die flexible Bauteilproduktion in informationsgesteuerten »Allround-Maschinen«, ist bereits Realität, in 20 Jahren wird sie Standard sein. Statt Gütern werden Steuerungsanweisungen bewegt – im Netz.
Produzieren statt Konsumieren. Die gegenwärtigen Versorgungsketten sind ökologisch zu teuer, werden sich als anfällig erweisen und produzieren zu viel Abfall. Gemeinschaftliche Produktion von Gütern und Dienstleistungen – auf einem durch Wissens- und Informationsaustausch gehobenen und professionalisierten Niveau »urbaner Subsistenz« – wird wieder einen wichtigen Teil der alltäglichen Versorgung darstellen: Von der Nahrungsmittelproduktion in der Stadt über die kleinräumige Energieproduktion bis hin zur kulturellen Produktion. Die Konsumgesellschaft, die alle Güter überall jederzeit zur Verfügung stellt, hat ausgedient. An ihre Stelle tritt die »Karaoke-Produktion«: das informationsgestützte Selbermachen.
Die Politik des Grünen Sozialismus
Wie stellt man sich auf den rechtzeitigen Umstieg ein? Die Vorstellung, was auf Kommunen in 20 Jahren zukommt, gibt schon eine Reihe von Hinweisen darauf, was auch im größeren Maßstab erforderlich ist. Es ist unmöglich, die heutige Produktions- und Lebensweise 1:1 auf erneuerbare Energien und 80 Prozent weniger CO2-Ausstoß umzustellen. Ein hohes, ja besseres Lebens- und Wohlstandsniveau lässt sich aber auch auf anderem Wege erreichen.
Verbrauch vermeiden. Die großen Energiefresser und CO2-Schleudern sind im Prinzip bekannt: Motorisierter Individualverkehr, Heizung, spezielle Industrien wie die Zementherstellung, Wegwerfgüter und nicht genutzte Nahrungsmittelproduktion. Diese Bereiche kann man nicht »auf erneuerbar umstellen«. Man muss sie abstellen und substituieren. Freier ÖPNV, Passivhäuser auch im Großsiedlungs-Bereich, dezentrale Energieproduktion in enger Kopplung an den Verbrauchsort sind Ziele, auf die sich systematische Förderung und deutliche Regulierung richten müssen.
Wegwerfen unterbinden. Ein Drittel der weltweiten Nahrungsmittelproduktion wird weggeworfen. In Industriestaaten sind 40 Prozent der weggeworfenen Lebensmittel vollständig genießbar. Statt »Tafeln« für die Armen sollte gesetzlich geregelt sein, dass Lebensmittel mit Erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatums frei abgegeben werden müssen. Lebensmittelvernichtung muss teuer werden, so dass sich regionale Produktion lohnt, die angepasste Mengen liefern kann.
Qualifikation fördern. Die Spaltung der Arbeit in hochqualifizierte Tätigkeiten und »Dummy-Jobs« ist für eine post-fossile Zukunft Gift. Handwerk, Anpassen von Technologien und Produkten, intelligentes (energiearmes) Recycling, das Finden von kreativen, angepassten Lösungen etc. erfordern eine breite, technische wie intellektuelle Qualifikation. Wer heute an Bildung spart, schaut morgen in die Röhre.
Freiräume organisieren. An die Seite der Versorgung mit standardisierten Gütern tritt die optimierte Verwendung vorhandener Ressourcen für vielfältige Ziele. Eine ökologisch überlebensfähige Gesellschaft braucht eine Fülle von gesellschaftlichen und produktiven Freiräumen, in denen solche kreativen, optimierten Lösungen entwickelt, ausprobiert, ausgetauscht, verbessert, schließlich zum Vorbild gemacht werden. Die zentralisierte Großproduktion ist nicht nur zu ressourcenschwer, sie ist als Struktur auch zu langsam.
Vorrang fürs Öffentliche schaffen. Bis der Markt die ökologischen Wahrheiten abbildet, sind wir längst tot. Der Übergang in eine ökologisch angepasste Wohlstandsproduktion muss öffentlich gesteuert, geplant, reguliert, initiiert, vorangetrieben werden. Dies muss sich institutionell abbilden in öffentlichem Eigentum, ökologischen Entwicklungsinstitutionen, aber auch in einer breiten Ausdifferenzierung kommunaler, gemeinschaftlich-genossenschaftlicher und privat-kollektiver Eigentums- und Organisationsformen.
Gleichheit schaffen. Armut wie Reichtum sind ökologisch teuer. Die »nivellierte Wohlstandsgesellschaft«, im Kapitalismus oft herbeizitiert und nie verwirklicht, ist das soziale Leitbild des grünen Sozialismus.
Informations-Eigentum bekämpfen. Das Motto »Eigentum ist Diebstahl« aktualisiert sich in der ökologischen Übergangsgesellschaft zum Slogan »Informations-Eigentum ist ein Verbrechen.« Die transnationalen Konzerne haben die entscheidende Rolle von Wissen und Information als zentraler Ressource längst erkannt und arbeiten an der umfassenden Privatisierung des Informations-Eigentums. Eine ökologische Übergangsgesellschaft lässt sich jedoch nicht mit privatisiertem Wissen erreichen – so wie man keine Industriegesellschaft etablieren kann mit privaten Straßennetzen und keine Globalisierung mit einem Flickenteppich von Zoll- und Rechtsschranken.
Kollektiven Reichtum fördern. Nicht mehr alle werden alles einzeln haben. Aber mehrere gemeinsam schon. Werkzeug, Fahrzeuge, bestimmte Vorräte, der Stadtbienenstock, Zeitungen, bestimmte Arbeitsräume, Geräte: Alles Dinge, die man sich nicht mit einer Million anderer Leute teilen möchte, aber durchaus mit fünf, zehn, fünfzig, je nachdem. Kollektiver Reichtum, der Zwischenraum zwischen Individualbesitz und abstraktem Gemeineigentum werden eine herausragende Rolle spielen, wenn in einer ökologischen Übergangsgesellschaft mit begrenztem Ressourcenpool ein hohes Wohlstandsniveau erreicht werden soll.
Einstiegsprojekte für einen Grünen Sozialismus
In den strategischen Debatten der PDS spielte die Idee der »Einstiegsprojekte« eine wichtige Rolle: Projekte, die im Kapitalismus zeigen, was eine sozialistische Art ist, die Probleme zu lösen. Diese Idee ist für den grünen Sozialismus von großer Aktualität. Allerdings muss man neu fragen, welche Projekte das sein können. Einstiegsprojekte kann man nicht abstrakt ableiten. Man muss sie finden, entdecken, ausprobieren, ihre Möglichkeit erkunden. Grundsätzlich entstehen sie an der Schnittstelle, wo eine ökologische Übergangsgesellschaft eine andere Rationalität braucht, als sie von kapitalistischen Organisationsprinzipien angeboten wird, und sich gleichzeitig bestimmte soziale Praktiken und Bedürfnisse bereits entwickelt haben, mit anderen Organisationsprinzipien zu experimentieren. Beispiele dafür sind:
Volks-Autos. Solange es noch Autos gibt, sollte es einen staatlichen Autokonzern geben, der wieder reparierbare Autos baut. Reparieren statt Module austauschen und wegwerfen: Das wäre ein Paradigmenwechsel, der Materialverbrauch verringert, Unterhaltskosten senkt, Arbeit wieder in die Kommune zurückholt und wohlstandsverbreiternd ist. Das Prinzip kann auch auf PCs, Handys und Toaster ausgedehnt werden und auf alles, was das Auto überflüssig macht (vgl. LuXemburg 3/2010). Die Produktion sollte auch freie Produktionsweisen für die technische Entwicklung nutzen (das, was das free car-Projekt alleine nicht geschafft hat).
Kollontai-Höfe. Das Leitbild der »sozialen Stadt« beruhte darauf, das Durchschlagen der Einkommens- und Vermögensunterschiede auf die Lebenssituation zu begrenzen. Die grün-sozialistische Stadt ist darauf angelegt, das Durchschlagen ökologischer Grenzen in Form von sozialer Verarmung, Isolierung und Entmachtung zu verhindern. Was im »roten Wien« der Karl-Marx-Hof war (eine für damaligen Standard moderne Wohnanlage für die Industriearbeiter), kann für den grünen Sozialismus der Kollontai-Hof sein: Energetisch moderne Wohnanlagen, die auch Raum bieten für kommunal geförderte und unterstützte Formen von Selbstorganisation, Integration und lokaler Dienstleistung. Wohnen, Alltagsbewältigung, Betreuung, kulturelle Angebote wären darin verbunden. Die erforderlichen Arbeitsplätze stünden zuvorderst den Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung. Den Einzelnen bliebe, auch je nach Lebenssituation und -phase, die freie Entscheidung, wo sie die Grenze zwischen individuellem Wohlstand, öffentlicher Dienstleistung und kollektivem Reichtum ziehen: Selber kochen oder öfter in der Volksküche essen, alleine fernsehen oder mit anderen, KiTa oder öfter mal gegenseitig aufpassen, Hausbibliothek, gemeinsamer Fahrradpool oder doch lieber für sich geregelt.
Communal Commons. Produkte, deren Entwicklung öffentlich unterstützt wird, und die im Gegenzug hinterher von den Bewohnerinnen einer Gemeinde frei genutzt werden. Software, natürlich, aber auch ein verbesserter Kinderwagen, Gabelstapler, die Vermeidung von Abfall oder die Renovierung eines Gebäudes. Die Freigabe nach außen erfolgt im Austausch mit anderen Gemeinden, die ebenfalls Communal Commons produzieren – ein Netzwerk freier Produktion, das dennoch kommerzielles Trittbrettfahren vermeidet (Vgl. LuXemburg 4/2010).
Weniger Ressourceneinsatz, gemeinschaftliche Organisation, öffentliche Steuerung statt privater Profitlogik, Flankierung von Selbstorganisation, erweiterte individuelle Freiräume: Entlang dieser Prinzipien werden sich die Einstiegsprojekte eines grünen Sozialismus entwickeln.
Grüne Klassenkämpfe
Das alles ist keine Spielerei, die Alternative macht es deutlich: Die Aneignung der knapper werdenden Ressourcen durch wenige, bei massivem Wohlstands-, ja Zivilisationsverlust für viele. Die Hartz-Gesellschaft, der Versuch der quasi-kolonialen Abstufung von Lohn- und Lebensniveau in der Eurozone, die sozial extrem ungleiche Finanzierung der Energiewende über den Strompreis zeigen die Richtung auf, in die sich ein grüner Kapitalismus bewegt. Die Studien zu den globalen Folgen des Klimawandels skizzieren dasselbe für die Weltgesellschaft: Eine neue Spaltung, in der Reichtum und Macht sich im Zugriff auf verknappte Ressourcen und im Schutz vor ökologischen Katastrophen abbilden. Grüne gated communities für die Wohlhabenden, inmitten ökologisch verbrannter Erde für die anderen. Klassenkämpfe werden grüner werden. Sie werden nicht nur von Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen handeln, sondern vermehrt auch von Ressourcenverteilung, Lebensbedingungen, sozialem Zugang, ungleichen Lebenschancen, vom Schutz vor ökologisch bedingten Krankheiten und Katastrophen und von kollektiver Aneignung. Nicht nur Ausbeutung, auch Entfremdung wird zu einer unmittelbaren Bedrohung. Klassenkämpfe bedürfen nicht der Theorie. Sie finden statt. Aber die Entwicklung einer Perspektive sozialer und ökologischer Kämpfe, die ihre Verbindung ermöglicht und uns einer positiven ökologischen Übergangsgesellschaft näher bringt, wird ohne grünen Sozialismus nicht zu machen sein.