»Wir müssen dahin, wo die Menschen sind. Wir dürfen nicht warten, bis sie irgendwann zu uns kommen. Wir müssen den Alltag zum Thema machen. Wenn wir nicht mit den Menschen reden, machen es andere.«

Angesichts der gegenwärtigen Polarisierung des politischen Feldes fordern viele linke Strateg*innen, lebensweltliche Anliegen ins Zentrum sozialer Kämpfe zu stellen. Anhand konkreter Auseinandersetzungen in den Städten und Gemeinden lassen sich gesamtgesellschaftliche Konflikte zuspitzen. Hier sollte eine »dringend notwenige soziale und politische Offensive von links« (Wiegand in diesem Heft) ansetzen. Was aber heißt es genau, die »sozialräumliche Prekarisierung« (Horst Kahrs) zum Ausgangspunkt eines linken Transformationsprojekts zu machen?

Zu Besuch im ›Brennpunkt‹

Im Stuttgarter Stadtteil Hallschlag sieht es nicht aus wie in einem ›Brennpunktviertel‹: Vierstöckige Mehrfamilienhäuser mit meist kleinen Wohnungen, viele in den späten 1920er Jahren gebaut, stehen zwischen Grünflächen, die Straßen sind wenig befahren, die Menschen gehen zum Einkaufen oder mit dem Hund spazieren. Der Fußballer Fredi Bobic ist hier aufgewachsen. Und doch ist der Hallschlag ein sozial benachteiligtes Stadtquartier. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente das Viertel zunächst zur Unterbringung der sogenannten Heimatvertriebenen. Ab den 1970er Jahren zogen Menschen zu, die aufgrund von Anwerbeabkommen nach Westdeutschland gekommen waren. Viele von ihnen wohnen bis heute dort, ihre Kinder sind oft in der Nachbarschaft geblieben. Auch einkommensarme Menschen ohne Migrationshintergrund leben hier. Viele beziehen Arbeitslosengeld II, der Anteil der Alleinerziehenden liegt über dem Stuttgarter Durchschnitt, ebenso die Verschuldung.

Früher sei es hier auch gefährlich gewesen, heißt es, aber inzwischen sei es ruhig. Lange Zeit war der Hallschlag ein Viertel für arme Menschen, die sich das Leben im teuren Stuttgart nicht leisten konnten. Inzwischen hat die Gentrifizierung Einzug gehalten. Viele der ehemaligen Sozialbauten sind jetzt im Besitz der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG), einer GmbH mit einem aufsummierten Gewinn der letzten zehn Jahre von über 130 Millionen Euro und einer Eigenkapitalrendite von 4,9 Prozent. Dabei hat sich im gleichen Zeitraum ihr Bestand um fast 400 Wohnungen verringert.Die SWSG hat die ›Aufwertung‹ des Viertels zum Geschäftsmodell erhoben: Mieter*innen werden aus ihren Wohnungen gedrängt, die dann modernisiert werden. Manchmal werden die Häuser gleich abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Die Miete liegt dann bei bis zu 12 Euro kalt, was die Bewohnerstruktur des Viertels deutlich verändert. Einen Beitrag hierzu leistet auch das Förderprogramms »Soziale Stadt«, das der SWSG als »Musterbeispiel für die in Stuttgart praktizierte Innenentwicklung« (so der SWSG-Geschäftsbericht von 2015) öffentliche Mittel zur Verfügung stellt. Zudem führt nun eine Straßenbahnlinie bis ins Viertel, die den schnellen Zugang zur Innenstadt ermöglicht. Dabei ist es für die Bewohner*innen des Hallschlags wichtiger, mit dem Bus ins Nachbarviertel zu kommen, wo sie ihre Besorgungen preiswerter erledigen können. In diesem Viertel unternahm die Partei die LINKE im März 2016 im Vorfeld der Landtagswahlen einen Tag lang einen Anlauf im canvassing – jene Form der aufsuchenden Ansprache, die in den USA zum linken politischen Werkzeugkasten gehört. Bevor sich die Menschen auf den Weg zur Partei machen, klingelt diese an ihrer Tür. Bei den Gesprächen ging es vor allem um die Miete, aber auch um prekäre Arbeitsverhältnisse. Die im Wahlkampf heiß diskutierte Flüchtlingsfrage war kaum Thema, wohl aber, dass viele aus dem Hallschlag nicht wählen gehen. Nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie ohne deutschen Pass nicht dürfen. »Ich wohne seit über 44 Jahren in diesem Land, ber mitentscheiden darf ich nicht«, fasste dies eine Frau zusammen, die in Stuttgart als Altenpflegerin arbeitet. An diesem Frühlingstag öffneten sich der LINKEN viele Türen und meist waren die Reaktionen positiv. Vielleicht liegt das daran, dass hier sonst selten Leute vorbeikommen, um über Politik zu reden. Es überrascht nicht, dass es der Partei zwei Wochen vor dem Urnengang auch um potenzielle Wähler*innen ging. Diese vermutet sie vor allem in sozial benachteiligten Stadtvierteln: Hier wählen Menschen seltener, aber wenn sie wählen, dann viel eher die LINKE als anderswo. Und doch ging es im Hallschlag um mehr.

Prekarisierung als Hindernis für Beteiligung? Die Wahlbeteiligung im Hallschlag lag bei der Landtagswahl 2011 bei 47,1 Prozent. Im Stuttgarter Durchschnitt lag sie bei 73,1 Prozent. Der Bezirk gehört zu jenen mit besonders niedriger Wahlbeteiligung, ein Rekordtief gab es bei den Gemeinderatswahlen 2009 mit 22,4 Prozent. Ein Paradebeispiel für kollektive Wahlenthaltung in sozial benachteiligten Stadtvierteln, für »Klassenwahlverhalten« (Kahrs 2015), bei dem sozialräumliche Prekarisierung und dauerhaftes Nicht-Wählen korrelieren. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Bundestagswahl 2013 stellt fest, dass überdurchschnittlich viele Menschen aus sozial schwachen Milieus nicht zur Wahl gegangen sind (vgl. Schäfer et al. 2013, 13). Arbeitslosigkeit, Bildungsstand und Kaufkraft haben maßgeblichen Einfluss auf die Wahlbeteiligung, so die Forscher. Die Bundestagswahl 2013 war damit »sozial prekär« (ebd.). Das bedeutet, dass politische Repräsentation hierzulande eine klassenspezifische Schieflage hat. Dies schlägt sich auch in der Alltagserfahrung nieder. So macht es für die Bewohner*innen des Hallschlags tatsächlich kaum einen Unterschied, welche Partei die Landesregierung führt. Alle im Aufsichtsrat der SWSG vertretenen Parteien haben – mit Ausnahme der LINKEN – der Wohnungsbaugesellschaft die Mieterhöhungen gestattet. Das Vertrauen in die Demokratie geht verloren, wenn nur noch eine gut organisierte Elite die eigenen Anliegen im politischen Prozess durchsetzen kann. Gerade sozial benachteiligte Menschen scheinen daher ein recht klares Bild von ihrer politischen Repräsentation zu haben. Gehen sie nicht wählen, dann aus einem nachvollziehbaren Grund. Dieser Verlust von Vertrauen in die Institutionen des Parlamentarismus trifft auch linke Parteien und Initiativen, sie gelten oft als etabliert und als Teil eines Systems, in dem es egal ist, was mit den Menschen ›da unten‹ passiert. Nicht die Prekarisierten gehen so der Demokratie verloren, sondern es ist die Demokratie, die den Prekarisierten und damit überhaupt verloren geht.

»Prekarität erzeugt Menschenhass«, schreibt der französische Stadtforscher Loïc Wacquant« (2015, 8). Sie untergrabe »die Bereitschaft, sich mit anderen zu identifizieren und Bindungen einzugehen, und damit die Voraussetzung für Solidarität« (ebd.). Doch springt die Prekarisierungsforschung hier häufig zu kurz. Der Soziologie Thomas Goes (2015, 430) kritisiert schon lange die verbreitete Einschätzung, Prekarität sei eine Art unüberwindbares Hindernis für kollektives Interessenhandeln: »Die empirischen Befunde zeigen deutlich, dass Annahmen, die eine einseitig disziplinierende, entsolidarisierende und negativ individualisierende Wirkung von Prekarisierungsprozesse auf direkt und indirekt Betroffene nahelegen, zu kurz greifen.« Goes hatte bei prekär Beschäftigten und ihren regulär beschäftigten Kolleg*innen nach »Protestrohstoff« gesucht. Er fand bei den Befragten verschiedene Ressourcen für Mobilisierung und Solidarität, darunter auch solche, die sich nicht exklusiv gegen Schwächere richten, sondern diese miteinbeziehen (ebd., 434). Wie so oft hängt dies aber von den Handlungsbedingungen und von den Perspektiven ab.

Für viele Linke scheint vor diesem Hintergrund ein Engagement im direkten Lebensumfeld der Menschen, im Stadtviertel, in der Nachbarschaft erfolgsversprechend. Hier gibt es konkrete Ansatzpunkte für politisches Handeln. Zudem sind hier die Auswirkungen von Sparpolitik und Sozialabbau unmittelbar spürbar, die Nachbarschaft ist der Ort, an dem sich Erfahrungen von Entsicherung verdichten. Denn der zentrale Ort für die Organisierung und Kämpfe prekarisierter Arbeiter*innen ist »nicht notwendigerweise der Arbeitsplatz (wie auch, wenn dieser oft gleichzeitig das eigene Zuhause ist oder das von anderen oder er alle paar Monate wechselt und die Chance, mit einem Team von Kolleg*innen lange genug zusammenzuarbeiten, um einander kennenzulernen, eins zu Tausend ist), sondern das großstädtische Umfeld, durch das wir täglich navigieren, mit seinen Werbeflächen und Einkaufzentren, mit seinem Fast Food, das wie Luft schmeckt, und jeder Menge sinnloser Verträge« (Precarias ala Deriva 2004). Der Kampf darum, das Wohnviertel zu einer »Sorgegemeinschaft« (ebd.) zu machen, zu einem Ort des solidarischen Zusammenlebens, hat damit einen gleichberechtigten Platz neben Kämpfen um Arbeitsverhältnisse.

Und sie wehren sich doch...

Das zeigt sich auch im Kellerbezirk Hallschlag: Im Viertel gibt es Widerstand gegen Gentrifizierung. Bereits 2009 hat sich eine Initiative von Bewohner*innen gegen Mieterhöhungen, überzogene Betriebskosten, Modernisierungsandrohungen und den Abriss der Wohnhäuser gegründet. Die Initiative konnte erreichen, dass die turnusmäßige Mieterhöhung von zehn auf sechs Prozent gesenkt wurde, einige geplante Häuserabrisse wurden zumindest verschoben. Dass die SWSG abrissbedrohte Wohnungen auch an Geflüchtete vergibt, konnte die Initiative ebenfalls für sich nutzen. Denn zu der zunächst befürchteten Entsolidarisierung kam es im Hallschlag nicht. Vielmehr kämpfen alte und neue Mieter*innen inzwischen gemeinsam darum, ›ihre‹ Häuser zu erhalten. Der örtliche Ableger des Unterstützungsbündnisses für die Geflüchteten »Stuttgart hilft« arbeitet mit der Mieterinitiative zusammen. Und auch die Kleiderkammer im Hallschlag wurde für alle Menschen geöffnet, ob neu angekommen oder schon lange da.

In dieser Initiative waren Mitglieder der LINKEN schon lange vor der Landtagswahl aktiv. Umso glaubwürdiger konnten sie nun an den Türen ihrer Nachbar*innen klingeln, alte Kontakte auffrischen und neue knüpfen. Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen will die LINKE zukünftig stärker darauf setzen, langfristig Selbstorganisierungsprozesse in sozial benachteiligten Stadtvierteln zu unterstützen, wo es sie schon gibt, und sie (mit-) anzuschieben, wo sie noch fehlen. Dabei sollen Alltagsanliegen im Mittelpunkt stehen: zu hohe Mieten, schlecht ausgestattete Schulen, schlechte Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr, fehlende Ärzteversorgung und Kitas und so weiter.

Aber diese Strategie wirft in jedem Stadtviertel neue Fragen auf: Welche Themen brennen den Menschen auf den Nä- geln? Welche Aktivitäten gibt es bereits dazu? Ist die Partei vor Ort schon aktiv? Wie ist ihr Verhältnis zu anderen Initiativen?

Die Linke im Stadtbezirk

Politische Partizipation hängt auch davon ab, ob Menschen sich handlungsmächtig fühlen (Bourdieu 1982), und genau dieses Gefühl gilt es zu stärken. Menschen in benachteiligten Stadtvierteln sind Expert*innen ihres eigenen Lebens, daher bieten ihre Erfahrungen zentrale Bezugspunkte für die Organisierung. Wird ihnen zugehört, setzt dies gleichzeitig der politischen Entmutigung etwas entgegen. Parteistrukturen könnten noch stärker als bisher strukturelle Unterstützung, Ermutigung und Ermöglichung bieten. So lässt sich das bergen, was die Aktivist*innen der Precarias a la Deriva (2004) bereits vor über zehn Jahren als einen Schatz bezeichnet haben: das Verbindende der fragmentierten Arbeiterklasse, dass nicht »einfach da« ist, sondern durch Austausch und Organisierung entdeckt werden muss (vgl. ebd., 43 ff).

Um dies praktisch zu machen, lohnt ein Blick auf die US-amerikanische Tradition des Transformative Organizing, das gerade in sozial benachteiligten Stadtvierteln zur Anwendung kommt. Denn es bietet beides: Techniken, um gewinnbare Auseinandersetzungen zu identifizieren und einen Plan zu entwickeln und umzusetzen (»plan to win«). Zugleich bettet es diesen Werkzeugkasten ein in eine umfassende Perspektive von Gesellschaftsveränderung. Das Transformative dieses Ansatzes liegt in einer Organisierungsstrategie, die linke Gesellschaftsanalyse, politische Bildung, die Auseinandersetzung um soziale Orte, die Kämpfe im und um den öffentlichen Raum, neue Formen politischer Arbeit und basisdemokratischer Entscheidungsfindung ebenso wie Bündnisarbeit und Aktionsformen miteinander verbindet.

War das canvassing wie im Hallschlag eher ein kurzer Flirt, geht es beim transformative organizing um den Aufbau einer langfristigen Beziehung. Mehr werden heißt hier, linken Antworten auf die Krise und denen, die gemeinsam danach suchen wollen, mehr Gewicht zu verschaffen. (Selbst-)Organisierung und deren Unterstützung durch eine Partei sollen also zusammenwirken. Dauerhafte Präsenz im Alltag kann so dem rechten Agenda-Setting ein linkes entgegensetzen.

Kampf um Souveränität 

Die Wahlerfolge autoritär-populistischer Parteien zeigen auch, dass eine noch so genaue linke Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ausreicht, um Menschen für ein linkes Veränderungsprojekt zu gewinnen, sondern dass es eine Perspektive braucht, die über das Kritisierte hinausgeht. Utopiefähig zu sein – ein Jenseits des Bestehenden glaubhaft zu entwerfen und im Kampf darum einzutreten –, muss daher ein Moment von Organisierungsprozessen sein. Teil einer solchen Zukunftsvision können in prekären Zeiten so dringend benötigte solidarische Orte im Wohnumfeld sein, Strukturen, die von gegenseitiger Sorge getragen werden. Darum lohnt es, gemeinsam zu ringen.

So reihen sich Projekte zur Organisierung in sozial benachteiligten Stadtvierteln ein in Kämpfe um die Zurückgewinnung von Souverä- nität auf allen Ebenen der Politik (vgl. Candeias 2016). Gestaltungsmacht im eigenen Wohnumfeld zu erringen, kann ein erster Schritt sein. Dazu reicht ein kurzfristiger Flirt nicht aus, es braucht lange und mühselige Beziehungsarbeit, damit eine stabile Basis entstehen kann. Parlamentarische Repräsentation muss mit einer langfristigen Alltagsorganisierung kombiniert werden, bei der lokale Initiativen und die LINKE gleichberechtigt zusammenarbeiten. Zur Inspiration lohnt ein letzter Blick nach Stuttgart: Die Mieterinitiative geht in ihrer Auseinandersetzung die nächsten Schritte: Mit einer großen Kampagne will sie die SWSG dazu bringen, zukünftig auch auf die sechsprozentige Mietsteigerung zu verzichten. Und im Hallschlag hat die LINKE bei den Landtagswahlen die Fünf-Prozent-Hürde geknackt. Die Bewohner*innen des Hallschlags, die nicht wahlberechtigt sind, brauchen im Kampf um ihre Souveränität allerdings andere Antworten, als dies eine Landtagswahl bieten kann. Und so stehen die Aktivist*innen vor der Herausforderung, den Kampf um preiswerte Wohnungen mit dem Kampf um mehr Souveränität aller Bewohner*innen des Viertels zu verknüpfen. Zum Glück gibt es im Hallschlag viele stabile Beziehungen.

1 Zur SWSG vgl. Fraktionsgemeinschaft SÖS LINKE Plus, Bezirksbeirat Bad Cannstatt (2015), http://soeslinkeplus. de/2015/11/antrag-zum-mietpreisstopp-bei-der-swsg/

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