Soweit zur Einschätzung der militärischen Lage. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ging bei der Begründung westlicher Waffenlieferungen noch weiter als die ukrainische Regierung. Es gehe darum, Russland »niederzuringen« und zu »ruinieren«. Und laut Pentagon-Chef Lloyd Austin müsse der Krieg solange weitergeführt werden, bis Russland zu einem militärischen Vorgehen gegen andere Staaten nicht mehr in der Lage ist. Im Vergleich dazu wird Bundeskanzler Olaf Scholz als gemäßigter wahrgenommen mit seinen beiden vagen Formulierungen »Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine darf nicht verlieren« sowie »die Ukraine wird bekommen, was sie benötigt«. Damit vermeidet der Bundeskanzler aber bislang jede konkrete Festlegung auf ein Ziel der militärischen Unterstützung für die Ukraine.
Solange sich die westlichen Regierungen aber nicht auf das militärische und politische Ziel ihrer Waffenlieferungen einigen und dieses klar und konkret kommunizieren, bestimmt die Regierung Selenskyj mit ihren immer weiterreichenden Forderungen die internationale Debatte. Alle anderen hecheln hinterher – und im Resultat dieser Dynamik wird eine angeblich »rote Linie« nach der anderen überschritten. Bleibt es bei dieser Dynamik, werden schon sehr bald westliche Bodentruppen zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte gefordert werden. Denn bei der Zahl der verfügbaren Kämpfer ist Russland der Ukraine um das mindestens Zehnfache überlegen. Die Regierung Selenskyj kann rund 350 000 Soldaten in den Krieg schicken, die Regierung Putin mindestens 3,5 Millionen, selbst wenn die Mobilisierung zusätzlicher Soldaten für Putin innenpolitisch zunehmend schwieriger werden dürfte. Bereits anlässlich des NATO-Gipfels im Juli in Vilnius plädierte Estlands Außenminister Margus Tsahkna als erster Regierungsvertreter eines Mitgliedslandes der Militärallianz für die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine: »Die Nato und alle Staaten, wir müssen bereit sein, auch unsere Söhne in Zukunft in den Krieg für die Ukraine zu schicken«, erklärte Tsahkna in einem Interview mit der taz vom 15.7.2023.
Politscher Druck von außen nötig
Es wird nur zu einem Waffenstillstand kommen, der dann auch die Chance von Friedensverhandlungen zwischen den Regierungen in Kiew und Moskau eröffnet, wenn äußere Akteure ihre Einfluss- und Druckmöglichkeiten auf die beiden unmittelbaren Kriegsparteien einsetzen. Mit Blick auf die Regierung Putin sind das China und die von den gravierenden weltweiten Auswirkungen des Krieges (Ernährungskrise, Energiepreiserhöhungen etc.) hauptbetroffenen Staaten des globalen Südens. Letztere müssten Putin gemeinsam auffordern, den Krieg zu beenden. In der Führung in Peking müssen sich diejenigen durchsetzen, die das Interesse des Exportweltmeisters China an wieder funktionierenden internationalen Handelsbeziehungen und Lieferketten sowie am Erhalt der beiden für chinesische Produkte wichtigsten Absatzmärkte Nordamerika und Europa höher gewichten als ein noch engeres Bündnis mit dem Juniorpartner Russland.
Das derzeit in den Hauptstädten und Medien der NATO- und EU-Staaten vorherrschende Narrativ, beim Ukrainekonflikt und möglicherweise für viele künftige Jahrzehnte gehe es um einen »globalen Konflikt zwischen westlichen liberalen Demokratien« und »der Allianz der Autokratien/Diktaturen Russland und China« ist nicht nur arrogant, sondern auch völlig undifferenziert, analytisch falsch und vor allem kontraproduktiv. Denn dieses Narrativ stärkt die Hardliner-Fraktion in Peking, die für einen konfrontativen Kurs gegen den Westen plädiert. Selbstverständlich sind Russland und China keine Demokratien. Aber davon abgesehen gibt es zahlreiche gewichtigere Unterschiede zwischen beiden Staaten mit Blick auf ihre innere Verfasstheit, ihre Geschichte, ihre Interessenlage, ihre ökonomische Bedeutung und ihre Ressourcen. Es gilt, diese Unterschiede wahrzunehmen und für eine Beendigung des Ukrainekrieges zu nutzen.
Vorbedingungen zu Verhandlungen prüfen
Die Unterstützerstaaten der Ukraine in NATO und EU müssen der Regierung Selenskyj zwei Dinge klarmachen: Er muss seine bisherige Vorbedingung für die Aufnahme von Verhandlungen, nämlich den vollständigen Rückzug der russischen Truppen von sämtlichen derzeit völkerrechtswidrig eroberten oder annektierten Territorien der Ukraine (Krim, Teile des Donbas, Küstenstreifen am Asowschen Meer) fallen lassen. Selbstverständlich muss die Forderung nach vollständigem Rückzug und Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine in ihren seit 1991 international (auch von der Regierung in Moskau) anerkannten Grenzen auf dem Tisch künftiger Verhandlungen bleiben, aber nicht als Vorbedingung. Diese Forderung sollte auch am Anfang jedes Aufrufs aus der Friedensbewegung stehen. Damit macht man sich keineswegs die Vorbedingung Selenskyjs zu eigen, wie einige in der Friedensbewegung behaupten.
Zum Zweiten muss Selenskyj seine per Regierungsdekret festgeschriebene Weigerung, direkt mit Putin zu verhandeln, aufgeben. Der ukrainische Präsident rechtfertigt diese Weigerung mit dem Verbrechen des von Putin befohlenen russischen Angriffskrieges sowie mit den zahlreichen Kriegsverbrechen, die russische Soldaten und Söldner seit Kriegsbeginn an der ukrainischen Bevölkerung verübt haben. Emotional ist diese Weigerung Selenskyjs sehr gut nachzuvollziehen. Aber politisch ist sie nicht haltbar. Das müssen die Regierungen der NATO- und EU-Staaten dem ukrainischen Präsidenten klarmachen. In der Geschichte von Verhandlungen zwischen Kriegsgegnern gibt es keinen Fall, bei dem eine Seite der anderen Seite vorschreiben konnte, wer ihre Verhandlungen führt.
Hätte die Regierung in Hanoi 1967, als bereits über eine Million Nordvietnamesen dem US-amerikanischen Aggressionskrieg zum Opfer gefallen waren, erklärt »Wir verhandeln nicht mit den Kriegsverbrechern und Völkermörder Henry Kissinger«, dann wäre der Vietnamkrieg nicht sechs Jahre später durch das Abkommen von Paris beendet worden. Ähnliches gilt für die innerjugoslawischen Zerfallskriege 1991–1995: Wenn sich der muslimische Präsident Bosnien-Herzegowinas, Alija Izetbegović im Oktober 1992 der Aufforderung von UNO und EU zu den Genfer Verhandlungen mit den Führern der bosnisch-serbischen Nationalisten widersetzt hätte, die bis dahin bereits zehntausende bosnische Muslime vertrieben, in Internierungslager gesperrt oder ermordet hatten.
Sicherheitsgarantien
Wer in den vergangenen anderthalb Jahren seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 für einen Waffenstillstand und Verhandlungen plädierte, wurde häufig mit dem Vorwurf überzogen, er sei für eine Kapitulation der Ukraine. Das ist Unsinn. Für einen Waffenstillstand und Verhandlungen zu plädieren, um das Töten und die Zerstörungen zu beenden, heißt überhaupt nicht, dass man sich anmaßt, der ukrainischen Regierung vorzugeben, worüber sie zu verhandeln hätte, welche Angebote oder gar welche Konzessionen sie zu machen hätte.
Die relevanten Verhandlungsthemen sind bereits spätestens seit dem letzten Treffen von Regierungsdelegationen aus Kiew und Moskau am 29. März 2022 in Istanbul weitgehend bekannt. Damals erklärte die Regierung Selenskyj in einem 10-Punkte-Dokument schriftlich ihren Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft und plädierte für einen Neutralitätsstatus der Ukraine ohne ausländische Militärstützpunkte auf ihrem Territorium und mit verbindlichen Sicherheitsgarantien durch die Staaten USA, Großbritannien, Kanada, Russland, Polen, Israel und Deutschland. Mit Blick auf den Territorialkonflikt über die von Russland im März 2014 völkerrechtswidrig annektierte Krim schlug Kiew ein bis zu 15-jähriges Moratorium vor, um diese Zeit für Verhandlungen mit Moskau über eine endgültige Lösung zu nutzen. Und über die Zukunft der umstrittenen Donbas-Gebiete wollte Selenskyj laut dem in Istanbul vorgelegten 10-Punkte-Dokument direkt mit Putin verhandeln. Diese Positionen und Vorschläge der Regierung Selenskyj vom März 2022 sind alle nach wie vor relevant für künftige Verhandlungen.
Ohne Verzicht auf eine künftige Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO werden etwaige Verhandlungen nicht zu einer Vereinbarung führen. Denn diese Frage ist aus Sicht Moskaus von zentraler Bedeutung, spätestens seitdem die Militärallianz auf ihrem Gipfeltreffen 2008 auf Drängen der USA erstmals die Absicht zur Aufnahme der Ukraine (und Georgiens) bekundete. Dass Präsident Putin auch andere Motive für den Überfall auf die Ukraine hatte, und dass er in seiner Rede zur Rechtfertigung dieses Überfalls am 24. Februar 2022 die NATO-Frage nicht erwähnte, ist kein Gegenbeweis. Die zentrale Bedeutung der NATO-Frage für Moskau wurde auch in den Vorschlägen und Forderungen deutlich, die er am 16. Dezember 2021 der NATO und der US-Regierung vorgelegt hatte. Hätten nicht nur Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron bei ihren Gesprächen mit Putin im Kreml am 15. und 7. Februar 2022 die Bereitschaft zumindest zu einem mehrjährigen Moratorium in der NATO-Frage signalisiert, sondern ebenso die Biden-Administration und damit auch die NATO, dann hätte der russische Überfall möglicherweise nicht stattgefunden. Beweisen lässt sich das natürlich nicht. Doch ist die Weigerung der US-Regierung, sich zumindest auf ein Moratorium einzulassen mit dem Ziel, den drohenden Krieg zu verhindern, schärfstens zu kritisieren. Mit den politischen Bekenntnissen des NATO-Gipfels 2023 in Vilnius zu einer künftigen Mitgliedschaft der Ukraine ist eine Kurskorrektur in dieser Frage noch schwieriger geworden, da die Sorge vor einem Gesichtsverlust der Regierungen in Kiew und in den Hauptstädten der NATO-Staaten gewachsen sein dürfte.
Möglicherweise wird die Regierung Putin überhaupt erst zu einem Waffenstillstand und zu anschließenden Verhandlungen bereit sein, nachdem die NATO und die Regierung Selenskyj ihr die Bereitschaft zum Verzicht auf eine Mitgliedschaft der Ukraine vorab in geheimen Sondierungen signalisiert haben.