In der Buchbranche gilt ein wissenschaftliches Sachbuch als großer Erfolg, wenn von ihm in mehreren Jahren 10 000 Exemplare verkauft werden. Für die meisten Wissenschaftspublikationen liegen die Druckauflagen zwischen 150 und 500 Stück. Als vor etwa einem Vierteljahr der freischaffende Radiomoderator Kayvan Soufi Siavash, der sich selbst Ken Jebsen nennt, einen Videokommentar zu den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung bei Youtube hochlud, hatten ihn in kürzester Zeit mehr als drei Millionen Menschen gesehen. Jebsen behauptet, in seinem Video eine große Verschwörung der Mächtigen aufzudecken, und verbindet seine Enthüllung mit einem Aufruf zum Widerstand gegen den Staat. Ganz egal, was man davon hält, Reichweite und Einfluss kann man Jebsen nicht absprechen. Und ein Massenbedürfnis nach Positionen, wie er sie vertritt, scheint es auch zu geben. Darum muss man die inhaltliche Auseinandersetzung führen.[1]

SIND MENSCHEN, DIE AN VERSCHWÖRUNGEN GLAUBEN, BESONDERS KRITISCH ODER „EINFACH VERRÜCKT“?

Am Beispiel Jebsen lässt sich dies exemplarisch bearbeiten. Sein Vorwurf lautet: Bill Gates, einer der reichsten Menschen der Erde, habe Deutschland „gekapert“. Gemeint ist, dass Bill Gates mit seinem gigantischen Vermögen von gegenwärtig 116,3 Milliarden US-Dollar die Grundlagen für die weitere Anhäufung seines Vermögens finanziere. Diese läuft auch in der Krise unbestritten vortrefflich: Seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie im Westen, also seit März 2020, hat sich sein Vermögen um 18,3 Milliarden US-Dollar, also um gut 100 Millionen US-Dollar am Tag, vermehrt. Der Vorwurf lautet, dass Gates versuche, noch mehr Profit aus der COVID-19-Krise zu schlagen, indem es die Bill & Melinda Gates Foundation sein werde, die bei einer zukünftigen Impfpflicht – die von den Gates-finanzierten und Gates-beratenen Regierungen gerade eingeführt werde – die entsprechenden Immunisierungsmedikamente den weltweiten steuerfinanzierten Gesundheitssystemen in Rechnung stellt. Wer sich dieser Impfpflicht dann widersetze, der werde Opfer von Grundrechtsentzug werden.

Plausibilität und Realitätsbezug von Verschwörungstheorien

Tatsächlich hatte die Bill & Melinda Gates Foundation im Februar 2020 angekündigt, 100 Millionen US-Dollar – also in etwa ihr Tageseinkommen – in Gegenmaßnahmen zum COVID-19-Virus zu investieren, und diese Summe dann schrittweise aufgestockt. Es sagt in jedem Fall viel über den Zustand unserer Gesellschaft aus, dass sie ihre Entwicklung einschließlich der Versorgung von Kranken und des Überlebens der Schwächsten immer mehr von Steuer vermeidenden Multimilliardär*innen abhängig macht und nicht von den Regierungen, die mehrheitlich gewählt wurden und deren Aufgabe das eigentlich wäre.

Es ist auch eine unbestrittene Tatsache, dass Milliardär*innen und Multimillionär*innen sich in die Politik einkaufen: Michael Bloomberg, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg, Charles Koch, Sheldon Adelson, Susanne Klatten, die Quandt-Familie oder August von Finck jr. tun das ständig. Geld entfaltet politische Wirksamkeit, wenn Parteien, Politiker*innen und Universitäten von Milliardärs- und Konzernspenden abhängig werden oder Leute wie Rupert Murdoch und Jeff Bezos die auflagenstärksten Zeitungen und massenwirksamsten Fernsehsender aufkaufen, die dann in schlimmster Demagogie Kampagnenjournalismus gegen linkssozialdemokratische Umverteilungspolitiker wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn betreiben.

Die sogenannten Verschwörungstheorien leben also davon, dass sie Realitätsbezüge haben und plausibel erscheinen mögen. Die COVID-19-Krise hat einmal mehr gezeigt: Der Markt reguliert sich nicht selbst und schadet der Gesellschaft, wenn sich beispielsweise die Preise für Arzneimittel oder Atemschutzmasken plötzlich vervielfachen, ohne dass die Produktionskosten gestiegen wären. Die Nachfrage regelt den Preis, und bezahlt wird, was bezahlt werden kann. Ist der Nachfragende der Staat, der durch Steuern quasi unbegrenzt zahlungsfähig ist, und ist das nachgefragte Produkt krisenbedingt rar, dann locken gigantische Profite. Das ist auch unter Normalbedingungen so – etwa im Gesundheitssektor, wo profitorientierte Krankenhäuser Operationen durchführen, die medizinisch nicht nötig, aber besonders profitabel sind, oder auch im Bausektor, der vor allem von öffentlichen Investitionen lebt. All das lädt zu Korruption ein. Nicht ohne Grund spielen Krimis gerne in der mafiösen Bauwirtschaft.

Die COVID-19-Krise ruft alle auf den Plan, die sich einen Reibach versprechen. Trigema, Beck’s und andere Konzerne stellten ihre Produktion rasch auf staatlich nachgefragte Atemschutzmasken, Beatmungsgeräte und Desinfektionsmittel um. Sie handelten dabei freilich kaum aus Nächstenliebe oder gesamtgesellschaftlicher Verantwortung, sondern weil sie an die staatlichen Töpfe heranwollen. Die staatliche Nachfrage ist ebenso wie das Kurzarbeitergeld eine willkommene Kompensation für die neue große Rezession, die von COVID-19 beschleunigt worden ist.

Der Konzern, dem es gelingt, die benötigten Impfstoffe herzustellen, hat die Aussicht auf gigantische Extraprofite, weil er auf die gesamten Staatsnachfragen und damit auf den ganzen Mehrwert in der Zirkulationssphäre zurückgreifen kann. Dass Konzerne und auch die Gates-Stiftung ein Interesse haben, in den Genuss dieser Profite zu kommen, ist klar. Wir leben im Kapitalismus: Kapital will akkumulieren. Dass die Staaten den Prozess der Anerkennung der Impfstoffe jetzt beschleunigen müssen, da sie so bald wie möglich dem Kapital wieder ein günstiges Investitionsklima und gute Akkumulationsbedingungen schaffen müssen/wollen, liegt auch auf der Hand. Ebenfalls nicht gelogen ist, dass jeglicher medizinische Fortschritt auch Gefahren birgt – denken wir an Contergan. Dass Impfungen dann an den Ärmsten der Armen getestet werden (wie von Jebsen ebenfalls behauptet), ist auch nicht von der Hand zu weisen.

Die paranoide Grundtendenz

Jebsens Vorstellung aber, dass Bill Gates mit seinem Geld die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die „Impfallianz Gavi“ und über das Robert Koch-Institut und den Virologen Christian Drosten auch die Bundesregierung „gekauft“ habe und das Handeln aller Regierungen auf der Welt kontrolliere, dass er sie lenke, um Profiteur einer weltweit durchgesetzten Impfpflicht zu werden, die mit seinem Geld von den Regierungen der Welt gerade vorbereitet werde, dass das COVID-19-Virus in Wahrheit nicht so gefährlich sei, wie es in Italien offensichtlich wurde und sich in den USA und im globalen Süden zeigt, dass die Regierungen der kapitalistischen Staaten, die WHO und die großen Medienhäuser Spiegel und ZEIT – als einseitig berichterstattende „Lügenpresse“ – durch das Gates-Geld ferngesteuert würden, dass alle ihre Mitglieder sogar aus privatem Profitinteresse skrupellos genug seien, den Motor der kapitalistischen Wirtschaft abzuwürgen (selbst wenn das, siehe Donald Trump oder Jair Bolsonaro, ihre eigene Wiederwahl gefährdet), dass jede Zeile, die in der ZEIT und anderen bürgerlichen Großmedien erscheint, von Gates und Co. gekauft sei, dass Konzernchefs, Politik und Medien die Bevölkerung bewusst belögen, erscheint irre. Erst recht paranoid sind die Behauptungen von Attila Hildmann und anderen, die noch viel weiter gehen als Jebsen und behaupten, Bill und Melinda Gates hätten das Virus fabriziert, um mithilfe der gekauften WHO nicht nur einen Impfzwang durchzusetzen, sondern allen Menschen Mikrochips einzupflanzen, um sie willenlos und fernsteuerbar zu machen und so ganz ohne Reibung und Widerstand die Welt beherrschen zu können.

Der Kern von Jebsens Argumentation ist eine verkürzte Gesellschaftsanalyse, die an die Stelle einer Macht- und Ideologietheorie die quasi zwangsläufige Beziehung Geld = Ideologie setzt. Dies könnte man als Ideologietheorie des „Wer die Kapelle bezahlt, bestimmt auch, was sie spielt“ bezeichnen: Bill und Melinda Gates geben Geld an die WHO, den Spiegel, die ZEIT usw., also ist alles, was in diesen Medien berichtet wird, und alles, was von der WHO verlautbart wird, unmittelbarer Ausdruck der Profitinteressen von Bill und Melinda Gates. Eine systematische Analyse des medialen Feldes – der Vermittlung von Finanzierungswegen, der Machtstrukturen in Redaktionen, der Herausbildung von Blattlinien usw. – ist dann nicht mehr nötig. Allein das Ergebnis zählt: Spiegel = gekauft, ZEIT = gekauft usw. Wer aber soll an eine solche Verschwörung glauben?

Weil vielen Menschen diese Vorstellung als paranoid erschien, sprossen in den sozialen Medien schon zu Beginn der Krise entsprechend schnell Meme, Cartoons und mehr oder weniger witzige Kommentare, die das Jebsen-Video und andere entsprechende Publikationen ins Lächerliche zogen. In ähnlicher Weise passiert dies mit den „Hygiene-Demonstrationen“. Das Lachen blieb indes im Halse stecken, als plötzlich Rechtsradikale als Teil dieser Demonstrationen Ende August 2020 den Reichstag „stürmten“. Aus dem Bedürfnis, die Anhänger*innen von „Verschwörungstheorien“ als „Aluhüte“ zu bezeichnen und ins Lächerliche zu ziehen, spricht auch Hilflosigkeit. Wie gesagt: Weit über drei Millionen Menschen haben in kürzester Zeit das besagte Video von KenFM gesehen.[2] Die Frage ist jedoch, warum sie das taten. Wann und warum haben sogenannte Verschwörungstheorien Konjunktur? Was sind ihre gesellschaftlichen Ursprünge, was macht ihre sozial- und individualpsychologische Plausibilität aus? Und gibt es eine allgemeine Funktionsweise von Verschwörungstheorien?

WARUM BEGINNT MAN, AN DIE GROSSE VERSCHWÖRUNG ZU GLAUBEN? DIE INDIVIDUALPSYCHOLOGISCHE UND SOZIALPSYCHOLOGISCHE FUNKTION DES VERSCHWÖRUNGSGLAUBEN

„Verschwörungstheorien“ haben in ganz spezifischen geschichtlichen Situationen Konjunktur, nämlich in gesellschaftlichen Krisenzeiten. Menschen, die sich vorher wenig bis gar nicht für Politik und Gesellschaft interessiert haben, sondern sich vor allem um ihre privaten Belange kümmerten, werden verunsichert. Vielfach sind sie persönlich von der Krise betroffen, werden von ihrer eigenen Gesellschaftlichkeit eingeholt und verlieren das Vertrauen in die veröffentlichte Meinung. Sie politisieren und radikalisieren sich teils in atemberaubender Geschwindigkeit, indem sie sich über „alternative Medien“ eine Weltanschauung zurechtlegen bzw. diese zurechtgelegt bekommen. Das funktioniert umso einfacher, weil sie vorher in der Regel überhaupt keine tief verankerte und verästelte Weltanschauung hatten, die über die ideologische Hegemonie des bürgerlichen Neoliberalismus – privates Glücksstreben und Erfüllung gesellschaftlicher und familiärer Ansprüche an sich selbst – hinausging.

Die Bedeutung von gesellschaftlichen und individuellen Krisen

Viele Menschen wenden sich den „alternativen Wahrheiten“ auch in biografischen Krisen zu, die verunsichern und objektiv oder subjektiv die (ökonomische) Existenz bedrohen. Dies kann die Auswirkung von Wirtschaftskrisen sein, die Arbeitslosigkeit oder Sorge um Arbeitsplatz- und Statusverlust impliziert, es kann eine gescheiterte Prüfung sein, ein Burn-out, eine schwere körperliche oder psychische Erkrankung; es kann im Zuge von Beziehungskrisen, dem Tod von geliebten Angehörigen oder im Zusammenhang mit dem Versuch stehen, eine Suchterkrankung zu überwinden. In solchen Situationen, die eine Fortsetzung des bisherigen Lebensweges unmöglich machen, was mit tiefen Verunsicherungen einhergeht und teils die Gestalt einer depressiven Erkrankung annimmt, kann empfundene Ohnmacht und Sinnlosigkeit neue Sinnsuchen verstärken. Verschwörungstheorien eignen sich in diesen Situationen, um dem „Ich“ ein neues Haus zu bauen. Zugleich kann das Interesse an Verschwörungstheorien auch im Zusammenhang mit längerfristigen Ohnmachtserfahrungen geweckt werden. Die Sozialpsychologin Julia Becker spricht diesbezüglich von „chronischem Kontrollverlust“.

Die Verschwörungstheorie lebt von der Entgegensetzung der Herrschenden, die absolut böse sind, und der soziologisch unbestimmten, guten, anständigen Masse – Jebsen spricht vom „Mittelstand“, zu dem sich (fast) jede*r zählen kann, will und soll –, der „verarscht“ wird und sich „belogen und betrogen“ fühlt oder fühlen soll. Der subjektiv oder objektiv durch eine Krise aus der Gesellschaft Katapultierte findet darin einen Anknüpfungspunkt für empfundene Ohnmacht. Gemäß der Kritischen Psychologie von Klaus Holzkamp und anderen ist das vitalste menschliche Bedürfnis das nach Handlungsfähigkeit: Ohnmacht muss überwunden werden, will der Mensch (über-)leben.

Die Verschwörungstheorie verleiht dem Leidenden nun einen Ausweg: Sie spiegelt die eigene Ohnmacht in der Theorie selbst („belogen und betrogen“) und ist darum so plausibel; sie liefert schmerzlindernde Erklärungen und benennt Verantwortliche für das eigene Leid. Dies gilt insbesondere, wenn die Verschwörungstheorie explizit mit rechtsextremen Denkmustern verknüpft ist: „Warum bin ich ‚Incel‘?“[3] und „Wer ist schuld, dass mich Frau und Kinder verlassen haben?“ – „Der Feminismus. Und die ‚rotgrün-versiffte‘ Politik, die mich jetzt zu Unterhaltszahlungen verpflichtet.“ „Wer ist schuld, dass es einen Lockdown gab und ich mein Restaurant, meine alternativen Heilpraktiker-Räume schließen musste?“ – „Bill Gates und die von ihm gekaufte Politik, die aus einer ‚normalen Grippe‘ eine Pandemie ‚konstruierten‘.“

Rechtsextreme Verschwörungstheorien bieten darüber hinaus einen gefahrlosen Kanal für die eigenen Aggressionen: gegen die Frau, die einen verließ, oder die Polizei, die kommt, wenn man Restaurant oder Praxisräume gegen die Bestimmungen öffnet. Sie richten sich entweder abstrakt gegen „das System“ oder gegen Schwächere – den „Flüchtling“ –, gegen sie können die angestauten Aggressionen gefahrlos ausgelebt werden. In den Autoritarismusstudien der Kritischen Theorie wurde dies als Sündenbock-Phänomen analysiert und als „sich schadlos halten“ bezeichnet. In diesem Sinne kann man den Verschwörungsglauben, insbesondere in seiner rechten Gestalt, auch als konformistische Rebellion bezeichnen.

Zugleich ist die Ohnmacht in Einzelfällen die Rechtfertigungsgrundlage für terroristische Gewalt: Wer ohnmächtig ist, sich von der Gesellschaft oder der Partnerin unschuldig „in die Ecke gedrängt“ fühlt, der darf nach außen schlagen. Die terroristische Gewalt – in Halle oder Hanau – erscheint dem Gewalttäter als „Notwehr“. Nicht selten ist der terroristische Amoklauf dabei ein erweiterter Suizid(-versuch).

Die individuelle Hinwendung zu Verschwörungstheorien, die alles, was man selbst bisher für richtig hielt, auf den Kopf stellen, muss als eine Form von Religiosität verstanden werden. Alle Weltanschauungen sind in Teilen spirituell. Die cartesianische Trennung von Gefühl und Verstand, von Emotion und Kognition, wird dem menschlichen Denken, bei dem jede Erkenntnis eben immer auch sozialhistorisches Empfinden beinhaltet, nicht gerecht. In diesem Sinne war auch der Sozialismus nicht ohne eine gewisse Spiritualität vorstellbar, wie man von Karl Kautsky, Walter Benjamin und Ernst Bloch lernen kann. Der Liberalismus, vor allem in seiner Gestalt als Wirtschaftsliberalismus, ist mehr religiöse Glaubenslehre als sonst irgendetwas.

Entscheidend ist: Die Verschwörungstheorie kann nicht moderat religiös sein. Im Rahmen des sozialpsychologischen Forschungsprojekts „Amazing Conversions“ hat ein Forschungsteam um den kanadischen Autoritarismusforscher Robert Altemeyer untersucht, zu welchen Formen (quasi-)religiösen Denkens sich „Konvertit*innen“, die sich rapide ideologisch entwickeln und radikalisieren, hingezogen fühlen. Die Studie kam zu dem Befund, dass moderate Konvertit*innen einen hohen Seltenheitswert haben, was in der individualpsychologischen Funktion der Verschwörungstheorie begründet liegt. Denn sie ist ein rigides Glaubenssystem, in dem es nur richtig/falsch, (einfache) Wahrheit/(schlichte) Lüge, absolut gut/absolut böse, Freund/Feind, Erwachte/sheeple („Schlafschafe“) gibt. Zur moderaten Religiosität dagegen gehören der Zweifel, das Abwägen, die dialektische Offenheit, These und Gegenthese. Wie der Kommunist Bertolt Brecht in seinem „Me-ti: Buch der Wendungen“ schrieb: „Jemand warf Me-ti sein Misstrauen und seine Zweifelsucht vor. Er verantwortete sich so: ‚Nur eines berechtigt mich, zu sagen, dass ich wirklich ein Anhänger der Großen Ordnung bin: Ich habe sie oft genug angezweifelt.‘“ In der Verschwörungstheorie bleiben dagegen noch die spekulativsten Behauptungen unhinterfragt und müssen es bleiben, weil sie sonst die vermisste Eindeutigkeit der Antworten auf schmerzhafte Fragen und die neue Sinnstiftung nicht liefert. In diesem Sinne sind die Konvertierungen zum Salafismus, zum christlichen Fundamentalismus, zum Neonazismus und zur Verschwörungstheorie als strukturähnlich und individualpsychologisch durchaus vergleichbar zu verstehen.

Der Verschwörungsglaube als restriktive Handlungsfähigkeit

Die Konvertierung zum neuen Glaubenssystem verleiht dem*der Gläubigen plötzlich ungeahnte Kräfte, sprich: neue Handlungsfähigkeit. Gerade für an Depression Erkrankte, bis dahin antriebslose und womöglich suizidale Menschen ist diese neue Energie, die das eigene „Erwachen“ mit sich bringt, im wortwörtlichen Sinne lebenserhaltend. Es hat einen Grund, warum im christlichen Fundamentalismus vom „Wiedergeboren-Sein“ (born again Christian) gesprochen wird; nicht anders wird die Erweckung erlebt. Die neue „politische“ Handlungsfähigkeit fühlt sich gut an, weil sie erlaubt, das individuelle Leid auf neue, größere Aufgaben – die Arbeit am „Leid der Gesellschaft“ – zu übertragen. Häufig verschwindet das individuelle Leid, die Verschwörungstheorie erfüllt ihre individualpsychologische Funktion, wenn auch, ohne die Ursachen und Bedingungen des Leidens nur im Geringsten anzutasten. Holzkamp spricht deshalb – analog zur konformistischen Rebellion – von „restriktiver Handlungsfähigkeit“, die die eigenen Spielräume nur auf Kosten anderer erweitern kann.

Hinzu kommt, dass viele Menschen, die sich in der kapitalistischen Konkurrenz um Arbeit und Status bisher einsam fühlten, darin eine neue Glaubensgemeinschaft finden, die Glücksgefühle und einen neuen Lebenssinn beschert. Dies gilt vor allem im Hinblick auf den esoterischen Charakter des neuen Wissens: Derjenige, der an Verschwörungstheorien glaubt, meint, Dinge zu erkennen, die nur besonders klugen Menschen und anderen „Auserwählten“ – wie ihm selbst – zugänglich sind. Menschen, deren Selbstbewusstsein durch die Krise und ihren gefühlten Statusverlust (Job weg, Frau weg, Kinder weg etc.) stark in Mitleidenschaft gezogen ist, und Menschen, die vielleicht schon vorher zu narzisstischen Denkmustern und Verhaltensweisen tendierten, erlaubt der Kosmos der alternativen „Wahrheit“, ihr Selbst wieder aufzuwerten. Der Verschwörungsglaube geht mit Allmachtsfantasien und Größenwahn einher. In einschlägigen Onlineforen entsteht so das Gefühl, Teil eines (verkannten) Übermenschen-Kults zu sein.

Weil die quasireligiöse Konvertierung zum Verschwörungsglauben eine ideologische Radikalisierung ist, wird sie in der Regel auch von anderen oft als dramatische Persönlichkeitsveränderung wahrgenommen. Für ein Forschungsprojekt habe ich einmal systematisch die (Auto-)Biografien von mehreren Dutzend führenden US-Rechtspopulist*innen analysiert, um Ähnlichkeiten zu entdecken und eine Typologie der „organischen Intellektuellen“ des US-Rechtspopulismus zu entwerfen. Hier findet man die dramatischen Persönlichkeitsveränderungen etwa in den Krisenbiografien von Pat Robertson (nach einem verpatzten juristischen Staatsexamen), Tom DeLay (der sich quasi über Nacht vom „Hot Tub Tom“-Playboy in einen autoritären „Hammer on the Hill“-Politiker verwandelte) oder auch Glenn Beck. Typologisch bezeichne ich sie als die „Verkrachte-Existenz-Autoritären“ (failed-existence authoritarians).

Die Persönlichkeitsveränderung kann oft mit einem Hang zum Messianismus verknüpft sein, mit dem Drang, andere Menschen von den eigenen (quasi-)religiösen Wahrheiten überzeugen zu wollen. Dies gilt insbesondere für Menschen mit narzisstischen Tendenzen, weil Narzissmus eine Art und Weise ist, wie Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen ebendiese überkompensieren. Der durch die Krise narzisstisch gekränkte Mensch erhält sich seine fragile Selbstachtung und versichert sich seiner Größe, indem er sich immer wieder in Auseinandersetzungen begibt: Im World Wide Web sucht er Menschen, die ihn in seinem Auserwählt-Sein bestätigen, weil sie dieselben Glaubensbekenntnisse pflegen, oder über die er sich erheben kann, weil sie „Schlafschafe“ (sheeple) sind, Mitläufer also, die „nicht selber denken können“.

Autoritäre Unterwerfung/autoritäre Aggression

Die Hinwendung zur Verschwörungstheorie kann also als ein religiöses Erweckungserlebnis interpretiert werden. Die neue Wahrheit zu vermitteln wird zur neuen Lebensaufgabe, was selten ohne Autoritarismus möglich ist. Von den Autoritarismusstudien der Kritischen Theorie etwa können wir lernen, dass die „autoritäre Unterwerfung“ unter das neue Glaubenssystem nicht ohne die „autoritäre Aggression“ gegen die Ungläubigen zu haben ist. Fundamentalistisches Denken geht oft mit Aggressionen gegen die Umwelt und Bestrafungsfantasien gegenüber den Mitmenschen einher. Tatsächlich sind es ja in der Regel die fundamentalistischen Glaubenssysteme, die existierende Aggressionen gegen „die Gesellschaft“, den*die Ex-Partner*in, die (Ex-)Kolleg*innen usw. ideologisch rechtfertigen.

Die autoritäre Aggression wird als (An-)Drohung von Strafe offen ausgesprochen. Sie kann inner- als auch außerweltlich, säkular als auch religiös sein: Der rechtsextreme Verschwörungstheoretiker greift eine Synagoge in Halle an, weil er „die Juden“ für sein Leiden verantwortlich macht und sie als Drahtzieher exemplarisch tötet. Der christliche Fundamentalist droht mit der Apokalypse und damit, dass die Ungläubigen bei der rapture – der Errettung der Frommen und Gottesfürchtigen – nicht mitgenommen werden und fürchterlichste Qualen zu erleiden haben. Eine große Zahl der wiedergeborenen Christ*innen in den USA geht davon aus, diese rapture (dt.: Entrückung) noch selbst erleben zu dürfen, denn nur so verleiht der Rapture-Glaube die Genugtuung, dass die scheinbar Glücklichen in der Mainstream-Gesellschaft, aus der man selbst herauskatapultiert wurde oder der man als „Reichsbürger*in“ den Rücken zugekehrt hat, bestraft werden.

Für die Theorie einer großen Verschwörung der „Absolutbösen“ (und ihrer „blinden“ Gefolgschaft, der „Schlafschafe“/sheeple) ist wiederum der „Tag X“/„Tag der Abrechnung“ entscheidend. Dann werde mit den „Absolutbösen“ und den „lügenden und betrügenden“ Mainstream-Journalist*innen abgerechnet. Auf der „Hygiene-Demonstration“ in Berlin am 29. August 2020 formulierte es ein Demonstrant wie folgt: „So lange kann man das Volk nicht verarschen. Aber ihr könnt ruhig weiter, richtig schön weitermachen, damit das Narrativ so richtig schön … richtig weitermachen im Spiegel-Salon, ganz toll, aber die Leute werden wach, und dann, dann schnappen wir euch! Ganz einfach. Und dann geht ihr vor Gericht, für euren Scheiß, den ihr in eurer Zeitung ja verbreitet habt, und ihr habt dazu beigetragen, dass die Leute weiter schön schlafen, genauso wie unsere Bundesregierung. Macht ruhig so weiter, uns freut es!“

Die sozialpsychologische Funktion des Verschwörungsglaubens

Die kollektive Hinwendung zu Verschwörungstheorien, wie sie sich zu „Widerstand 2020“ aufschwingen, ergibt sich in historischen Phasen, in denen sich die Ereignisse beschleunigen und Staat und Konzerne oft radikale („unnormale“) und unpopuläre Entscheidungen treffen – wie Abstandsregelungen, die Pflicht, im öffentlichen Raum eine Maske zu tragen, oder gar einen weitgehenden Lockdown des öffentlichen Lebens. Der Ausnahmezustand kann dabei viele Gestalten annehmen: Wirtschaftskrisen mit Massenentlassungen, Konkursen und Abstiegsängsten sowie den genannten Ausnahmestaatsmaßnahmen; Kriege mit entsprechender Propaganda, die begründet, warum Gewalt und Aggression auf einmal gerechtfertigt sind, und die um ideologische Deutungshoheit ringt, wer Aggressor und wer Angegriffener ist; und schließlich Pandemien. Die unausweichliche ideologische Begleitmusik der staatlichen Maßnahmen – die Intensivierung und Verkürzung der Debatte in Parlamenten, im Staatsfernsehen und in privaten Massenmedien und die krisenbedingte Verengung der Meinungen mit durchaus real volkserzieherischem Ton, also die wahrgenommene „Gleichschaltung“ der Medien in Zeiten der Verunsicherung – sind der Humus für „alternative Medien“. Es ist also kein Zufall, dass heute Verschwörungstheorien um sich greifen: Gesamtgesellschaftlich betrachtet beziehen sie ihre ideologische Kraft aus der globalen Finanz- und Eurokrise mit ihren Bankenrettungen 2010ff, der staatlichen Propaganda während der Ukraine-Krise 2014ff und der bio-ökonomischen Pandemie 2020 mit ihren heftigen sozialen Auswirkungen infolge anstehender Massenentlassungen, Kurzarbeit und Kleinunternehmerkonkurse.

WORAN ERKENNT MAN VERSCHWÖRUNGSTHEORETISCHE ERKLÄRUNGEN UND HALTUNGEN IN KONKRETEN AUSEINANDERSETZUNGEN?

Mit Anhänger*innen von Verschwörungstheorien zu diskutieren, macht selten Freude. Für Menschen mit einer starken theoretischen und weltanschaulichen Grundhaltung sind die Diskussionen nervig, weil man kaum dazwischen kommt. Für Menschen ohne eine solche feste Grundhaltung sind die Diskussionen oft unangenehm, weil sie sich wehren wollen, es aber schlecht können. Die Verschwörungstheorie-Anhänger*innen scheinen „so informiert“, sie verunsichern ihre Gegenüber und zwingen diese, sich zu entscheiden: „Bist du auf meiner Seite oder auf der Seite der Bösen?“ Und wer will schon gerne zu den Bösen gehören – zumal, wenn er*sie selbst Zweifel an der veröffentlichten Meinung hat?

Bezüge zu Verschwörungstheorien erkennt man an wenigstens vier Elementen: 1. an der einfachen Personalisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen (Gates, Soros, Rothschild), die oft antisemitische Untertöne und Botschaften vermittelt; 2. am manichäischen Denken – die Mainstream-Medien versus die Alternativmedien –, das keine Schattierungen erkennt, Faschisten, Liberale, Konservative, Sozialdemokraten, Kommunisten und Anarchisten nicht unterscheiden kann, die vereinzelten kritischen Stimmen in den Mainstream-Medien nicht wahrnimmt und auch zu den Richtungskämpfen in den bürgerlichen und linken Medien keine Einstellung hat; 3. daran, dass das Ergebnis der Diskussion für Vertreter*innen von Verschwörungstheorien von vornherein feststeht. Sie diskutieren nicht, um etwas hinzuzulernen, um eine andere Perspektive und andere Erfahrungen kennenzulernen, sondern als wüssten sie schon alles. Und schließlich erkennt man sie daran, dass sie sich 4. in der Regel mit Händen und Füßen gegen die Vorstellung wehren, man könne noch etwas ändern, schon gar nicht innerhalb des politischen Parteiensystems. Denn die Verschwörungstheorie, die individuell vor dem Computerbildschirm – anstatt in einer lokalen Parteiorganisation, Gewerkschaft, Antifagruppe etc. – erworben wurde, ist häufig auch eine Rechtfertigung für die eigene Inaktivität jenseits des ständigen Raunens und Rechthabens in den Kommentarfunktionen der sozialen Medien.

Nun gibt es in der Welt reale Verschwörungen. Die Verschwörungstheorien haben, wie gesagt, Anker in der Realität, die sie plausibel machen. Entscheidend ist jedoch, dass Jebsen und Co. Eliten, Faktoren von Elitenkohäsion und tatsächliche Absprachen und Vermachtungen nicht mit der gebotenen Gründlichkeit analysieren und kritisieren, sondern diese immer schon voraussetzen, ja voraussetzen müssen, weil sie sonst ihren apokalyptischen „Jetzt-gilt’s“-Erregungszustand, der auf den psychischen Erregungszustand vieler ihrer Anhänger*innen zurückweist, nicht aufrechterhalten können. Es muss diese Verschwörungen geben, weil sonst der eigene Impetus (wir hier, die Guten im „Mittelstand“/Volk vs. die 500 abgrundtief Bösen da oben) nicht funktioniert.

Mit Brecht gesprochen: Ja, die herrschende Klasse hat Name und Anschrift. Und das darf und muss man analysieren und benennen. Aber nicht nur, dass allein das nicht ausreicht; es ist ein Problem, wenn die Eliten eigentlich nur die (individual- und sozial-)psychologische Funktion spielen, sich selbst als reines und ständiges gutes Opfer von stets übermächtigen Gegnern zu sehen, gegen die man sich aber im letzten Gefecht der „Erwachten“ noch einmal erhebt. Die Verschwörungstheorie verdoppelt als „Theorie“ die gesellschaftliche und individuelle Ohnmacht noch einmal ideologisch, statt sie in einer Weise zu analysieren, die Ansatzpunkte für Veränderung offenlegt. Damit fügt sie sich, so rebellisch sie sich gerieren mag, perfekt ein in den Neoliberalismus: Denn insofern sie übermächtige Gegner skizziert und alles, was in der Gesellschaft passiert, stets zum direkten Ergebnis und Willen einer monolithischen Herrschaftsklasse erklärt, hält sie ihre Anhänger*innen in einer Ohnmachtslage.

Im Grunde ist genau dies jedoch ihre gesellschaftliche wie individuelle Funktion: Gesellschaftlich reflektiert die Verschwörungstheorie den Neoliberalismus und die Defensive, in die die antikapitalistischen Kräfte – und namentlich die organisierte Arbeiterbewegung – mit der neoliberalen Wende in den 1970er Jahren geraten ist. Die gesellschaftliche Schwäche der demokratisch-popularen Bewegungen (der Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und antikapitalistischen Parteien), die von vielen als individuelle Ohnmacht empfunden wird, wird theoretisch durch den Verschwörungsglauben noch verdoppelt, nach dem Motto: Ich „kleiner Mann“/„kleine Frau“ kann zwar an meinem Schicksal nichts ändern, aber ich bin ein gutes Opfer von „denen da oben“.

Individuell bietet sich der Verschwörungsglaube seinen Anhänger*innen als attraktive Ideologie an, weil sie eine wirkliche Umwälzung der herrschenden Verhältnisse nicht wollen oder nicht mehr denken können oder ein wirkliches Sich-Anlegen mit „denen da oben“ auch fürchten, weshalb sie sich in der Rolle des „unschuldigen Opfers“ häuslich eingerichtet haben – und dies oft ganz wortwörtlich, da sich die Verschwörungstheorie in der Regel individuell vor dem heimischen Computerbildschirm und in Onlineforen zeigt, aber – jenseits von seltenen „Das letzte Gefecht“-Demonstrationen wie im August 2020 – nicht als politischer Prozess im gesellschaftlichen Leben. Und dort, wo Anhänger*innen von Verschwörungstheorien sich in die politische Arbeit begeben, ecken sie regelmäßig an.

Mit anderen Worten: Verschwörungstheorien anzuhängen ist für die Subjekte – im Sinne einer „restriktiven Handlungsfähigkeit“ (Klaus Holzkamp) – funktional, weil sie sich durch Identifizierung von Schuldigen für ihre sozial-psychische Misslage Erleichterung verschaffen und ihre Selbstachtung erhalten, sich durch das neue Bewusstsein, die neue Gruppenzugehörigkeit und den Messianismus als wieder handlungsfähig erleben und sich vermeintlich neue Spielräume verschaffen. Sie selbst bleiben durch die Ideologie geschützt und müssen sich mit der Macht nicht ernsthaft anlegen, weil diese übermächtig ist und man glaubt, gegen sie am Ende ohnehin nichts ausrichten zu können. Wie der linke US-Publizist Alexander Cockburn es einmal sinngemäß formulierte: Das, was vor dem Neoliberalismus einmal von sozialistischen (Jugend-)Organisationen aufgesogen wurde, geht heute im Internet zu den Verschwörungstheorien über.

SCHLUSS: DIE VERSCHWÖRUNGSTHEORIE IN DER PRAXIS

Ken Jebsen sieht sich selbst wohl noch als Linker. Auch in seinen letzten Videos ist Marx ein positiver Bezug und er stellt demonstrativ zwei Bücher der linken Elitensoziologen C. Wright Mills und Hans-Jürgen Krysmanski zur Schau. Bei all seinen Phantasmagorien ist analytisch zu berücksichtigen, dass diese weltanschaulich meistens egalitär und kapitalismuskritisch (Hauptproblem ist die Vermögensungleichheit, die die Demokratie untergräbt), nominell libertär (bürgerlich-liberale Freiheitsrechte) und internationalistisch-antiimperialistisch (nie antimuslimisch-rassistisch und nicht einwanderungsfeindlich) grundiert sind. Jebsens gesellschaftliche Feinde sind – alles in allem und im Gegensatz zu Jürgen Elsässer und anderen heutigen Rechtradikalen – tatsächlich immer noch Konzerne und keine Volksgruppen. Die Verschwörungstheorie, die komplexe Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse in der Gesellschaft personalisiert und der Personalisierung der Charaktermasken keine Strukturanalyse des globalen Kapitalismus mit all seinen sozialen Brüchen folgen lässt, ist allerdings nicht ohne Antisemitismus zu haben, wenn die genannten „Absolutbösen“ immer wieder Rothschilds und Soros sind und sich Jebsen darüber hinaus keinen Deut darum schert, dass seine Behauptungen in gleicher Sprache vor allem von eindeutig Rechtsextremen und antisemitischen Neonazis mit entsprechender rassistischer Vernichtungsprogrammatik vorgebracht werden. Eher links tickende, teilweise der Friedensbewegung nahestehende Verschwörungstheoretiker*innen wie er tun dies aber meines Erachtens genau deshalb nicht, weil ihr manichäisches und apokalyptisches Denken und ihr „Jetzt-gilt’s“-Grundgefühl aus taktischen Gründen nicht mehr zwischen links und rechts, sondern zwischen „Erwachten“ und sheeple unterscheidet;[4] und zu Letzteren gehören heute alle, die nicht der Vorstellung anhängen, Corona und Lockdown seien Reichstagsbrand und Ermächtigungsgesetz 2.0.

Es gibt ein Problem der Geister, die sie riefen: Jebsen und Schiffmann, der „Widerstand 2020“ gründete, haben keinerlei politische Erfahrungen und sie werden, obwohl sie eigentlich als die Führer ihrer Bewegung erscheinen, eigentlich von ihnen geführt und von den Ereignissen überrannt. Ihre rasche Politisierung, die plötzlichen neuen Erfahrungen (Zuspruch von bestimmten Leuten, Vernetzung mit ganz neuen Leuten, Eitelkeit oder das Gefühl, plötzlich „Anführer“ zu sein, Gegenwind und Gegenrede vom Mainstream) treiben sie in eine Richtung. Jebsen ist heute Unternehmer seiner selbst. Ein Weg zurück in die Gesellschaft oder in die linke Opposition gibt es für ihn nicht. Er wird sein Unternehmen so weiterführen müssen, denn er lebt davon. Die gesellschaftlichen Bedingungen sind dafür fruchtbar.


Die nächste Ausgabe des "Forum Wissenschaft" befasst sich mit der Renaissance von Verschwörungsideologien. Wir danken der Redaktion für die Vorveröffentlichung dieses Artikels. Die Beiträge der im Dezember erscheinenden Ausgabe gehen der Frage nach, welche Rolle einer verbesserten Kommunikation wissenschaftlicher Arbeitsweisen, Methoden und Erkenntnisse bei der Auseinandersetzung mit Verschwörungsmythen zukommt. Geschichte, Gegenwart und Funktion von Verschwörungsideologien und ihr sozialpsychologischer Hintergrund werden eine Rolle spielen. Mit Beiträge von Martina Franzen, Florian Hessel, Daniel Keil, Joseph Kuhn, Ingar Solty, Carsten von Wissel, Michael Zander, u.a. Die aktuelle Ausgabe von "Forum Wissenschaft" mit dem Titel "Science and future. Debatten um Klimakrise und Wissenschaft" ist im September erschienen. Forum Wissenschaft 3/2020