Was hat sich geändert?
Vor den Parlamentswahlen 2011 wurde mit dem Wahlblock für Arbeit, Demokratie und Freiheit ein neuer Versuch unternommen, erstmals erfolgreich. Zuvor haben wir immer versucht, die Bündnisse zu vereinheitlichen. Diesmal sagten wir, behaltet eure eigenen Strukturen und entwickelt sie weiter. Der erste Schritt einer gemeinsamen Praxis war es, sich um ein Wahlmanifest zu versammeln, der zweite, neuen Frauenorganisierungen Raum zu geben. Das hat einen qualitativen Unterschied gemacht.
Hier meinst du nicht die kurdische Frauenbewegung?
Nein, ich meine Frauenorganisierungen allgemein. Die Linken in der Türkei sind doch völlig vernagelt, was Frauen betrifft. Alle Aufklärung in diesem Punkt verdanken wir der kurdischen Bewegung, selbst die Geschlechterparität in der Führungsspitze von HDK und HDP. Sowas gab es in keiner sozialistischen Gruppe der Türkei. Die starke Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen der kurdischen Bewegung hat trotz aller Versäumnisse Früchte getragen.
Du hast insgesamt versucht, ausgegrenzte Gruppen einzubinden.
Ich bin zwar nicht Kurde, aber in Kurdistan geboren, und ich habe die Bewegung aus der Nähe verfolgt. Mit ihren Kadern habe ich im Gefängnis gesessen, war Zeuge der Gründung der PKK. Mir wurde damals klar: Wenn wir nicht mit den VertreterInnen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, den Frauen und oppositionellen Gruppen wie bspw. den LGBT kooperieren, werden wir nichts Neues zu sagen haben.
Aber lässt sich diese Einsicht für den HDK und die HDP verallgemeinern?
Die kurdische Bewegung stand der LGBTCommunity zunächst distanziert gegenüber. Auch ich musste mich hier weiterentwickeln. Ich sage ja, vernagelt! Aber wir haben gelernt. Wir wollten, dass aus dem Wahlblock ein strategisches Bündnis wird, und gründeten den HDK, der auf lokalen Rätestrukturen beruht. Die HDP ist nun dessen parteigewordene Form. Wir versuchen, die Impulse der KurdInnen für den Westen der Türkei zu übersetzen – ein Experiment. Wir unternehmen es, ohne uns etwaiger Fehler zu schämen.
In der Linken wurden Klasse und Identität oft gegeneinander diskutiert – ist das überwunden?
Die Gezi-Proteste haben dieses Denken zuletzt erschüttert. Alle waren im Gezi-Park dabei, auch Leute, die mit politischer Organisierung nichts am Hut haben. Aber als die Proteste von UmweltaktivistInnen angestoßen wurden, hieß es vonseiten einiger Linker: »Kommt uns bloß nicht mit Vögeln und Insekten!« Mittlerweile haben die meisten aber verstanden, dass Identitäts- und ökologische Fragen nicht der Klassenanalyse geopfert werden können. Und uns ist es gelungen zu zeigen, was wirkliche Opposition ist, nicht nur gegenüber der AKP, auch gegen- über der sozialdemokratisch-kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP). Die hat sich hinter ihrem laizistischen Panzer verschanzt und einen extrem verengten Blick auf Politik.
Viele sehen die CHP immer noch mit Hoffnung, zahlreiche Jugendliche organisieren sich dort.
Wie kann so eine Partei noch als links gelten? Die heutige neoliberale Politik hat Erdoğan doch von den Sozialdemokraten. Die CHP organisiert die vorhandene Unzufriedenheit und Angst. Junge Leute schließen sich ihr an, weil sie stark aussieht.
Gerade in anatolischen Kleinstädten sind Andersdenkende aber oft großem Druck ausgesetzt und aufeinander angewiesen. Bündnisse müssen dort breiter sein als in Istanbul.
Als HDP haben wir noch nicht die Stärke, um von all jenen gesehen zu werden, deren Partei wir sein wollen. In vielen Kleinstädten sind wir nicht präsent. Im Kontext von Gezi haben wir aber an Sichtbarkeit gewonnen, das hat sich auch in Stimmen niedergeschlagen. Wir wollen ein Ort sein, wo sowohl Jungs mit Ohrringen als auch zum Beispiel AlevitInnen ohne Angst hinkommen können. Viele AlevitInnen haben übrigens eine tief sitzende Angst vor den Şaafi-KurdInnen, nicht grundlos. Zur Zeit der Republiksgründung haben ihre Vorfahren durch sie furchtbare Gewalt erfahren. Das zu überwinden und sie für uns zu gewinnen, ist nicht einfach, braucht Zeit.
Es gibt eine abstrakte, letztlich eine gegen Kurden gerichtete Ablehnung von Militanz. Viele Leute scheuen deshalb den Kontakt mit der BDP, eurer kurdischen Schwesterpartei. Was tun?
Diese Wahrnehmung müssen wir verändern. Wir sagen: »Uns müsst ihr mit den KurdInnen zusammen mögen. Die BDP ist unser wichtigster Bestandteil. Auf unseren Veranstaltungen werden auch Transparente von Öcalan gezeigt. So sind wir. Und trotzdem müsst ihr kommen.« Das ist schwierig, aber richtig.
Ein berühmtes Foto der Gezi-Proteste zeigt zwei Jugendliche Hand in Hand vor den Wasserwerfern wegrennen – einer mit der Atatürk-, einer mit BDP-Flagge.
Die Zahl der an den Protesten Beteiligten liegt bei nahe vier Millionen – ohne diejenigen mitzurechnen, die auf Töpfe geschlagen haben. Sie haben Verwundete in ihren Häusern versorgt, Menschen sterben sehen, Polizeigewalt erlebt, und sie stehen an der Schwelle zur Selbstaufklärung: Als die Türkei brannte, sahen sie im Fernsehen eine Doku über Pinguine! Das hat ihr Denken verändert. Oft war zu hören: »Die Kurden sagen offenbar die Wahrheit.« Praxis ist ein wichtiges transformatorisches Element.
Gezi hat dem Anliegen des HDK genützt, auf die Verhältnisse im kurdischen Landesteil hinzuweisen. Gleichzeitig sagst du: »Wir sind der Zement der Barrikaden«. Wer hat wem geholfen?
Nun, die Gruppen des HDK waren im Gezi-Park, aber nicht der HDK als politischer Akteur. Als ich dort war, schickte ich eine Nachricht an den HDK, sie sollen mit den Plena aufhören und herkommen. Kein Mensch kam. Aber im Unterschied zur CHP hat diese Eselei des HDK nur zwei Tage gedauert.
Um bei den Möglichkeiten der Bündnisbildung zu bleiben: Es hat eine Öffnung der kurdischen Bewegung fürs Religiöse gegeben.
Die Türkei ist eine gläubige Gesellschaft – ob sunnitisch oder alevitisch. Wir haben die Menschen mit ihrem Glauben den Rechten überlassen. Die haben immer die religiöse Karte gespielt und sind damit an die Macht gekommen. Und wir? Wir haben das Religiöse nicht nur als das ›Andere‹ abgestempelt, wir haben uns auch geweigert, es zu verstehen. Ein türkischer Linker hat alle linken westlichen Quellen gelesen, aber wenn der Islam Thema ist, wird sein Repertoire eng.
Kannst du das ein wenig vertiefen?
Die frühe kurdische Bewegung hatte den Religiösen wenig zu bieten, jetzt haben sie ihnen einen Raum zur Organisierung geöffnet. Aber unter Betonung demokratischer, eigentlich säkularer Werte. Gleichzeitig wird die Organisierung der Frauen vorangetrieben. Es ist fast unmöglich, einen streng Religiösen davon zu überzeugen, da mitzuziehen.
Warum?
Die kurdischen Regionen sind vorwiegend vom Şaafi-Glauben geprägt, in Bezug auf Frauen die konservativste Richtung. In einer so feudalen, männlich geprägten Gesellschaft ist eine weibliche Vorsitzende wie bei uns undenkbar! Das haben die PKK, die kurdischen Männer oder die Linken den Frauen nicht geschenkt. Sie haben es sich erkämpft, mit Zähnen und Klauen.
Was heißt das für eine religiöse Öffnung?
Die Frauenfrage und die religiöse Frage können nicht getrennt werden. Religion ist männerdominiert, immer und überall. Nur indem wir beides zusammenhalten, wird der politische Gegner ausmanövriert.
Ein bedeutender Mobilisierungsschritt waren die zivilen Freitagsgebete...
Ja, das begann 2007. Religion ist gleich Ritual. Und der Koran ist nicht offen für Reformen. Alles, sogar mit welchem Fuß du die Toilette betrittst, wie du Handel treibst, wie du mit deinem Partner schläfst, alles ist dort oder in den Hadithen, der Erzählung über das Leben Mohammeds, geregelt. Und nun stell’ dir vor: Da geht eine Gemeinde in eine Moschee mit ihrem vom Staat eingesetzten Imam. Und du gehst hin und sagst gleich neben der Moschee, auf dem zentralen Platz der Stadt: »So, wir machen jetzt unser eigenes Gebet.« Das ist offener Ungehorsam. Und Frauen, die spielen beim Freitagsgebet eigentlich gar keine Rolle – aber sie sagten: »Wir kommen auch.« Die Orthodoxen wurden fast verrückt.
Kürzlich kritisierte der BDP-Abgeordnete Altan Tan, die HDP kapriziere sich zu sehr auf die Linken. Um die Bewegung zu verbreitern, müsse sie eher fromme Kreise ansprechen.
Die HDP hat sich den Lesben und Schwulen zugewandt. An einigen Orten gab es offen schwul-lesbische KandidatInnen. Zwar würde er niemals deren Diskriminierung befürworten, aber so hatte Altan wohl den Eindruck, dass wir diese sexuelle Orientierung gezielt fördern wollen. Und das hält er für Sünde. Solche Bruchpunkte gibt es und wird es geben.
Die Fragen stellten Mahir Kaplan, Anne Steckner und Corinna Eleonore Trogisch. Aus dem Türkischen von Corinna Eleonore Trogisch.