Ungeachtet der brutalen Abschottungsversuche der «Wohlstandszonen» in Europa findet Migration statt. Zwar ist das «Recht zu bleiben» essenziell. Doch die nachhaltige Beseitigung der Ursachen von Flucht und Vertreibung ist unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen zeitnah nicht zu erreichen. Ohnehin machen Menschen sich auf den Weg, migrieren, seit eh und je, ob freiwillig oder erzwungenermaßen. Die Gründe dafür sind divers und individuell sehr unterschiedlich. Deswegen braucht es Konzepte, die die notwendigen Bedingungen in den Aufnahmegesellschaften herstellen und zugleich die Freizügigkeit der Migrant*innen ermöglichen – damit Migration weder zu verschärfter Konkurrenz führt, noch Migrant*innen zwischen den Ländern in Europa hin- und hergeschoben werden.

Migration anders denken

Was, wenn wir, statt «Fluchtwellen» als Bedrohung zu thematisieren, Migration als Türöffner für gleiche Lebens- und Entwicklungschancen für alle begriffen, als Chance auf radikale Demokratisierung unserer Gesellschaften? Wenn wir Integrationspolitik nicht als gnädige Geste gegenüber Einwanderern, sondern als umfassende Antwort auf gesamtgesellschaftliche Prozesse von Spaltung (der Arbeiterklasse), Polarisierung (der Debatte) und Zerfall (ganzer Ortschaften) verstünden? Wenn Zuwanderung beispielsweise konstitutiv an öffentliche Investitionen gekoppelt wäre? Bildlich gesprochen: Was, wenn jede Person, die in die EU einwandert, im Rucksack einen zweckgebundenen Betrag an öffentlichen Mitteln in das Land mitbrächte, in dem sie kurzfristig Schutz suchen oder sich langfristig ansiedeln möchte? Ein Rucksack als individuelle Starthilfe plus sozialer Investition in die Kommune? Was, wenn anstelle struktureller Finanzierungslücken infolge nicht planbarer Migrationsbewegungen umgekehrt die Budgets den Fußstapfen jedes Einzelnen folgen müssten? Das Prinzip: Wo viele hinziehen, fließt mehr Geld hin.

Anreize statt Abschreckung

Die von den Vorsitzenden der LINKEN bereits 2015 vorgeschlagene europaweite Flucht-Umlage[1] ist diesbezüglich ein bedenkenswerter Vorschlag:

Aus einem europäischen Fonds, in den alle Mitgliedstaaten entsprechend ihrer ökonomischen Stärke einzahlen, erhalten die einzelnen Länder Zuschüsse entsprechend dem Anteil der von ihnen aufgenommenen Menschen. Aufnahmestarken Ländern wird finanziell unter die Arme gegriffen, während aufnahmeunwillige oder für Geflüchtete unattraktive Staaten über die Umlage zur Ausgleichszahlung verpflichtet sind. Der Fonds finanziert sich über eine europäische Vermögensabgabe. An diesem Umlagemechanismus lässt sich ansetzen und – in umgekehrter Blickrichtung – weiterdenken: nicht von der staatlichen Ebene ausgehend, sondern von persönlichen Entscheidungen und individuellen Migrationsbewegungen. Es wäre zu überlegen, wie ein Verfahren aussehen kann, über das der Investitionsrucksack dem Ort der frei gewählten Niederlassung in Europa folgt. So entstünden umgekehrt für die Kommunen als den «zentralen Integrationsmaschinen»[2] gezielte Anreize für die Aufnahme von Geflüchteten und Migrant*innen. 

Einwanderer wären nicht länger Kostenfaktor oder Verhandlungsmasse, sondern potenzielle neue Mitbürger*innen mit eigenen Bordmitteln für die Entwicklung der Kommune. Anstelle des bisherigen Abschreckungswettbewerbs zwischen den EU-Staaten könnte es für die Kommunen in Europa – oder für eine grenzübergreifende Region – attraktiv werden, zum Hotspot von Zuwanderung zu werden. Eine so verstandene Integrationspolitik wäre auch ein Katalysator für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse – laut Grundgesetz (§ 72 GG) eine Verpflichtung der Regierung.

Investitionsrucksack: wofür?

Mit dem Investitionsrucksack ließen sich Sozialleistungen, Sprachkurse sowie Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für die neuen Mitbürger*innen finanzieren, ebenso wie hierfür notwendige Stellen, Wohnungen oder kommunale Infrastruktur: ärztliche Versorgung, Kitas und Schulen, Mobilität, digitale Ausstattung, ökologische Modellprojekte. Es gälte das Prinzip der doppelten Ausstattung: Die personen- und zweckgebundenen Mittel aus dem Rucksack eines jeden Migranten, einer jeden Migrantin, würden über die anfänglichen Kosten für die Aufnahme hinausgehen. Sie wären zu ergänzen durch Mittel für ohnehin notwendige öffentliche Investitionen – beispielsweise, um abgehängte Regionen für potenzielle Neuansiedlung überhaupt erst attraktiv zu machen. Oder um den Handlungsspielraum der Kommunen insgesamt zu erweitern. So könnten sozial-ökologisch produzierende lokale Ökonomien gestärkt werden, auch ansässige Bevölkerungen profitierten von der Belebung. Schließungsbedrohte Schulen und Kitas in strukturschwachen Gegenden bekämen neuen Nachwuchs und könnten ihr Personal aufstocken, zu guten Arbeitsbedingungen und anständigen Löhnen. Indes in urbanen Gegenden, wo Bildungseinrichtungen überfüllt sind, flössen Mittel in die systematische Ausbildung und Qualifizierung von zusätzlichen pädagogischen Fachkräften. Ohnehin gälte es, den öffentlichen Dienst großzügig auszubauen – nicht als billige Beschäftigungstherapie für Erwerbslose und Geflüchtete, sondern als finanziell gut ausgestattete Sofortmaßnahme für die Zehntausenden nötigen neuen Arbeitsplätze mit Tarifbindung. Branchenbezogene Räte aus Gewerkschafter*innen, deutschen und nicht-deutschen Beschäftigten, Erwerbsloseninitiativen sowie kommunalen Amtsträger*innen würden einbezogen in die konkrete Ausgestaltung dieser Arbeitsplätze. Viele andere sinnvolle Investitionsfelder in der Daseinsvorsorge sind denkbar.

Wer hätte Anspruch?

Grundsätzlich müsste jeder ankommende Mensch unabhängig vom Aufenthaltsstatus die Möglichkeit haben, seinen Aufenthaltsort in der EU frei zu wählen und davon abhängig den Investitionsrucksack zu beantragen. Diese Mittel könnten zum Teil individuell ausgegeben werden, in einer Art Gutscheinverfahren – zum Beispiel, um die Kosten für Krankenversicherung und Sprachkurs zu decken und eine Aus- oder Weiterbildung zu finanzieren. Zu einem anderen Teil flössen die Mittel aus dem mitgebrachten Gepäck in öffentliche Investitionen vor Ort, von denen der Neuangekommene ebenso profitiert wie die bereits Ansässigen, zum Beispiel in mehr Kitapersonal, bessere medizinische Versorgung oder in den sozialen Wohnungsbau. Die Mittel wären also anteilig individuell, anteilig strukturell gebunden. Gremien aus den bereits genannten branchenbezogenen Räten, ebenso aus Geflüchteten-Gruppen, Mieter*innen-Initiativen, migrantischen Selbstorganisationen und Vertreter*innen aus der kommunalen Politik müssten sich auf gemeinsame Verfahren verständigen, um mit den Geldern vor Ort politische Prioritäten zu setzen.

Und wie finanziert sich das, wer soll das bezahlen?

Reiche und Vermögende. Sie profitieren am meisten von den globalen Ungleichheiten, haben aus der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007ff. Profite geschlagen und entziehen sich ihren finanziellen Verpflichtungen nicht selten durch Steuerdumping. Das oben erwähnte Konzept der Flucht-Umlage schlägt eine Vermögensabgabe vor. Diese müsste europaweit vereinheitlicht und jährlich erhoben werden, um konstant fließende Mittel zu sichern. Dafür wäre ein EU-weiter Fonds einzurichten. Die konsequente Besteuerung von hohen Einkommen und großen Erbschaften sowie von Finanztransaktionen ist eine weitere denkbare Quelle der Finanzierung. Wenngleich die Einnahmen aus diesen Steuern – rechtlich betrachtet – unterschiedlichen staatlichen Ebenen zustünden, flössen die ausgezahlten Mittel überwiegend in die Kommunen. Das wäre eine politische Gestaltungsentscheidung. Drei Mechanismen griffen somit ineinander: Erstens die horizontale Umlage zwischen den Kommunen entsprechend der Anzahl der sich ansiedelnden Zuwander*innen, sowie zweitens die vertikale Umverteilung der Gelder von oben nach unten. Eine rein horizontale Umlage zwischen den Kommunen ohne zusätzliche staatliche Einnahmequellen käme der finanziellen «Bestrafung» abgehängter Gebiete und klammer Gemeinden gleich. Drittens geht es um die politische Verschiebung der Finanzierung des Gemeinwesens und der menschlichen Grundbedürfnisse von privat zu öffentlich. Über eine zusätzliche Staffelung der Gelder an die Kommunen gemäß ihrer Finanzlage wäre genauer nachzudenken, als Ausgleich zwischen reicheren und ärmeren Kommunen innerhalb Europas. So könnten Migrant*innen, die in besonders gebeutelte Gemeinden ziehen möchten, beispielsweise einen größeren Rucksack mitbringen als diejenigen, die die ohnehin dynamischen urbanen Hotspots aufsuchen. Analog ließe sich dieses Finanzierungsmodell übrigens auch innerstaatlich anwenden.

Welche weiteren Vorschläge gibt es?

In eine ähnliche Richtung, finanziell anders untersetzt, geht die Initiative «Europäische Flüchtlingsintegration als gemeinsame kommunale Entwicklung» von Gesine Schwan.[3] 

Sie schlägt die Einrichtung eines Fonds vor (für Pilotprojekte zunächst finanziert aus bestehenden Resettlement- und Relocation-Mitteln, ggf. ergänzt um zinslose Kredite der Europäischen Investitionsbank), auf den sich europäische Kommunen mit einem Konzept für die Aufnahme von Geflüchteten bewerben können. Schwan möchte Pilotprojekte anstoßen, damit die Städte und Gemeinden – unabhängig von ihren nationalen Regierungen – neue Wege ausprobieren und Erfahrungen sammeln können. «Schwan setzt auf starke Netzwerke aus staatlichen und zivilen Strukturen, die eine nachhaltige Strategie für die Aufnahme vor Ort entwickeln und so eine ‹Nachfrage von unten› generieren. Schwan hat auch erkannt, dass die nationalen Regierungen momentan zu große Angst vor ihren rechten Parteien und Bewegungen haben, als dass sie fähig wären, eine humane Migrationspolitik zu gestalten. In den Städten scheint es dagegen Handlungsspielräume zu geben, die ausgelotet und mobilisiert werden», so Helene Heuser von der Refugee Law Clinic Hamburg.[4] 

Auch hier gälte eine Art doppeltes Ausstattungsprinzip: «Gemeinden, die freiwillig Flüchtlinge aufnehmen und integrieren, sollen nicht nur die bei der Flüchtlingsaufnahme entstehenden Kosten erstattet bekommen», schreibt Schwan, «sondern darüber hinaus auch Mittel erhalten, die sie für die Verbesserung der kommunalen Infrastruktur (Schulen, Verwaltung, Gewerbeförderung) verwenden können.»[5] 

Das Bedenkenswerte: Es entstünden Initiativen über die Kommunen, deren Handlungsspielraum in der Asyl- und Migrationspolitik deutlich gestärkt würde. Allerdings können Geflüchtete nach diesem Modell nicht selbst über ihren Aufenthaltsort entscheiden, vielmehr stellt sich Schwan eine Art Kontaktbörse zwischen aufnahmewilligen Gemeinden und Geflüchteten vor. Die Gefahr besteht, dass entgegen anderer Absichten (dezentral, Interessensausgleich und bottom up) letztlich doch über die Köpfe der Ankommenden hinweg entschieden wird bzw. die Kommunen sich «ihre» Flüchtlinge passgenau aussuchen. Zudem liegt der Fokus auf Flucht und Asyl, für «Wirtschaftsflüchtlinge» sollen die Vorschläge nur «gegebenenfalls» gelten. Von freiwilliger Migration ist nicht die Rede. Dennoch: Schwans Initiative ließe sich mit dem Investitionsrucksack verbinden – beispielsweise, indem besonders engagierte Kommunen einen Extrabetrag erhielten.

Wie kann der Investitionsrucksack Teil einer linken Strategie zu Migration sein?

1. Gesellschaftliche Konfliktlinien verschieben

Die von der AfD und ihrem politischen Umfeld gezogenen Trennlinien – «wir Deutsche» gegen «die Migranten», «wir Leistungsträger» gegen «die Einwanderer in die Sozialsysteme», «innen» gegen «außen»[6]– sind wirkmächtig, solange es nicht gelingt, die Konfliktlinien entlang von Lebenslagen und Interessen (statt von Volk oder Standort) zu bündeln:

Wer leidet, wer profitiert von der Politik der sozialen Spaltung? Die diskursive und praktische Herausforderung besteht darin, die Achse der gesellschaftlichen Konflikte zu verschieben. Um einerseits die Gemeinsamkeiten zwischen hier Geborenen und Zugewanderten zu identifizieren: Was braucht jede*r von uns zum guten Leben, egal ob aus München, Magdeburg oder Mossul? Um andererseits das vorhandene Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem «Wir» mit emanzipatorischen Inhalten zu füllen: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Was zeichnet sie aus? Der Investitionsrucksack wäre ein Instrument, das die Spaltungen zwischen «deutsch» und «nicht-deutsch», zwischen «zugezogen» und «alteingesessen» praktisch durchkreuzt und die materiellen Grundlagen schafft, um sich auf Augenhöhe über gemeinsame Interessen verständigen zu können.

2. Die «soziale Offensive für alle» ist antirassistische Politik

Die Linke steht vor der Herausforderung, die Debatte um Migration und Integration in eine Diskussion über soziale und politische Rechte und über konsequente Demokratisierung zu übersetzen. Dies umso mehr, als die Herrschenden dem Dogma von Abschottung (nach außen) und schwarzer Null (nach innen) verhaftet bleiben. So lassen sich die akuten Probleme höchstens zeitweilig unterdrücken oder verschieben. Denn dass Geflüchtete auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt in Konkurrenz zu «einheimischen» Geringqualifizierten gebracht werden – übrigens besonders zu den Migrant*innen unter ihnen –, birgt gesellschaftlichen Sprengstoff. Dass die Sozialsysteme mittelfristig nicht auf große Zahlen von Neuankommenden eingestellt sind, offenbart nur die Dringlichkeit der Forderung nach gleichen sozialen Rechten, nach Bildung, Wohnen und Gesundheitsversorgung für alle hier Lebenden und noch Kommenden. Diese Forderung mit der Legalisierung und — aufgrund von Abschiebungen auch in links regierten Bundesländern — einem Bleiberecht für Illegalisierte zu verknüpfen, steckt das Feld antirassistisch-sozialer Kämpfe ab. In diesem Sinne ist die bereits vor den gestiegenen Flucht- und Migrationsbewegungen lautstark geforderte Abkehr von der Schuldenbremse, von der schwarzen Null und vom Schutz der Vermögenden weiterhin richtig und hat an Dringlichkeit noch gewonnen: Ohne spürbare Umverteilung von oben nach unten und ohne umfassende Investitionen in öffentliche Infrastruktur, in Arbeitsplätze und in den sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft wird kein wirklicher politischer Gestaltungsspielraum zu gewinnen sein. Die daraus entwickelte «globale soziale Offensive für alle» ist kein rhetorischer Papiertiger, sondern ein ausbuchstabiertes und durchgerechnetes Programm der Partei DIE LINKE.[7] Der Investitionsrucksack könnte Teil davon sein.

3. Mehr für Geflüchtete ist besser für uns alle

So kann DIE LINKE ihr Profil als Partei der 99 Prozent stärken. Die Botschaft: Wenn wir uns gemeinsam für die Rechte der Schwächsten starkmachen, nutzt das letztlich uns allen. Denn dann ist jede*r Einzelne weniger erpressbar und die Position aller Lohnabhängigen gegenüber «denen da oben» stärker. Umgekehrt führen zum Beispiel Massenunterkünfte oder billige Wohncontainer für Geflüchtete dazu, dass in der Wohnungsfrage Substandards für alle durch die Hintertür eingeführt werden.[8] 

Wer garantiert, dass nicht demnächst auch Hartz-IV-Bezieher*innen in Container umziehen müssen, wenn sie ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können? Oder dass der Mindestlohn wieder abgeschafft wird, wenn Geflüchtete jetzt schon für weniger arbeiten müssen? Mit anderen Worten: Die Situation der am meisten Bedrängten ist auch ein politischer Hebel, um die gesellschaftliche Mitte unter Druck zu setzen, sie letztlich zu entrechten. In diesem Sinne hat die linke Botschaft – Solidarität ist auch wohlbegründetes Eigeninteresse – einen durch und durch rationalen Kern. Und mittelfristig müssten die Sozialsysteme und die Daseinsfürsorge nicht mehr national, sondern europäisch aufgebaut und untersetzt werden. Denn angesichts transnationaler Migrationsbewegungen gerät das nationalstaatliche Arrangement des Klassenkompromisses – ich unterwerfe mich den Regeln der Arbeitswelt, dafür genieße ich die damit verbundenen sozialstaatlichen Leistungen und öffentliche Infrastruktur – zunehmend unter Druck und befördert rassistische oder wohlstandschauvinistische Ausgrenzungsdiskurse. Transnationale Solidarität kann besser gedeihen, wenn es gleiche soziale Rechte für alle gibt.

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