Mit der sozialen Ungleichheit wuchs in den vergangenen drei Jahrzehnten die politische Ungleichheit. Nach der Bundestagswahl 2013 schlug die Bertelsmann Stiftung Alarm wegen möglicher Gefahren für die demokratische Legitimität: »Das demokratische Versprechen der Gleichheit aller bleibt uneingelöst« (Vehrkamp/Hierlemann 2013, 3). »Bei der Bundestagswahl 2013 [kamen] überproportional viele Nichtwähler aus den sozial prekären Milieus. Ihre Meinungen, Präferenzen und Interessen sind im Wahlergebnis unterrepräsentiert. Die Bundestagswahl 2013 war deshalb eine sozial prekäre Wahl« (Tillmann/Gagné 2013, 6). Dieser Befund stützte sich auf eine breite empirische Basis. Gibt es ein neues Klassenwahlverhalten der unteren sozialen Schichten?

Noch bis zur Wahl 2009 galt als herrschende Meinung unter deutschen Wahl- und DemokratieforscherInnen, dass eine sinkende Wahlbeteiligung keine nachhaltigen Auswirkungen auf die demokratische Qualität der Repräsentation habe. NichtwählerInnen verteilten sich über alle sozialen Schichten, hätten vielfältige Motive und kämen aus allen Parteilagern. Die bei nach 1965 Geborenen sinkende Wahlbeteiligung wurde mit einer abnehmenden Verinnerlichung der »Wahlnorm« und fortschreitender »Individualisierung« der Lebensverhältnisse erklärt. Wenig Gehör fanden Analysen, die auf eine ungleiche soziale und räumliche Verteilung der NichtwählerInnen und eine soziale Schieflage in der Partizipation hinwiesen.

Eine breitere Öffentlichkeit hatte anlässlich der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung »Politische Milieus in Deutschland« (Neugebauer 2007) über den Zusammenhang von sozialer Lage, politischer Milieubildung und Partizipationsverhalten diskutiert. Die Studie sollte herausfinden, welche sozialen Schichten nach dem Ende der Schröder-Fischer-Ära für sozialdemokratische Politik zu gewinnen seien. Wenig Rückhalt wurde bei der klassischen Klientel sozialdemokratischer Politik, den sozialen Unterschichten, vermutet. Die Angehörigen der »Unterschicht«, immerhin 26 Prozent der Bevölkerung, »rechnen sich kaum noch Aufstiegschancen aus« (ebd., 46). Prägend seien Gemeinsamkeiten wie »aus sehr einfachen Verhältnissen«, »einfache bis mittlere Schulbildung«, »einfache und mittlere Tätigkeiten, eher traditionelle Arbeitsverhältnisse«; damit einhergehend »Politikinteresse, politisches Kommunikations- und Teilhabeverhalten unterdurchschnittlich«, »ausgesprochen politikfern«, »hoher Anteil von Nichtwählern« (ebd., 79ff). Parteien und Politik würden »konkret nach dem persönlichen Nutzen ihrer Politik für den Einzelnen beurteilt« (ebd., 32). Wer diese Schichten, unter ihnen das dann vielzitierte »abgehängte Prekariat« (Neugebauer), als WählerInnen mobilisieren wolle, müsse mit Versprechungen aufwarten, die nur durch eine erweiterte Umverteilungspolitik finanziert werden könnten. Bei den weniger politikfernen und partizipationsbereiteren WählerInnen aus der Mittel- und Oberschicht erhöhe diese Orientierung wiederum die Gefahr von Wählerabwanderung. Folglich rückten die Anliegen des unteren Drittels auf der politischen Agenda weiter nach hinten, was wiederum dort die Sichtweise bestätigte, dass sich Wählengehen nicht rechne. Die Neugebauer-Studie näherte sich der Frage nach einem neuen Klassenwahlverhalten. Die SPD erzielte 2009 ihr schlechtestes Ergebnis der deutschen Nachkriegsgeschichte, gleichzeitig war die Wahlbeteiligung so niedrig wie nie.

Das sozialdemokratische Debattenmagazin Berliner Republik publizierte 2011 dann einen Beitrag von Guy Standing, in dem er mit Blick auf die damaligen Unruhen und Brände in britischen Städten konstatierte, dass »eine neue gefährliche Klasse« entstanden sei, eine »Klasse im Werden, zersplittert in frustrierte und verbitterte Gruppen, jedoch verbunden in ihren Unsicherheiten und Ängsten« (Standing 2011). Teile wendeten sich der extremen Rechten zu, andere drifteten in anarchisches Verhalten oder politische Abstinenz ab, und weitere sehnten eine grüne Sozialdemokratie herbei (ebd.). Übersetzt auf die deutschen Verhältnisse implizierte dies die Frage, ob und welche anderen Formen der Artikulation ihrer Wünsche und Erwartungen die prekarisierten Nichtwählerschichten in Deutschland finden würden.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung adressierte sie nun als »Wähler im Wartestand« und beauftragte 2012 das Forsa-Institut mit der Durchführung einer Nichtwählerstudie. Sie unterschied zwischen dauerhaften, gelegentlichen und einmaligen NichtwählerInnen und lieferte eine Vorlage für den Haustürwahlkampf der SPD 2013 (Güllner 2013). Gezielt sollten von der SPD enttäuschte WählerInnen persönlich abgeholt werden. Diese Strategie scheiterte. Ein großer Teil der gesunkenen Wahlbeteiligung ist eben kein Phänomen politischer Konjunkturlagen oder individueller ›Politikverdrossenheit‹, sondern Ergebnis sich sozial festsetzender Einstellungen und Haltungen zum institutionellen politischen Betriebssystem.

Die Bertelsmann Stiftung richtete unter dem Titel »Gespaltene Demokratie« (Petersen et al. 2013) ihr Augenmerk auf diese soziale Bedingtheit der Wahlabstinenz und orientierte auf das soziale Wohn- und Lebensumfeld. Zur Bundestagswahl finanzierte sie das Projekt »Prekäre Wahlen«, dass die Wahlergebnisse für 28 Großstädte auf der Ebene von Stimmbezirken für soziale Indikatoren wie Arbeitslosigkeit, Wohnqualität und Einkommen analysierte (Schäfer et al. 2013).

Es zeigte sich eine Wahlbeteiligungsspannbreite von bis zu 40 Prozent in den Stimmbezirken einer Stadt. Die Unterschiede korrelierten vor allem mit Arbeitslosigkeit und Bildung. Je niedriger der Anteil der Arbeitslosen in einem Stimmbezirk und je höher der Anteil der Abiturienten, desto höher fiel die Beteiligung aus. »Es sind nicht nur deprivierte ›Problemviertel‹ in Großstädten, wo weniger Menschen das Wahlrecht ausüben, sondern insgesamt benachteiligte Wohngegenden. […] Dieses Phänomen tritt nicht allein in den sogenannten großstädtischen Problembezirken auf, sondern ist immer dort zu finden, wo soziale Benachteiligungen kumulieren – auf dem Land wie in der Großstadt, im Osten und im Westen Deutschlands gleichermaßen« (Schäfer/Roßteutscher 2015, 114 u. 116). Es sind nicht die einzelnen sozialstrukturellen Merkmale, die politisches Verhalten hervorbringen. ›Prekäre‹ gehen nicht seltener wählen, weil sie erwerbslos sind, weil ihr Einkommen gering oder weil ihr sozial- und arbeitsrechtlicher Status weniger oder gar nicht geschützt ist. Erst die sozialräumliche Häufung, Verdichtung dieser Merkmale schafft einen kollektiven Kommunikations- und Erfahrungsraum. Nur dort, wo es ihn gibt, wo NichtwählerInnen bevorzugt auf NichtwählerInnen treffen, wo langjährige soziale Erfahrungen kommuniziert und verarbeitet werden zu einer Sichtweise auf das System von Gesellschaft und Politik und die eigene Stellung darin, nur dort werden Einstellungen zu Wahlen und politischer Partizipation generell neu gebildet.

›Prekarisierung‹ als Sammelbegriff für arbeits- und sozialrechtliche Merkmale und Einkommens- und Lebenslagen bildet diese Prozesse unzureichend ab, nicht zuletzt, weil es ihm an einer Raum- und einer Zeitachse fehlt. Mindestens drei große kollektivierte Erfahrungen spiegeln sich in der seit den 1980er Jahren anwachsenden sozialen Schieflage im Wahlverhalten: erstens die Entwertung industrieller Qualifikationen und daran gebundener sozialer Positionen, zweitens die »Rückkehr der Proletarität« (Karl-Heinz Roth) und die Erfahrung des sozialen Ausschlusses, insbesondere für Jugendliche mit geringen Schulzeiten, und drittens die Erfahrung insbesondere der Kinder aus sozialen Aufsteigermilieus, dass auch lange Bildungszeiten, gute Qualifikationen und eine Nähe zu den modernen Produktivkräften in der ›Wissensgesellschaft‹ keinen Zugang zu guten Arbeitsplätzen garantieren, Stichwort etwa: ›Generation Praktikum‹. Die sozialen Erfahrungen bestehen nebeneinander fort und führen zu teilweise auch sozialräumlich deutlich getrennten Alltagswelten der ›Prekarisierung‹, etwa in Berlin (vgl. vom Berge 2014).

Die Studien der Bertelsmann Stiftung und andere Analysen zur Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl spüren diesem sozialräumlich, nicht betrieblich gebundenen ›Klasse-Werden‹ nach. Eine Analyse, die politische, soziale und räumliche Dimensionen unterschied, kommt zu dem Schluss, dass die »individuelle Klassenlage« nur dann einen Einfluss auf die Wahlbeteiligung hat, wenn »soziale und räumlich-kommunikative« Eigenschaften hinzukommen. »Höchst einflussreich war auch die persönliche Einschätzung des Verhaltens in der Nachbarschaft.« Wer glaubt, dass in der Nachbarschaft fast niemand wählt, bleibt mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls fern, und umgekehrt (Lamers/Roßteutscher 2015, 119).

Individuell erfahrene Prekarisierung allein führt noch zu keiner Änderung im Partizipationsverhalten, erst die quasi kollektive Bearbeitung in Nachbarschaften – und ihre Einordnung in die soziale Herkunft. Die statistische Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit oder Armut und politischem Engagement hat ihre Ursache nicht im Eintritt von Arbeitslosigkeit oder Armut, »die politische Teilhabe wird davon nicht nachhaltig verändert«. Vielmehr gründe der Zusammenhang auf »die soziale Herkunft, die sowohl zu Nachteilen bei Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiko als auch zu politischer Inaktivität führt« (Kroh/Könnecke 2013, 12f). Offen blieb, inwieweit mehrjährige Arbeitslosigkeit beziehungsweise Transferabhängigkeit zur Abwendung von politischer Partizipation führt.

Der Hinweis auf sich sozial vererbende Klassenlagen und -haltungen korrespondiert mit dem schon etwas älteren Befund, dass die soziale Aufstiegsmobilität gerade für die unteren sozialen Klassen deutlich gesunken ist. »Einmal Unterschicht – immer Unterschicht«, diese Haltungen breiten sich erneut aus. Nicht die sozial- und arbeitsrechtliche Prekarität prägt das Partizipationsverhalten. Die gut gebildeten »prekären Kreativen« sehen den eigenen prekären Status eher als vorübergehend, das spätere Einrücken in den sozialen Klassenstatus der Eltern aufgrund der eigenen Ressourcen als wahrscheinlich. Das sozialräumliche Zusammenkommen von materieller Prekarität und formal niedrigem Bildungsgrad prägt die Tendenz zu sinkender Wahlbeteiligung. »Je niedriger der durchschnittliche Bildungsgrad in einem Stadtviertel ist, desto niedriger fällt die Wahlbeteiligung aus« (Schäfer/Roßteutscher 2015, 108). Selbst die seit den 1990er Jahren sinkende Wahlbeteiligung Jüngerer lässt sich unverkennbar auf den Bildungsgrad und somit auf die Herkunft zurückführen (Lamers/Roßteutscher 2014, 122).

Handelt es sich bei der sozialen Spaltung der politischen Partizipation um ein auf sozialräumliche »Milieus« und damit um auf lokal abgrenzbare Viertel (»soziale Brennpunkte«) begrenztes Phänomen oder finden sich darin Spuren eines veränderten Klassenwahlverhaltens, also eines Zusammenhangs zwischen der »berufliche(n) Stellung – Lohn- versus Gehaltsempfänger, Beschäftigte mit und ohne Aufsichtsfunktion, weisungsgebundene versus selbstbestimmte Tätigkeiten« (Schäfer 2015, 123)? Es galt in der Wahlforschung lange Zeit als gesichert, dass die Klassenlage immer weniger Einfluss auf das Wahlverhalten habe, dass ArbeiterInnen zum Beispiel nicht mehr bevorzugt SPD wählen. Bezieht man jedoch nicht nur WählerInnen, sondern auch NichtwählerInnen in die Analyse ein, ist das Bild ein anderes: »Wie man wählt, hängt weniger eng mit der Klassenlage zusammen, aber ob man wählt dafür umso stärker« (Schäfer 2015, 123). »Weder der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft noch das Aufkommen postmaterieller Werte haben das Wahlverhalten von der Klassenlage gelöst« (ebd., 144). In der Arbeiterklasse sei die Nichtwahlneigung überdurchschnittlich ausgeprägt und wiederum im unteren Einkommensdrittel der ArbeiterInnen deutlich stärker als beim oberen (ebd., 136). Der von der Klassenlage geprägte Abschied aus der Demokratie wird mit wachsender sozialräumlicher Entmischung in den Städten anhalten und wachsen.

Die Bertelsmann Stiftung hält fest, dass dort die Wertorientierungen der Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft nicht mehr nach unten durchdringen und spricht von »einer spaß- und erlebnisorientierten Unterschicht, die sich den Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft verweigert« (Tillmann/Gagné 2013, 3). Die Parteien seien gefordert, nicht nur dort »ihre Parteiarbeit und Wahlkampfaktivitäten [anzubieten], wo sie auf Nachfrage stoßen« (Vehrkamp/Hierlemann 2013, 4).

Passgenauere politische »Angebote« für einen »Wählermarkt« werden wenig ausrichten, wo kaum jemand seine Stimme zu Markte tragen will. Das kommunikativ entwickelte kollektive Gefühl, in der eigenen Lebenslage nicht erkannt, geschweige denn repräsentiert zu sein, dass zudem die eigene Meinung nichts wert sei und eigene Einflussmöglichkeiten nicht vorhanden seien, gehört zu den Grundelementen des neuen Wahlverhaltens von Klassen, die in der deutschen politischen Sprache bislang keinen Namen haben und daher als Subjekte nicht präsent sind.