Im Folgenden geht es im Wesentlichen um zwei Punkte: zum einen kann die erstaunliche Anziehungskraft von Bernie Sanders’ Wahlkampf nur angemessen verstanden werden, wenn wir begreifen, dass und in welcher Hinsicht der neoliberale Hightech-Kapitalismus sich in einer Hegemoniekrise befindet und wie diese die Erwartungen und Haltungen der Bevölkerung in den USA beeinflusst; zum anderen will ich zeigen, wie Sanders wirksam in diese Hegemoniekrise eingegriffen und die Koordinaten ihrer Verarbeitung im Alltagsverstand nach links verschoben hat. Auch wenn er nicht der Kandidat der Demokratischen Partei geworden ist, hat er die ideologischen Verhältnisse in den USA zum Tanzen gebracht und die Möglichkeit eröffnet, eine demokratisch-sozialistische Perspektive zu entwickeln und im Alltagsverstand tragfähig zu verankern.

Was ist eine Hegemoniekrise?

Es war bekanntlich der italienische Marxist Antonio Gramsci, der in den 1930er Jahren im faschistischen Gefängnis den theoretischen Begriff der Hegemonie entwickelte, um mit seiner Hilfe zu analysieren, wie die modernen kapitalistischen Gesellschaften nicht nur durch staatliche Repression (militärisch oder polizeilich) oder durch den von Marx untersuchten „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (MEW 23, 756) geschützt sind, sondern auch durch eine Reihe hegemonialer Apparate zusammengehalten werden, die die ideologische Unterstellung der subalternen Klassen unter die Klassenherrschaft organisieren. In den entwickelten westlichen Ländern ist Repression kunstvoll mit der Herstellung von Konsens verbunden, und beide Seiten arbeiten im Tandem – »Hegemonie, gepanzert mit Zwang« (H. 6, §88, 783; §155, 824). Dem Kapitalismus gelingt es in der Regel, über seine ideologischen Apparate und organischen Intellektuellen die Subjekte zu produzieren, die das sie ausbeutende und unterdrückende System akzeptieren und unterstützen, und wenn sich Oppositionsbewegungen herausbilden, ihnen mithilfe einer „passiven Revolution“ das Wasser abzugraben, ihre Führer zu kooptieren oder durch die teilweise Übernahme oppositioneller Forderungen ihre Organisationen überhaupt zu integrieren (z.B. H. 8, §36, 966; H. 10.II, §41.XIV, 1330).

Zu einer Hegemoniekrise kommt es, wenn diese ideologische Reproduktion der Klassengesellschaft ins Stocken gerät, indem z.B. der herrschende Machtblock in wichtigen Fragen gespalten ist, eine massenhafte Unterstützung der subalternen Klassen nicht mehr nachhaltig aufrechterhalten, die Arbeiter und relevante Teile der Mittelschichten nicht mehr integriert werden können. Dies kann zu einer Dyshegemonie führen, bei der „das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann“: die wirtschaftlichen und politischen Eliten haben den gesellschaftlichen Konsens verloren, sind nicht mehr aktiv „führend“, sondern nur noch „herrschend“, während die Massen skeptisch gegenüber allgemeinen Formeln geworden sind (H. 3, §34, 354). Dabei insistiert Gramsci, dass eine hegemoniale Krise keineswegs eine unmittelbare Folge einer Wirtschaftskrise ist. Entgegen weitververbreiteter Annahmen eines bevorstehenden Zusammenbruchs des Kapitalismus hielt er es für ausgeschlossen, dass Wirtschaftskrisen „von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen“, sie können nur einen „günstigeren Boden“ für die Verbreitung bestimmter Sichtweisen und Lösungsvorschläge bereiten (H. 13, §17, 1563). In der Regel sei die herrschende Klasse in der Lage, sich mithilfe ihrer zahlreichen gut ausgebildeten Kader an die neue Konstellation anzupassen, einige Opfer zu bringen und auf diese Weise die Lage, die ihr zu entgleiten drohte, wieder unter Kontrolle zu bringen (H. 13, §23, 1578). Zu einer progressiven Wende kann es nur kommen, wenn es den subalternen Klassen, ihren Intellektuellen und Organisationen gelingt, in die Widersprüche der Zivilgesellschaft zu intervenieren und eine tragfähige Gegenhegemonie zu konstruieren. Vor jeder Eroberung der Staatsmacht müssen sie die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit gewinnen, was wiederum erfordert, dass sie ihre linke Aufklärung in enger Tuchfühlung mit dem Alltagsverstand der Bevölkerung entwickeln.

In welchem Sinn kann man heute von einer Hegemoniekrise in den USA sprechen?

Als die Wirtschaftskrise im September 2008 ausbrach, schienen die neoliberalen Eckpfeiler Deregulierung, Privatisierung und Freihandel diskreditiert. Aber Obama konnte die Präsidentschaftswahlen mit einem zentristischen Wirtschaftsprogramm gewinnen, das die neoliberale Hegemonie nicht infrage stellte. Seine Regierung platzierte mit Larry Summers und Tim Geithner gerade diejenigen an wirtschaftspolitische Schlüsselstellen, die für die Deregulierung der Finanzmärkte maßgeblich verantwortlich waren. Die Entscheidung, die zusammengebrochenen Großbanken zu retten, ohne irgendwelche Bedingungen zu stellen, erzeugte eine allgemeine Empörung, die Thomas Frank als „populistischen Moment“ beschrieben hat (2012, 34, 39, 167f). Freilich wurde die populistische Wut nahezu ausschließlich von der rechten Tea Party-Bewegung artikuliert, die die Unzufriedenheit von „Wall Street“ auf „Washington“, von den Großbanken auf die Bundesregierung umlenkte. Bis zu Beginn von „Occupy Wall Street“ (OWS) im September 2011 hatte man den Eindruck, die Tea Party sei die einzige dynamische und ausgreifende Bewegung. Einige Wochen später sah alles anders aus. Ende Oktober wurde eine Meinungsumfrage veröffentlicht, derzufolge 43 Prozent der Befragten mit dem Protest von OWS sympathisierten, gegenüber einer Zustimmungsrate von 9 Prozent für den Kongress. Weitere fünf Jahre später sahen wir den außerordentlichen Erfolg sowohl der Bernie Sanders-Kampagne als auch der von Donald Trump.

Ein solches Ausschlagen des Pendels nach links und rechts ist ein erstes Anzeichen für eine Hegemoniekrise. Die Flitterwochen neoliberaler Hegemonie sind schon seit geraumer Zeit vorbei. Obwohl der Neoliberalismus von Beginn an gewaltförmig aufgetreten ist, und dies nicht nur in der Pinochet-Diktatur in Chile, sondern z.B. auch bei Thatchers and Reagans brutaler Zerschlagung der Gewerkschaften, gab es auch eine hegemoniale Aufbruchphase. Auf der Grundlage der neuen Informationstechnologien konnte die neoliberale Ideologie die Imagination großer Teile der Jugend ergreifen, die sich einen schicken und kreativen Job in der IT-Branche ausmalten. Nach dem Platzen der dot.com Blase und dann vor allem nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 hat sich dieser Enthusiasmus verflüchtigt. Während die Berufsaussichten sich verschlechtern und Schulden ansteigen, berichten Umfragen übereinstimmend, dass die Zukunftserwartungen düsterer geworden sind. Der neoliberale Kapitalismus hat seine ideologische Fähigkeit zu aktiver Subjektmobilisierung weitgehend eingebüßt. Das heißt natürlich nicht, dass wir vor einem Zusammenbruch des Kapitalismus stehen, oder dass dieser sich nur noch durch ökonomischen Druck und Repression reproduzieren kann. Aber die gewaltförmigen, disziplinären und panoptischen Tendenzen treten deutlicher hervor (vgl. Bakker and Gill 2003, 116ff). In den von Großkonzernen beherrschten Medien dominiert die Manipulation. Soweit es noch Zustimmung zum Neoliberalismus gibt, ist es v.a. ein passiver Konsens, hervorgerufen durch den wahrgenommenen Mangel an einer attraktiven und realistischen demokratisch-sozialistischen Alternative.

Diese Hegemoniekrise äußert sich auch als Krise der politischen Repräsentation. Die sogenannte politische Mitte hat an hegemonialer Zugkraft verloren. Wer in den Vorwahlen als Vertreter des neoliberalen Status quo wahrgenommen wurde, konnte keinen Enthusiasmus und keine Massenmobilisierung hervorrufen. Dies gilt nicht nur für Mainstream-Kandidaten der Republikanischen Partei wie Jeff Bush oder Marco Rubio, sondern auch für Hillary Clinton, deren Wahlkampf übereinstimmend als „freudlos“ beschrieben wird. Dagegen füllten Bernie Sanders and Donald Trump die Stadien mit Massen begeisterter Anhänger. Wir können diese widersprüchliche Tendenz in vielen entwickelten kapitalistischen Ländern beobachten. Von der Hegemoniekrise des Neoliberalismus profitieren entweder eine populistische Rechte oder ein neuer Linkspopulismus, getragen von einem neuen Typus von „verbindender Partei“[1]: rechtsextreme und islamophobe Parteien sind auf dem Vormarsch z.B. in Frankreich, Österreich, Schweiz, auch in Deutschland mit der AFD; dagegen konnte Syriza in Griechenland von einer 2 Prozent-Partei zu einer linken Volkspartei aufsteigen und die Mehrheit gewinnen, in Spanien ging aus der Bewegung der Indignados die politische Formation Podemos hervor, die das Volk gegen die Oligarchie, la gente gegen la casta mobilisiert. Zumindest längerfristig kann der Rechtspopulismus nur mit einem aggressiven Linkspopulismus der 99 Prozent zurückgedrängt werden (vgl. die Analyse von Solty/Werner 2016). Die Strategie der Führung der Demokratischen Partei, Trumps rechtspopulistische Agitation mit Hillary Clintons neoliberalem Mittelweg schlagen zu wollen, ist eine sehr gefährliche Wette, die leicht dazu führen kann, das Land einer extrem autoritären und rassistischen Variante des Neoliberalismus auszuliefern.[2]

Verschiedene Schichten im Alltagsverstand des Volkes

Die gegenwärtige hegemoniale Landschaft lässt sich mithilfe von Gramscis Begriff des Alltagsverstands (senso comune) analysieren. Dieser ist für Gramsci durch seine widersprüchliche und inkohärente Zusammensetzung gekennzeichnet, deren sich die Menschen zumeist nicht bewusst sind. Er ist „zufällig und zusammenhangslos“, man gehört gleichzeitig zu einer „Vielzahl von Massenmenschen, die eigene Persönlichkeit ist auf bizarre Weise zusammengesetzt“, in ihr finden sich „Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zueigen sein wird.“ (H. 11, §12, 1376) Den organischen Intellektuellen der subalterrnen Klassen stellt Gramsci die Aufgabe, kritisch an der Kohärenz des Alltagsverstands zu arbeiten. Ausgangspunkt dieses Kohärent-Arbeitens ist ein „gesunder Kern“ des Alltagsverstands, den Gramsci als „gesunden Menschenverstand“ (buon senso) bezeichnet und durch realistische Realitätsbeobachtung und „Experimentiergeist“ definiert (H. 10.II, §48; H. 11, §12, 1376f).[3] Ich sehe diese konstruktiv-kritische Herangehensweise als eine demokratisch-sozialistische Alternative zur damaligen, seit Kautsky und Lenin im Marxismus vorherrschenden Vorstellung, das politische Klassenbewusstsein könne den Arbeitern „nur von außen gebracht werden“ (vgl. hierzu Rehmann 2011, 57f, 87).

Fragt man danach, wie sich die Wirtschaftskrise in den Alltagsverstand „übersetzt“, kann man ohne allzu große Vereinfachung drei hauptsächliche Verarbeitungsweisen unterscheiden. Die erste folgt der vorherrschenden neoliberalen Ideologie, der zufolge das Hauptproblem in den außer Kontrolle geratenen Staats- und v.a. Sozialausgaben und in zu hohen Löhnen besteht. In dieser Verarbeitung setzt sich zunehmend eine autoritäre und aggressive Variante durch, die die allgemeine Unzufriedenheit mit der Verschlechterung der Lebensverhältnisse gegen noch schwächere „Andere“, gegen Flüchtlinge, Moslems, Mexikaner, Feministinnen, gegen Arbeitslose, Arme und „Minderheiten“ aller Art wendet, zugleich auch gegen „privilegiertere“ Feindbilder wie die „liberalen Eliten“ in der Kulturindustrie oder die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Eine zweite Verarbeitungsweise ähnelt mehr dem, was Gramsci als „gesunden Menschenverstand“ bezeichnet hat. Sie erkennt die zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich und identifiziert sie als nicht tragfähig und unmoralisch. Die Empörung wendet sich gegen „Habgier“ und „Betrug“ der Eliten, die teilweise primär psychologisch als schlechte Charaktereigenschaften, teilweise aber auch strukturell als Ausprägung des neoliberalen Kapitalismus, vor allem seines spekulativen Finanzsektors interpretiert werden. Während die Superreichen immer mehr Vermögen anhäufen und sich zusätzlich durch Steuerflucht und Bestechung auch noch illegal bereichern, akkumulieren Arbeiter und Mittelschichten nur Schulden, nicht zuletzt die Collegeabgänger. Diese Schicht des Alltagsverstands ist erfolgreich von „Occupy Wall Street“ und ihrem Slogan „We are the 99%“ angesprochen und gestärkt worden (vgl. hierzu Rehmann 2012). In einer dritten Verarbeitungsweise wächst der Verdacht, dass die kapitalistische Produktions- und Lebensweise selbst die entscheidende Fehlschaltung darstellt, aber diese Einsicht ist bisher unter den gegebenen Hegemonieverhältnissen aus Furcht vor Marginalisierung und dem Fehlen einer glaubhaften demokratisch-sozialistischen Alternative in der Regel blockiert und wird in Latenz gehalten. Zu beachten ist, dass die verschiedenen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweisen nicht säuberlich getrennt auftreten, sondern auch dieselben Personen und Gruppen durchziehen können.

Wenn diese Bestandsaufnahme richtig ist, haben wir einige Kriterien gewonnen, um Bernie Sanders’ Wahlkampf einordnen und beurteilen zu können.

Bernie Sanders’ Beitrag zu einer linken Gegenhegemonie

Im Left Forum kann man zuweilen die schlechte Angewohnheit beobachten, Debatten um eine wirksame linke Strategie in Wettkämpfe um die radikalste revolutionäre Rhetorik zu verwandeln. Als Beispiel für viele wähle ich den Journalisten und Kolumnisten Chris Hedges, der Sanders wegen seiner Teilnahme an den Vorwahlen der Demokratischen Partei als Handlanger des politischen Establishments denunziert. Er tut dies im Namen einer „wahrhaft sozialistischen“ Revolution, die die Wirtschaftseliten und ihre Institutionen auf der „Straße“ besiegt und nicht in der Kongresshalle (Hedges 2016). Gut gebrüllt, Löwe! Dies ist ein hyper-revolutionärer, leerer und zugleich elitärer Diskurs, der sich eine „Revolution“ zurechtphantasiert, ohne sich für die Subjekte zu interessieren, die er mit ihrer Durchführung beauftragen will. Hätte Sanders darauf verzichtet, die Vorwahlen der Demokratischen Partei in einen Kampfplatz gegensätzlicher Projekte zu transformieren, und stattdessen seinen Wahlkampf von vorneherein als „Unabhängiger“ organisiert, wie dies auch Kshama Sawant von der Socialist Alternative gefordert hatte, wäre er von den Medien noch wirksamer blockiert worden, so dass die beschworenen „Massen“ von vorneherein nichts von ihm erfahren hätten. Unbestreitbar ist freilich auch, dass Sanders sich mit seinem Eintritt in die Vorwahlen der Demokratischen Partei auch auf die Einhaltung bestimmter „Spielregeln“ festgelegt hat, die ihn z.B. dazu verpflichteten, den Gewinner der Vorwahlen zu unterstützen. Die damit verbundenen Widersprüche, Politik- und Diskursbegrenzungen müssen sorgfältig analysiert, können aber nicht handstreichartig aus der Welt geschaffen werden.[4] Wer den Mythos der „Straße“ gegen die Kongresshalle ausspielt, verkennt, dass jede aussichtsreiche demokratisch-sozialistische Transformationsstrategie Wege finden muss, um die außerparlamentarischen Aktionen unterschiedlicher sozialer Bewegungen mit den Kämpfen um die hegemonialen Apparate der Zivilgesellschaft (einschließlich des Kampffelds der politischen Repräsentation) zu verbinden.

Es ist ein Leichtes, in Sanders’ Wahlprogramm Lücken und Schwachpunkte zu finden. Besonders dürftig sind die Vorstellungen zur Außenpolitik, z.B. die Idee, den Krieg gegen den IS in Syrien und Irak sollten die arabischen Länder selbst führen (saudische Truppen in Syrien?). Eine überzeugende Strategie gegen skandalös hohe Mieten und Gentrifizierung ist nicht erkennbar,[5] das Programm für selbstverwaltete Betriebe könnte konkreter und umfassender ausfallen,[6] und es gab interessante Debatten, ob es Sinn hat, die Großbanken zu „zerschlagen“ und in kleinere zu zerlegen, wie Sanders fordert, oder sie in „öffentliche Dienstleister“ (public utilities) zu verwandeln, wie z.B. Leo Panitch vorschlägt.[7]

Diese programmatischen Fragen sind zweifellos relevant für weitere Theorie- und Strategiedebatten, aber von untergeordneter Bedeutung für die ersten Ansatzpunkte einer linken Gegenhegemonie, die es zunächst zu finden gilt. Hier leistete Sanders Erstaunliches und Wichtiges. Wirksam artikulierte er v.a., was ich soeben als zweite Schicht des Alltagsverstands beschrieben habe, die moralische Empörung gegen ein Wirtschaftssystem, das eine wachsende Einkommens- und Vermögenskluft zwischen den 1 Prozent und den restlichen 99 Prozent hervortreibt. Und er tat es wiederum nicht moralistisch, sondern mit systembezogenen Erklärungen, deren Herkunft aus marxistischer Analyse unverkennbar waren. Zudem setzte er auf eine Selbstaktivierung – „ich kann es nicht ohne Euch tun“ –, die über die Vorwahlen hinaus auf eine „politische Revolution“ orientierte. Den Skandal der sozialökonomischen Polarisierung und ihre Ungerechtigkeit hämmerte er seinen Zuhörern ein, und dies unabhängig davon, welche Fragen die Moderatoren und Journalisten der Medienindustrie ihm konkret vorlegten. Damit griff er „das schwächste Glied der imperialistischen Kette“ an, um einen berühmten Ausdruck Lenins in verändertem Kontext zu verwenden. Manche Intellektuelle mögen von den Wiederholungen in Sanders’ Verlautbarungen gelangweilt sein, aber dies ist in Wirklichkeit eine effektive Methode, um die Zerstreuungstaktiken der Medien ins Leere laufen zu lassen, die breiteste populare Unzufriedenheit auszudrücken und unablässig sowie einprägsam gegen eine radikale Minderheit an der Spitze zu mobilisieren. Bernie Sanders operiert als organischer Intellektueller, der den Kontakt mit dem Alltagsverstand an keiner Stelle verliert, sondern ihn effektiv nach links verschiebt. Das ist weitaus revolutionärer als die zahlreichen hyper-revolutionären Diskurse, die die fragmentierten Zirkel nicht überschreiten und „nur individuelle, polemische ‚Bewegungen‘“ hervorbringen (H. 7, § 19, 876).

Dass die meisten von Sanders’ Forderungen sich im Rahmen einer progressiven Sozialdemokratie bewegten, ist kein überzeugender Einwand. Was eine solche Kennzeichnung bedeutet, ist vom jeweiligen Kontext her zu bestimmen, und unter den gegebenen hegemonialen Kräfteverhältnissen in den USA ist ein links-sozialdemokratischer Ansatz, der sich ähnlich wie Corbyn in England dem „dritten Weg“ (Clinton, Blair, Schröder) widersetzt, eine enorme Errungenschaft. Sich auf den New Deal der Roosevelt-Präsidentschaft, der fortschrittlichsten Periode der US-Geschichte, zu beziehen, ist notwendige Diskursbedingung für jede hegemoniefähige linke Politik, auch wenn sie wirtschaftspolitisch, sozial-ökologisch und feministisch über die damaligen Reformen hinausgehen muss. Wenn man Sanders’ Forderungen als ökonomischen Populismus kennzeichnet, muss man spezifizieren, dass dieser nichts mit der ideologischen Anrufung eines homogenen „Volks“ zu tun hat, sondern auf das Zusammenfinden vielfältiger, auch multi-ethnischer Subjekte zu einer Kohärenz orientiert, die die inneren Differenzen und Widersprüche nicht leugnet – plebs, nicht populus! In der Terminologie Gramscis handelt es sich um die Konstruktion eines geschichtlichen Blocks verschiedener subalterner Klassen und Gruppen bis tief hinein in die vom Abstieg bedrohten Mittelschichten.

Hillary Clintons Behauptung, Sanders sei ein ökonomistischer „single-issue“ Kandidat, der die „Intersektionalität“ der Diskriminierungen nicht berücksichtige, ist zweifach unglaubwürdig: zum einen, weil sie selbst eine der Hauptachsen „intersektionaler“ Unterdrückung , die „Klassenfrage“, in ihrem Diskurs entnennt, sodass die angerufenen geschlechtlichen und rassischen Differenzen in den neoliberalen Mainstream zurückgeholt werden[8]; zum anderen, weil Sanders seine Klassenpolitik im weitesten Sinn eines Klassenbündnisses der 99 Prozent konzipiert und – nach einigen Anfangsschwierigkeiten – zunehmend überzeugend mit Fragen des Rassismus, der Frauenunterdrückung und der LGBT-Diskriminierung verbunden hat. Es ist ihm in der kurzen Zeit nicht gelungen, den stabil in den clinton’schen Klientelismus kooptierten Block der Afroamerikaner aufzubrechen.[9] Aber bei den Hispanics und Native Americans hatte er weitaus mehr Erfolg.[10] Die Überdeterminierungen von Klassen- und Rassenbeziehungen haben in den USA tiefe Spaltungen erzeugt, deren Überwindung eine schwierige und längerfristige Aufgabe der Linken darstellt.

Wird die sandernistische Koalition zusammenbleiben?

Dass die Parteiführung der Demokraten unter Debbie Wasserman Schultz den Wahlkampf massiv und widerrechtlich beeinflusst hat, war von Beginn an offensichtlich und wurde spätestens seit den umfänglichen WikiLeaks Enthüllungen aktenkundig. Zugleich ist klar, dass Hillary Clintons Wahlsieg nicht auf Manipulationen, so umfangreich sie auch waren, reduziert werden kann. Das Establishment der Demokraten war diesmal noch stabil genug, um die hegemoniale Krise auszusitzen, seine Kader im Clinton-Lager zusammenzuhalten und den politischen Apparat gegen den popularen Ansturm der Sanders Kampagne zu verteidigen: Sanders wurde nur von acht Kongressabgeordneten und einem einzigem Senator unterstützt, und von den “superdelegates” stimmten nur 43 für ihn (570 für Clinton). Wie werden die Sandernisten kurz- und längerfristig auf Clintons Nominierung reagieren?

Die kurzfristige Reaktion war vorhersehbar. Ein Großteil der Aktivisten und Sanders-Wähler wird voraussichtlich Clinton in den allgemeinen Wahlen unterstützen, allein schon, um einen Präsidenten Trump zu verhindern[11]; ein anderer, vermutlich kleinerer Teil ruft zur Wahl der grünen Kandidatin Jill Stein auf. Die „politische Revolution“ droht zwischen Skylla und Charybdis aufgerieben zu werden: Unterordnung unter eine Logik des kleineren Übels, die ihre Eigenständigkeit und ihren Bewegungsenthusiasmus zerstört, oder ein Wahlkampf, der zwar beansprucht, den Inhalten und dem Ethos der Bewegung treu zu bleiben, aber zugleich mit der Hypothek belastet werden kann, einer Trump-Präsidentschaft den Weg zu bereiten (die „Ralph Nader Falle“ ).

Eine gewisse Polarisierung der Standpunkte wird vermutlich während des Wahlkampfs nicht zu vermeiden sein, und wir können nur hoffen, dass sie nicht die Brücken zerstört, die für eine Zusammenarbeit wichtig sind. Denn die entscheidende Frage ist, wie sich die Sanders Bewegung nach den Wahlen im November längerfristig orientiert (vgl. Solty in LuXemburg 2/2016). Die einzige Chance, ihre Spaltungs- und Zersplitterungstendenzen zu überwinden, liegt m.E. in einer kombinierten „innen-außen“ Strategie: Gründung einer neuen, von den Demokraten unabhängigen und zugleich breiten politischen Organisation der Linken, die sich aber nicht als generelle Wahlalternative zu den Demokraten präsentiert (was konkurrierende KandidatInnen in potentiell erfolgreichen regionalen oder lokalen Wahlkonstellationen natürlich nicht ausschliesst). Die neue Organisation wäre von vorneherein als ein verbindendes Netzwerk zu konzipieren, das die unterschiedlichen strategischen Ansätze eines Drucks von innen und von außen zusammenhält. Dazu müssten diejenigen, die die Demokratische Partei von innen zu ändern versuchen, und diejenigen, die den Bruch mit dem Zweiparteiensystem als vorrangige Aufgabe ansehen, die Entscheidung fällen, sich gerade an dieser Frage, die ihnen ein undemokratisches Zwei-Parteien-Wahlsystem aufzwingt, nicht spalten zu lassen. Dies setzt die Bereitschaft und Fähigkeit voraus, die bestehenden Widersprüche nüchtern zu analysieren und klug mit ihnen umzugehen. Ob die von Bernie Sanders gegründete Organisation Our Revolution ein solches verbindendes Netzwerk sein will oder kann, ist noch offen.

Leicht aktualisierte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes in Das Argument 317, 58. Jahrgang, Heft 3/2016, S. 380-87. Der Text basiert auf einem Diskussionsbeitrag auf dem New Yorker Left Forum am 22. Mai 2016 im Rahmen einer Podiumsdiskussion „Bernie, Capitalism’s Crisis and Democratic Socialism: What Next?“ mit Rick Wolff, Harriet Fraad und Betsy Avila.

[1] Der Begriff der “verbindenden Partei” wurde von Mimmo Porcaro (2011) geprägt. Vgl. die Debatte zwischen Porcaro, Candeias und Rehmann in LuXemburg 1/2013 und 2/2013 sowie den aktuellen Text Occupy Machiavelli in LuXemburg 2/2016.

[2] Wie zahlreiche Umfragen belegen, würde Sanders gegen Trump weitaus bessere Ergebnisse erzielen als Hillary Clinton. Vgl. die Zusammenstellung der Umfrageergebnisse in: www.huffingtonpost.com/h-a-goodman/bernie-sanders-will-save-democrats-from-a-trump_b_10255294.html. Siehe auch die pessimistische Analyse zu den Präsidentschaftswahlen von Michael Moore in: michaelmoore.com/trumpwillwin/

[3] Vgl. hierzu Jehle 1994 u. 2001.

[4] Vgl. die differenzierte Analyse von Victor Wallis in: portside.org/2016-07-27/sanders%E2%80%99-campaign-balance.

[5] Vgl. den kleinen Absatz innerhalb des Programms für “racial justice”: feelthebern.org/bernie-sanders-on-racial-justice/

[6] Siehe: www.berniesandersvideo.com/3-creating-worker-co-ops.html.

[7] Z.B. therealnews.com/t2/index.php?option=com_content&task=view&id=31&Itemid=74&jumival=14958.

[8] Zur Bedeutung von „Klasse“ im Ensemble intersektionaler Diskriminierungen vgl. Wallis 2015.

[9] Cornel West kritisiert die kooptierten afro-amerikanischen Parlamentarier und Intellektuellen, sie folgten nicht mehr dem “freedom train” der Bürgerrechtsbewegung, sondern dem “gravy train”. Freilich zeigt der afro-amerikanische Block auch erste Risse: geographisch zwischen Südstaaten, wo Clinton bis zu 85 Prozent gewinnen konnte, und Nordstaaten. Ein Einbruch gelang Sanders bei den schwarzen Wählern unter 30, wo er mit 52 Prozent einen knappen Vorsprung vor Clinton (47 Prozent) hatte (vgl. www.nbcnews.com/news/nbcblk/huge-split-between-older-younger-blacks-democratic-primary-n580996).

[10] Ablesbar z.B. in der Ernennung der Aktivistin für Ökologie-Fragen und die Rechte der US-amerikanischen Ureinwohner Tara Houska zur Wahlkampfberaterin.

[11] Siehe die Wahlanalyse von Bill Fletcher in: freedomroad.org/2016/08/crush-trump-build-our-movements/.

Das Argument 317: Das Jugoslawische Projekt

J. Rehmann: Das jugoslawische Projekt – Editorial

W.F. Haug: Die Zerstörung Jugoslawiens. Moment-Aufnahmen vom letzten Akt

G. Kirn: Von der Partisanenrevolution zum Marktsozialismus

M. Komelj: Die Partisanenkunst und der Surrealismus

K. Zovak: Widersprüche der Arbeiterselbstverwaltung

A. Ćakardić: Frauenkämpfe in Jugoslawien und danach

K. Stojaković: Vom sozialistischen Staatsgründer zum nationalen Verräter? Tito und seine Biographen

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J. Rehmann: Bernie Sanders und die Hegemoniekrise des neoliberalen Kapitalismus

I. Landa: Der nietzscheanische Kommunismus von Alain Badiou

L. Sève: Für eine Wissenschaft der Biographie

Einzelheft 13€ (im Abo 10€, zzgl. Versand)

www.inkrit.org/Argument

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