Im Folgenden geht es im Wesentlichen um zwei Punkte: zum einen kann die erstaunliche Anziehungskraft von Bernie Sanders’ Wahlkampf nur angemessen verstanden werden, wenn wir begreifen, dass und in welcher Hinsicht der neoliberale Hightech-Kapitalismus sich in einer Hegemoniekrise befindet und wie diese die Erwartungen und Haltungen der Bevölkerung in den USA beeinflusst; zum anderen will ich zeigen, wie Sanders wirksam in diese Hegemoniekrise eingegriffen und die Koordinaten ihrer Verarbeitung im Alltagsverstand nach links verschoben hat. Auch wenn er nicht der Kandidat der Demokratischen Partei geworden ist, hat er die ideologischen Verhältnisse in den USA zum Tanzen gebracht und die Möglichkeit eröffnet, eine demokratisch-sozialistische Perspektive zu entwickeln und im Alltagsverstand tragfähig zu verankern.
Was ist eine Hegemoniekrise?
Es war bekanntlich der italienische Marxist Antonio Gramsci, der in den 1930er Jahren im faschistischen Gefängnis den theoretischen Begriff der Hegemonie entwickelte, um mit seiner Hilfe zu analysieren, wie die modernen kapitalistischen Gesellschaften nicht nur durch staatliche Repression (militärisch oder polizeilich) oder durch den von Marx untersuchten „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (MEW 23, 756) geschützt sind, sondern auch durch eine Reihe hegemonialer Apparate zusammengehalten werden, die die ideologische Unterstellung der subalternen Klassen unter die Klassenherrschaft organisieren. In den entwickelten westlichen Ländern ist Repression kunstvoll mit der Herstellung von Konsens verbunden, und beide Seiten arbeiten im Tandem – »Hegemonie, gepanzert mit Zwang« (H. 6, §88, 783; §155, 824). Dem Kapitalismus gelingt es in der Regel, über seine ideologischen Apparate und organischen Intellektuellen die Subjekte zu produzieren, die das sie ausbeutende und unterdrückende System akzeptieren und unterstützen, und wenn sich Oppositionsbewegungen herausbilden, ihnen mithilfe einer „passiven Revolution“ das Wasser abzugraben, ihre Führer zu kooptieren oder durch die teilweise Übernahme oppositioneller Forderungen ihre Organisationen überhaupt zu integrieren (z.B. H. 8, §36, 966; H. 10.II, §41.XIV, 1330).
Zu einer Hegemoniekrise kommt es, wenn diese ideologische Reproduktion der Klassengesellschaft ins Stocken gerät, indem z.B. der herrschende Machtblock in wichtigen Fragen gespalten ist, eine massenhafte Unterstützung der subalternen Klassen nicht mehr nachhaltig aufrechterhalten, die Arbeiter und relevante Teile der Mittelschichten nicht mehr integriert werden können. Dies kann zu einer Dyshegemonie führen, bei der „das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann“: die wirtschaftlichen und politischen Eliten haben den gesellschaftlichen Konsens verloren, sind nicht mehr aktiv „führend“, sondern nur noch „herrschend“, während die Massen skeptisch gegenüber allgemeinen Formeln geworden sind (H. 3, §34, 354). Dabei insistiert Gramsci, dass eine hegemoniale Krise keineswegs eine unmittelbare Folge einer Wirtschaftskrise ist. Entgegen weitververbreiteter Annahmen eines bevorstehenden Zusammenbruchs des Kapitalismus hielt er es für ausgeschlossen, dass Wirtschaftskrisen „von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen“, sie können nur einen „günstigeren Boden“ für die Verbreitung bestimmter Sichtweisen und Lösungsvorschläge bereiten (H. 13, §17, 1563). In der Regel sei die herrschende Klasse in der Lage, sich mithilfe ihrer zahlreichen gut ausgebildeten Kader an die neue Konstellation anzupassen, einige Opfer zu bringen und auf diese Weise die Lage, die ihr zu entgleiten drohte, wieder unter Kontrolle zu bringen (H. 13, §23, 1578). Zu einer progressiven Wende kann es nur kommen, wenn es den subalternen Klassen, ihren Intellektuellen und Organisationen gelingt, in die Widersprüche der Zivilgesellschaft zu intervenieren und eine tragfähige Gegenhegemonie zu konstruieren. Vor jeder Eroberung der Staatsmacht müssen sie die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit gewinnen, was wiederum erfordert, dass sie ihre linke Aufklärung in enger Tuchfühlung mit dem Alltagsverstand der Bevölkerung entwickeln.
In welchem Sinn kann man heute von einer Hegemoniekrise in den USA sprechen?
Als die Wirtschaftskrise im September 2008 ausbrach, schienen die neoliberalen Eckpfeiler Deregulierung, Privatisierung und Freihandel diskreditiert. Aber Obama konnte die Präsidentschaftswahlen mit einem zentristischen Wirtschaftsprogramm gewinnen, das die neoliberale Hegemonie nicht infrage stellte. Seine Regierung platzierte mit Larry Summers und Tim Geithner gerade diejenigen an wirtschaftspolitische Schlüsselstellen, die für die Deregulierung der Finanzmärkte maßgeblich verantwortlich waren. Die Entscheidung, die zusammengebrochenen Großbanken zu retten, ohne irgendwelche Bedingungen zu stellen, erzeugte eine allgemeine Empörung, die Thomas Frank als „populistischen Moment“ beschrieben hat (2012, 34, 39, 167f). Freilich wurde die populistische Wut nahezu ausschließlich von der rechten Tea Party-Bewegung artikuliert, die die Unzufriedenheit von „Wall Street“ auf „Washington“, von den Großbanken auf die Bundesregierung umlenkte. Bis zu Beginn von „Occupy Wall Street“ (OWS) im September 2011 hatte man den Eindruck, die Tea Party sei die einzige dynamische und ausgreifende Bewegung. Einige Wochen später sah alles anders aus. Ende Oktober wurde eine Meinungsumfrage veröffentlicht, derzufolge 43 Prozent der Befragten mit dem Protest von OWS sympathisierten, gegenüber einer Zustimmungsrate von 9 Prozent für den Kongress. Weitere fünf Jahre später sahen wir den außerordentlichen Erfolg sowohl der Bernie Sanders-Kampagne als auch der von Donald Trump.
Ein solches Ausschlagen des Pendels nach links und rechts ist ein erstes Anzeichen für eine Hegemoniekrise. Die Flitterwochen neoliberaler Hegemonie sind schon seit geraumer Zeit vorbei. Obwohl der Neoliberalismus von Beginn an gewaltförmig aufgetreten ist, und dies nicht nur in der Pinochet-Diktatur in Chile, sondern z.B. auch bei Thatchers and Reagans brutaler Zerschlagung der Gewerkschaften, gab es auch eine hegemoniale Aufbruchphase. Auf der Grundlage der neuen Informationstechnologien konnte die neoliberale Ideologie die Imagination großer Teile der Jugend ergreifen, die sich einen schicken und kreativen Job in der IT-Branche ausmalten. Nach dem Platzen der dot.com Blase und dann vor allem nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 hat sich dieser Enthusiasmus verflüchtigt. Während die Berufsaussichten sich verschlechtern und Schulden ansteigen, berichten Umfragen übereinstimmend, dass die Zukunftserwartungen düsterer geworden sind. Der neoliberale Kapitalismus hat seine ideologische Fähigkeit zu aktiver Subjektmobilisierung weitgehend eingebüßt. Das heißt natürlich nicht, dass wir vor einem Zusammenbruch des Kapitalismus stehen, oder dass dieser sich nur noch durch ökonomischen Druck und Repression reproduzieren kann. Aber die gewaltförmigen, disziplinären und panoptischen Tendenzen treten deutlicher hervor (vgl. Bakker and Gill 2003, 116ff). In den von Großkonzernen beherrschten Medien dominiert die Manipulation. Soweit es noch Zustimmung zum Neoliberalismus gibt, ist es v.a. ein passiver Konsens, hervorgerufen durch den wahrgenommenen Mangel an einer attraktiven und realistischen demokratisch-sozialistischen Alternative.
Diese Hegemoniekrise äußert sich auch als Krise der politischen Repräsentation. Die sogenannte politische Mitte hat an hegemonialer Zugkraft verloren. Wer in den Vorwahlen als Vertreter des neoliberalen Status quo wahrgenommen wurde, konnte keinen Enthusiasmus und keine Massenmobilisierung hervorrufen. Dies gilt nicht nur für Mainstream-Kandidaten der Republikanischen Partei wie Jeff Bush oder Marco Rubio, sondern auch für Hillary Clinton, deren Wahlkampf übereinstimmend als „freudlos“ beschrieben wird. Dagegen füllten Bernie Sanders and Donald Trump die Stadien mit Massen begeisterter Anhänger. Wir können diese widersprüchliche Tendenz in vielen entwickelten kapitalistischen Ländern beobachten. Von der Hegemoniekrise des Neoliberalismus profitieren entweder eine populistische Rechte oder ein neuer Linkspopulismus, getragen von einem neuen Typus von „verbindender Partei“[1]: rechtsextreme und islamophobe Parteien sind auf dem Vormarsch z.B. in Frankreich, Österreich, Schweiz, auch in Deutschland mit der AFD; dagegen konnte Syriza in Griechenland von einer 2 Prozent-Partei zu einer linken Volkspartei aufsteigen und die Mehrheit gewinnen, in Spanien ging aus der Bewegung der Indignados die politische Formation Podemos hervor, die das Volk gegen die Oligarchie, la gente gegen la casta mobilisiert. Zumindest längerfristig kann der Rechtspopulismus nur mit einem aggressiven Linkspopulismus der 99 Prozent zurückgedrängt werden (vgl. die Analyse von Solty/Werner 2016). Die Strategie der Führung der Demokratischen Partei, Trumps rechtspopulistische Agitation mit Hillary Clintons neoliberalem Mittelweg schlagen zu wollen, ist eine sehr gefährliche Wette, die leicht dazu führen kann, das Land einer extrem autoritären und rassistischen Variante des Neoliberalismus auszuliefern.[2]