Dass aber die Unternehmen weiterhin auf Möglichkeiten warten, um einen flexibleren Einsatz von Arbeitskräften durchzusetzen, haben ihre Verbände deutlich gemacht. Zusätzlich ist zum Thema Arbeitszeit in der Corona-Krise mit Kurzarbeit und Homeoffice viel in Bewegung geraten. Lebensqualität außerhalb der Erwerbsarbeit, bessere Vereinbarkeit von Freizeit und Beruf, Entgrenzung und Doppelbelastung, Dauerstress in systemrelevanten Berufen – diese vielfältigen Erfahrungen bieten Chancen für eine Arbeitszeitpolitik im Sinne der Beschäftigten, aber auch Gefahren hinsichtlich einer weiteren Deregulierung der Arbeitszeiten.
Gewerkschaften und die LINKE sind gut beraten, zum Thema Arbeitszeit und Belastung in der Arbeit mit neuen und offensiven Forderungen in Auseinandersetzungen zu gehen und damit einen Kontrapunkt gegen die Begehrlichkeiten der Unternehmen zu setzen.
Weiter sinkende Tarifbindung?
„Im Dialog mit den Sozialpartnern werden wir weitere Schritte zur Stärkung der Tarifbindung erarbeiten und hierbei insbesondere Möglichkeiten für weitere Experimentierräume erörtern.“ (Koalitionsvertrag 2021, Zeile 2336ff.) Hinter dieser gleichermaßen unverbindlichen und kryptischen Absichtserklärung könnten sich weitere Pläne, analog zur dargestellten Neuregelung des Arbeitszeitgesetzes, verbergen. Tariflich vereinbarte Unterschreitungen bisheriger gesetzlicher Standards könnten auch in anderen Bereichen ermöglicht und als Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung verkauft werden.
Allerdings sind auch Maßnahmen geplant, die das Problem der sinkenden Tarifbindung – nur noch für 43 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse gilt laut Statistischem Bundesamt ein Tarifvertrag – ernsthaft angehen. So soll ein geplantes Bundestariftreuegesetz die „öffentliche Auftragsvergabe an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrages der jeweiligen Branche“ (ebd., Zeile 2331ff.) binden. Zudem ist vorgesehen, die auch im öffentlichen Dienst weit verbreitete Praxis der Tarifflucht durch Ausgliederungen zu erschweren, indem der Tarifvertrag des Mutterunternehmens auch in den Töchtern weiter gilt (ebd., Zeile 2333ff.).
Andere wichtige Punkte zur Stärkung der Tarifbindung, die in den Wahlprogrammen von SPD und Grünen enthalten waren, sucht man im Koalitionsvertrag jedoch vergebens, wie beispielsweise Maßnahmen, um die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung (sogenannte OT-Mitgliedschaften) zurückzudrängen. Eine von den Gewerkschaften dringend eingeforderte erleichterte Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen enthält der Koalitionsvertrag nicht. Gegen den Willen der Vertreter*innen der Kapitalseite ist damit weiterhin keine Ausweitung eines Tarifvertrages auf alle Arbeitgeber sowie Arbeitnehmer*innen in seinem Geltungsbereich möglich. Das heißt, in Branchen mit geringer gewerkschaftlicher Organisationsmacht – aufgrund prekärer Beschäftigung, einer schwierigen Arbeitsmarktlage oder kleinteiliger Betriebsstrukturen – sind die Beschäftigten damit dauerhaft der Willkür der Arbeitgeber, schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen ausgesetzt.
Auch von einer Reform des Arbeitnehmerentsendegesetzes, um die Durchsetzung von Tarifverträgen für Beschäftigte in besonders problematischen Sektoren wie der Landwirtschaft oder der Fleischindustrie zu erleichtern, ist im Koalitionsvertrag nicht mehr die Rede. Insgesamt werden die vereinbarten Maßnahmen daher keinesfalls ausreichen, um den weiteren Rückgang der Tarifbindung zu stoppen.
Ausweitung von Minijobs und anderen prekären Beschäftigungsverhältnissen?
Mehr als vier Millionen Lohnabhängige in Deutschland arbeiten ausschließlich in „geringfügig entlohnten“ Beschäftigungsverhältnissen (sogenannten Minijobs), in denen sie jeweils nicht mehr als 450 Euro im Monat verdienen. Hinzu kommen mehr als drei Millionen Beschäftigte, die zusätzlich solchen Nebenjobs nachgehen, weil ihnen der Lohn für ihre reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nicht ausreicht. In den „geringfügigen“ Beschäftigungsverhältnissen arbeiten überproportional viele Frauen.
Für Minijobber*innen müssen die Unternehmen nur geringe Sozialabgaben abführen. Indem sie reguläre, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse durch Minijobs ersetzen, können sie also die Arbeitskosten senken. Die Beschäftigten erwerben nur geringe Rentenansprüche, sind nicht in der Arbeitslosenversicherung und auch nicht automatisch kranken- und pflegeversichert. In der Praxis werden den Minijobber*innen viele Arbeitsrechte vorenthalten. Ziel müsste es also sein, Minijobs abzuschaffen und durch reguläre, gut entlohnte und sozialversicherungspflichtige Stellen zu ersetzen.
Im Koalitionsvertrag verspricht die neue Regierungskoalition, zu „verhindern, dass Minijobs als Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse missbraucht oder zur Teilzeitfalle insbesondere für Frauen werden“ (ebd., Zeile 2292f.). De facto tut sie jedoch das Gegenteil: sie sichert den breiten Einsatz von Mini-Jobs mit relevanten Stundenkontingenten sogar ab. Die Verdienstgrenze für die „geringfügig entlohnte Beschäftigung“ wird nämlich von 450 Euro auf 520 Euro angehoben und gleichzeitig an den Mindestlohn gekoppelt: Mit jeder Anhebung des Mindestlohns wird also zukünftig auch die Verdienstgrenze für Minijobs steigen. Damit stellt die neue Regierung sicher, dass die Kapitalisten auch weiterhin von einem großen Niedriglohnsektor profitieren, während Millionen Lohnabhängige entrechtet und in prekären Verhältnissen gefangen bleiben.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass im Koalitionsvertrag keine weiteren Einschränkungen von Leiharbeit und Werkverträgen vereinbart wurden. „Werkverträge und Arbeitnehmerüberlassung sind notwendige Instrumente“, so die Sicht der Koalition (ebd., Zeile 2322). Es wird auch – entgegen der Forderung der Gewerkschaften – keine größeren Einschränkungen bei der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen geben. Nur der Bund als Arbeitgeber ist aufgefordert, diese Praxis zu reduzieren. Im gesamten öffentlichen Dienst sollen Befristungen aufgrund befristeter Haushaltsmittel (sogenannte Haushaltsbefristungen) abgeschafft werden. Generell sollen mit Sachgrund befristete Arbeitsverträge beim selben Arbeitgeber auf sechs Jahre begrenzt werden, um Kettenbefristungen zu vermeiden. Allerdings wird dies gleich wieder eingeschränkt, denn „eng begrenzte Ausnahmen“ sollen möglich sein (ebd., Zeile 2306ff.). Zudem will die Koalition Saisonarbeitskräften ab dem ersten Beschäftigungstag den vollen Krankenversicherungsschutz gewähren und das ILO-Abkommen Nr. 184 über den Arbeitsschutz in der Landwirtschaft ratifizieren.
Hartz IV heißt jetzt Bürgergeld
Ein typisches Beispiel für Symbolpolitik ist die von der neuen Regierung geplante Umbenennung des Arbeitslosengelds II bzw. der Grundsicherung in „Bürgergeld“. Zum wichtigsten Punkt, der Höhe der monatlichen Regelsätze, äußert sich der Koalitionsvertrag nicht, sodass der Bezug von Bürgergeld voraussichtlich weiterhin Armut per Gesetz bedeuten wird. Der Druck auf Beschäftigte, in ihren Jobs viel zu erdulden, um diesem Schicksal zu entgehen, bleibt damit bestehen. Der soziale Absturz soll allerdings abgemildert werden, indem in den ersten zwei Jahren eventuell vorhandenes Vermögen noch nicht von den Leistungen abgezogen wird und die Überprüfung der Wohnungsgröße ausgesetzt bleibt. Außerdem ist eine generelle Erhöhung des Schonvermögens geplant.
Neben der disziplinierenden Wirkung der Höhe der Regelsätze nach außen bleiben auch die repressiven Aspekte innerhalb des „Hartz-IV-Systems“ weitgehend erhalten. Sanktionen werden nicht aufgehoben, aber – dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgend – neu geregelt. Es ist vorgesehen, erstens die Kosten der Unterkunft von den Sanktionen auszunehmen, zweitens die besonders repressiven Sonderregelungen für junge Menschen unter 25 Jahren aufzuheben und drittens zumindest in den ersten sechs Monaten des Bürgergeldbezuges ganz auf Sanktionen zu verzichten.
Die geplante Reform enthält viele kleine Verbesserungen wie die Abschaffung des Vorrangs der Vermittlung in den nächsten Job und damit einhergehende Chancen auf Weiterbildung oder den Bezug von Arbeitslosengeld I für mindestens drei Monate nach einer abgeschlossenen Weiterbildung. Die meisten im Koalitionsvertrag angekündigten Reformen entstammen dem Sozialstaatskonzept der SPD, das sie auf ihrem Parteitag im Dezember 2019 verabschiedet hat. Von einer Abkehr von Hartz IV und einer Erneuerung der SPD, die SPD-Linke in diesem Parteitag sehen wollen, kann allerdings angesichts des neuen Bürgergeldes keine Rede sein. Wie sich linke Sozialdemokrat*innen und die in hoher Zahl neu in den Bundestag gewählten Jusos innerparteilich positionieren und welche Spaltungslinien sich hier auftun werden, ist eine spannende Frage und könnte für Gewerkschaften und DIE LINKE neue Bündnisoptionen bieten.
Mindestlohnerhöhung als Trostpflaster
Die Ampelkoalition hat versprochen, den Mindestlohn in ihrem ersten Regierungsjahr einmalig auf 12 Euro anzuheben. Der Mindestlohn war schon bei seiner Einführung zu niedrig angesetzt, und die Mindestlohnkommission, die danach für die Mindestlohnregulierung zuständig war und nach dem Willen der Ampelkoalition auch weiter zuständig sein wird, konnte oder wollte keine ausreichende Anhebung gewährleisten. Der Handlungsbedarf ist auch daran ersichtlich, dass es nach der Einführung des Mindestlohns weiterhin Hunderttausende von lohnabhängig Beschäftigten gab, die auf staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen waren. Zuletzt bezogen nahezu 800.000 lohnabhängig Beschäftigte neben ihrem Lohn staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt. Gleichzeitig betrieb Deutschland Lohndumping gegenüber seinen Nachbarn: In den Niederlanden, in Belgien, in Frankreich und in Irland waren die Mindestlöhne höher als in Deutschland, obwohl dieses in einer wirtschaftlich vergleichbar starken oder sogar stärkeren Position ist. Eine kräftige Erhöhung des Mindestlohns ist also bitter nötig. Die Höhe von 12 Euro sichert immer noch keine armutsfeste Rente. Daher fordert DIE LINKE – zusammen mit Anpassungen in der Rentenpolitik – einen Mindestlohn von 13 Euro, um bei Vollzeit auf eine Rente von 1.200 Euro zu kommen.
Aufgaben der Gewerkschaften und der LINKEN
Insgesamt bietet der Koalitionsvertrag keine großen, dauerhaft wirkenden sozialen Verbesserungen. Eine Abkehr von den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 der rot-grünen Regierungskoalition (1998–2005) ist nicht geplant. Es soll weder ein wirkliches Ende von Hartz IV geben, noch wird prekärer Beschäftigung ein Riegel vorgeschoben. An der mit der neoliberalen Deregulierung verbundenen massiven Verschlechterung der Lage und Durchsetzungsmacht der Lohnabhängigen und ihrer Gewerkschaften wird sich dadurch kaum etwas ändern. Die geplante Öffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz kann im Gegenteil sogar als Einfallstor für eine weitere Deregulierung der Arbeitszeit dienen.
Der Koalitionsvertrag verspricht allerdings auch kleinere Verbesserungen wie ein Bundestariftreuegesetz, eine Erschwerung der Tarifflucht mittels Betriebsausgliederungen oder leichte Einschränkungen bei der Befristung von Arbeitsverträgen. Viele der Vorhaben der Koalition wie die Erhöhung des Mindestlohns oder mildere Sanktionen beim Bürgergeld sowie die Einführung eines höheren Schonvermögens und mehr Weiterbildungsmöglichkeiten für Erwerbslose werden sofort erfahrbare Erleichterungen für viele Menschen mit sich bringen und die Opposition gegenüber der neuen Ampel-Regierung erschweren. Gerade deshalb ist es wichtig, auf etwas hinzuweisen, was viele Wähler*innen scheinbar vergessen oder aufgrund ihres Alters nicht selbst miterlebt haben: Grüne und SPD tragen zusammen die Verantwortung für die verheerenden Agenda 2010, mit deren Logik sie trotz kleiner Erleichterungen bis heute nicht gebrochen haben.
Gerade in Bezug auf die SPD ist wahrscheinlich, dass ihre versprochene, aber nicht vollzogene Abkehr vom „Hartz-IV-System“ Konflikte innerhalb der Partei schüren wird. Kevin Kühnert etwa oder die linken Jusos im Bundestag müssen an dieser Frage in die Pflicht genommen werden. Gemeinsame Aktivitäten und Bündnisse in Gewerkschaften oder auf regionaler Ebene könnten möglich werden und den innerparteilichen Druck auf Olaf Scholz & Co erhöhen.
Die arbeitspolitischen Maßnahmen des Koalitionsvertrags müssen aber auch in Verbindung mit anderen Politikfeldern betrachtet werden. Die Verarmung von Teilen der Arbeiterklasse beschleunigt sich durch die weiter steigenden Mieten und die neue Stagflation. Die ökologische Katastrophe macht sich zunehmend im Alltag der Massen bemerkbar. Die Zuspitzung der sozialen und ökologischen Probleme erfordert weitaus radikalere Maßnahmen als die, zu denen die neue Regierung bereit ist. Die neue Koalition ist noch nicht einmal gewillt, ihre Steuerpolitik so zu gestalten, dass die von ihr vorgeschlagenen kleinen Erleichterungen finanzierbar werden. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Koalitionsverträge selten mit all ihren Unterpunkten umgesetzt werden. So startete die rot-grüne Bundesregierung 1998 mit großen progressiven Reformvorhaben und legte kurze Zeit später in beispielloser Manier die Axt an den Sozialstaat. Skepsis einer neuen rot-gelb-grünen Regierung gegenüber, die mit dieser Tradition nicht bricht und mit der FDP eine unternehmernahe Partei an Bord hat, ist mehr als angebracht.
Die Gewerkschaften sollten sich also nicht in Hoffnungen auf neue Durchsetzungsmacht durch gute Kontakte zu einer erstarkten Sozialdemokratie im Kabinett verlieren. Die enge Verquickung mit der SPD lähmte zu Beginn des Jahrhunderts den gewerkschaftlichen Widerstand gegen die Agenda 2010 und beschädigte die Gewerkschaften nachhaltig. Die seither erarbeitete kritische Distanz zur Bundesregierung, eigene politische Positionierungen und das Vertrauen in die eigene Stärke dürfen nicht aufgegeben, sondern müssen weiter aus- und aufgebaut werden.