Die Empörung der 99%, die Occupy Wallstreet 2011 unüberhörbar auf den Straßen und Plätzen artikulierte, machte vielen von uns schlagartig bewusst, dass der amerikanische Traum – jene Vorstellung einer selbstbewussten, durch Leistung nach Glück und Reichtum strebenden Mittelklasse – spätestens in der Krise seit 2007 zerbrochen war. Die vielen hochqualifizierten, aber dennoch tief verschuldeten Menschen, die in den Camps zusammenkamen, um ihre Wut auszudrücken und sich zu organisieren, benannten das eine Prozent der Superreichen als alleinige Profiteure der neuen kapitalistischen Ordnung. Sie proklamierten damit zugleich ein gemeinsames Interesse mit jenen besonders prekären Fraktionen der Arbeiterklasse, die ich zehn Jahre zuvor in Arbeit poor beschrieben hatte. Die Klassenverhältnisse haben sich seither neu formiert, und tagtäglich spitzen sich die Widersprüche weiter zu. Die amerikanische Gesellschaft steuert auf einen regelrechten Klassenkrieg zu. Für jene, die arm und in der Maschinerie des repressiven Regimes von Workfare und Kriminalisierung gefangen sind, ist er bereits bittere Realität.

Ein Blick zurück auf die Jahre des Booms

Ich beendete das Manuskript für Arbeit poor in einer Zeit scheinbar unermesslicher  Prosperität. Technologieentwickler und Risikokapitalgeber machten schnelle Gewinne und kauften überdimensionierte Häuser wie jene, die ich in Maine sauber gehalten hatte. Sogar SekretärInnen in manchen High-Tech-Firmen wurden plötzlich reich durch ihre Optionsgeschäfte. Es gab leichtfertiges Gerede über eine permanente Bezwingung der Konjunkturzyklen, und es herrschte ein kecker neuer Geist im US-amerikanischen Kapitalismus. In San Francisco verkündete eine Reklamewand für eine E-Handelsfirma „Make love not war“, und dann unten: „Vergiss es, mach einfach Geld.“ 

Als Arbeit poor im Mai 2001 veröffentlicht wurde, zeigten sich Risse in der Dotcom-Blase, und die Aktienmärkte hatten begonnen zu schwanken. Doch das Buch kam für viele dennoch als Überraschung, sogar als Enthüllung. Immer wieder kamen Leute zu mir und eröffneten eine Unterhaltung mit den Worten „Ich hätte nie gedacht…“ 

Zu meinem eigenen Entzücken erreichte Arbeit poor schnell die Bestsellerlisten und begann Preise zu gewinnen. Besonders wichtig war für mich, dass das Buch auch unter gering Entlohnten breit rezipiert wurde. In den letzten Jahren haben mir hunderte von Leuten geschrieben, um mir ihre Geschichte zu erzählen: Die Mutter eines Neugeborenen, der gerade der Strom abgestellt worden war, die Frau die gerade eine Krebsdiagnose bekommen hatte und keine Krankenversicherung besaß, der soeben obdachlos gewordene Mann, der mir vom Bibliothekscomputer aus schrieb. 

Zu der Zeit, als ich Arbeit poor schrieb, war ich nicht sicher, wie viele Leute betroffen sind – nur dass die offizielle Definition von Armut weit daneben lag. Doch drei Monate nachdem das Buch publiziert war, gab das Economic Policy Institute in Washington D.C. einen Bericht mit dem Titel „Elend in Amerika: Die wahre Geschichte arbeitender Familien“ heraus. Ein verblüffender Anteil von 29 Prozent der US-amerikanischen Familien lebte demnach in Armut. Sie verdienten weniger als ein nacktes Minimaleinkommen, dass gerade einmal Unterkunft, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, Verkehrsmittel und Steuern abdeckte – irgendeine Art Unterhaltung, Essen auswärts, Kabel-TV, Internetnutzung, Urlaube oder Geschenke zu Festtagen nicht eingerechnet. Neunundzwanzig Prozent sind eine Minderheit, aber nicht eine beruhigend kleine, und andere Studien warteten mit ähnlichen Zahlen auf. 

Zehn Jahre später ist die große Frage, ob sich die Dinge für jene im unteren Drittel der Einkommensverteilung gebessert oder verschlimmert haben, also für diejenigen, die die Hotelzimmer sauber halten, in Warenhäusern arbeiten, in Restaurants Geschirr abspülen, sich um die ganz Jungen oder sehr Alten kümmern, und die Regale in unseren Supermärkten auffüllen. Die kurze Antwort ist: Die Dinge sind weit schlimmer geworden, insbesondere seit um 2008 der ökonomische Abstieg begann. Aber auch die Art und Weise, wie die Armut von den (noch) nicht unmittelbar Betroffenen wahrgenommen wird, hat sich verändert. Die Angst, womöglich eines Tages selbst abzurutschen, hat in der Krise massiv zugenommen.

Armut nach dem finanziellen Zusammenbruch

Wenn wir über die Nöte lesen, die Menschen erleiden und über die ich für mein Buch recherchierte – die ausgelassenen Mahlzeiten, den Mangel an medizinischer Versorgung, die gelegentliche Notwendigkeit, in Autos oder Lastwagen zu schlafen –, sollten wir uns klarmachen, dass all dies in der besten aller Zeiten passierte. Die Wirtschaft wuchs, und Jobs, wenn auch dürftig bezahlt, waren zumindest im Überfluss vorhanden. 

Im Jahr 2000 konnte ich einfach direkt von der Straße aus Jobs antreten. Weniger als eine Dekade später waren viele dieser Jobs verschwunden, und es gab eine heftige Konkurrenz um die verbleibenden. Es wäre unmöglich gewesen, mein ›Experiment‹ für Arbeit poor zu wiederholen. 

In den letzten paar Jahren habe ich versucht herauszufinden, was in einer absteigenden Ökonomie mit den working poor passiert war – diesmal durch konventionelle Techniken des Berichtens wie etwa Interviews. Ich begann mit meiner eigenen erweiterten Familie, die etliche Menschen ohne Jobs oder Krankenversicherung einschließt, und schritt dann fort zum Versuch, die Spur einiger der Leute zurückzuverfolgen, die ich während der Arbeit an Arbeit poor getroffen hatte. 

Ich war mit Melissa über die Jahre in Verbindung geblieben, die immer noch bei Wal-Mart arbeitete, wo ihr Lohn von 7 auf  10 Dollar in der Stunde gestiegen war; in der Zwischenzeit hatte jedoch ihr Ehemann seinen Job verloren. Caroline, jetzt in ihren 50ern und teilweise durch Diabetes und Herzkrankheit behindert, hatte ihren faulen Ehemann verlassen und hielt sich durch gelegentliche Reinigungs- und Cateringjobs über Wasser. Keine von beiden schien übermäßig getroffen von der Rezession, aber nur deshalb, weil sie sich ohnehin in einer Situation befunden hatten, die einer permanenten ökonomischen Depression glich. 

Die Aufmerksamkeit der Medien hat sich verständlicherweise auf die »neuen Armen« gerichtet, frühere Angehörige der Mittelklasse, die in der Krise ihre Jobs und/oder ihre Häuser verloren hatten. Doch die Hauptlast der Rezession wurde von der Arbeiterklasse getragen, die sich seit der Deindustrialisierung in den 1980er Jahren ohnehin auf dem absteigenden Ast befand. 

In den Jahren 2008 und 2009 stieg beispielsweise deren Arbeitslosigkeit dreimal so stark an, wie die der Angestellten, und afroamerikanische und Latino-ArbeiterInnen hatten ein dreimal so hohes Risiko, arbeitslos zu werden, wie weiße. ArbeiterInnen im Niedriglohnsektor waren besonders hart getroffen, weil sie keine Rücklagen und Ersparnisse hatten, auf die sie hätten zurückgreifen können, als die Jobs verschwanden. 

Wie haben die ohnehin schon Armen versucht, mit ihrer sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation zurechtzukommen? Ein offensichtlicher Weg ist, bei der Gesundheitsversorgung zurückzustecken. Die New York Times berichtete 2009, dass ein Drittel der US-AmerikanerInnen es sich nicht länger leisten kann, ihre Rezepte einzulösen, und dass es einen beachtlichen Rückgang in der Nutzung medizinischer Versorgung gibt.  Andere, eingeschlossen Mitglieder meiner erweiterten Familie, haben ihre Krankenversicherung aufgegeben. 

Lebensmittel sind eine andere Ausgabe, die in harten Zeiten eingeschränkt wird. Insbesondere die ländlichen Armen halten sich zunehmend an sogenannte Lebensmittel-Auktionen, bei denen abgelaufene Lebensmittel angeboten werden. Und für die, die ihr Fleisch frisch mögen, gibt es die Option der städtischen Jagd. In Racine, Wisconsin, erzählte mir ein 51-jähriger entlassener Mechaniker, dass er seine Ernährung mit dem Schießen von Eichhörnchen und Hasen ergänze und diese in der Suppe, gebacken und gegrillt esse. In Detroit, wo die Wildpopulation zu- und die menschliche Population abgenommen haben, betrieb ein verrenteter Lastwagenfahrer ein reges Geschäft mit Waschbär-Kadavern, die er mit Essig und Gewürzen zu marinieren empfahl. 

Die am weitesten verbreitete Bewältigungsstrategie ist jedoch, einfach die Zahl der zahlenden Personen pro Quadratmeter in der Behausung zu erhöhen, indem man sich einschränkt oder an couch-surfer vermietet. Es ist schwierig, verlässliche Zahlen zu Überbelegungen zu bekommen, da niemand dies gern gegenüber VolkzählerInnen, JournalistInnen oder sonst irgendwem, der auch nur im Entferntesten mit den Autoritäten verbunden sein könnte, zugibt. 

Der Wohnraumexperte Peter Dreier sagte in Los Angeles: »Leute, die ihren Job, oder zumindest ihren Zweitjob verloren haben, kommen zurecht, indem sie ihren Wohnraum doppelt oder dreifach belegen, oder indem sie 50 oder 60 oder sogar 70 Prozent ihres Einkommens für Miete ausgeben.« Einem Gemeindemitarbeiter in Alexandria in Virginia, zufolge hat die Standardwohnung  in einem vor allem von TagelöhnerInnen bewohnten Komplex zwei Schlafzimmer, die jeweils eine ganze Familie mit bis zu fünf Personen beherbergen, plus einer zusätzlichen Person, die eine Couch beansprucht. 

Niemand sollte Selbstmord als ›Bewältigungsstrategie‹ bezeichnen, aber dies ist die Antwort einiger Menschen auf den Verlust des Jobs und wachsende Schulden. Es gibt keine nationalen Statistiken, die Selbstmord mit wirtschaftlicher Not verbinden, aber die Nationale Selbstmordpräventions-Hotline berichtete von einem vierfachen Anstieg des Anrufaufkommens zwischen 2007 und 2009, und Regionen mit besonders hoher Arbeitslosigkeit, wie Elkhart in Indiana, hatten beunruhigende Spitzen in ihren Selbstmordraten zu verzeichnen. Zwangsvollstreckung ist oft der Auslöser für Selbstmord – oder für Kombinationen aus Mord und Selbstmord, die ganze Familien auslöschen.

»Folter und Misshandlung bedürftiger Familien«

Wir verfügen selbstverständlich über ein kollektives Mittel, um die Not von Individuen und Familien zu bessern – ein staatliches Sicherheitsnetz, eingerichtet um die Armen davor zu schützen, gänzlich in die Not abzurutschen. Doch seine Antworten auf die ökonomischen Notlagen der letzten Jahre waren bestenfalls punktuell, ein Tropfen auf den heißen Stein. Das Lebensmittelmarkenprogramm wurde auf etwa 37 Millionen Menschen ausgeweitet, ca. 30 Prozent mehr als vor der Rezession. Doch die Ausgaben für Wohlfahrt – bis zur Reform von 1996 die letzte Zuflucht für die, die unten und draußen sind – wuchsen nur um 6 Prozent in den ersten beiden Jahren der Rezession. 

Der Unterschied zwischen den beiden Programmen? Es gibt ein Recht auf Lebensmittelmarken. Du gehst zum Büro, und wenn die gesetzlich vorgeschriebene Definition von Bedürftigkeit auf dich zutrifft, helfen sie dir. Was Sozialhilfe angeht, können die BürokratInnen nach Gutdünken verfahren. 

Nehmen wir den Fall von Kristen und Joe Parente, EinwohnerInnen von Delaware, die sich stets vorgestellt hatten, dass Leute sich nur an die Regierungsstellen wandten und um Hilfe baten, weil sie  nicht arbeiten wollten. Ihre Probleme begannen eine ganze Weile vor der Rezession, als Joe, ein Installateur in vierter Generation, sich eine Rückenverletzung zuzog, die ihm fortan nicht mehr erlaubte, etwas zu heben. Er fiel für einige Monate in eine tiefe Depression und raffte sich dann auf und bestand eine staatlich unterstützte Umschulung zur Computerwartung mit Bravour – nur um festzustellen, dass diese Fähigkeiten nicht länger nachgefragt werden. Seine Ausweichlösung: Er beantragte eine Berufsunfähigkeitsrente. Doch wurde ihm gesagt, er sei nicht berechtigt, sofern er nicht einen neuen MRI-Test (Kernspintomographie) vorlege. Dieser hätte zwischen 800 und 900 Dollar gekostet, die die Parentes nicht haben; immerhin hatte Joe noch, anders als der Rest der Familie, Zugang zum Gesundheitsdienst Medicaid. 

Als sie im Teenager-Alter geheiratet hatten, war ihr Plan gewesen, dass Kristen mit den Kindern zu Hause bleiben sollte. Aber nachdem Joe außer Gefecht und drei Kinder zu ernähren waren, ging Kristen los und suchte sich Kellner-Jobs. Dann schlug die Rezession zu und sie wurde entlassen. 

Kristen ist heiter, hübsch und, der Organisation ihrer eigenen kleinen Küche nach zu urteilen, wahrscheinlich imstande, ein dutzend Tische korrekt und mit Grazie zu bedienen. In der Vergangenheit gelang es ihr stets, innerhalb von Tagen einen neuen Job zu finden; nun gab es nichts. Wie 44 Prozent der Entlassenen derzeit, scheiterte sie daran, die teuflisch komplexen und mitunter willkürlichen Kriterien für Arbeitslosenunterstützung zu erfüllen. Das Auto der beiden begann zu zerfallen. 

So bemühten sich die Parentes um das, was von der Sozialhilfe noch übrig war: TANF, oder Temporary Assistance to Needy Families (Zeitweilige Hilfen für Bedürftige Familien). TANF bietet, anders als sein Vorgänger-Programm, keine direkte finanzielle Unterstützung. Es ist ein Programm zur Ergänzung des Einkommens arbeitender Eltern, und basiert auf der sonnigen Annahme, dass für diejenigen, die sich genug bemühten, immer reichlich Jobs vorhanden wären. 

Nachdem Kristen den Antrag gestellt hatte, passierte sechs Wochen lang nichts – kein Geld, keine Rückrufe. In der Schule wurde die Siebenjährige der Parentes aufgefordert, einen Aufsatz darüber zu schreiben, was sie sich von einem Flaschengeist wünschen würde, sollte einer auftauchen. Briannas Wunsch war, dass ihre Mutter einen Job finden sollte, da nichts zu essen im Haus sei, ein Verlangen das ihr Lehrer als zu bestürzend ansah, um mit den anderen Wünschen an der Wand aufgehängt zu werden. 

Als die Parentes endlich ›im System‹ waren und Lebensmittelmarken sowie etwas finanzielle Hilfe erhielten, entdeckten sie, warum einige EmpfängerInnen das Programm TANF  Torture and Abuse of Needy Families (Folter und Misshandlung Bedürftiger Familien) zu nennen pflegten. Von Anbeginn an, so berichtet Kristen, war die Prozedur »erniedrigend«. Die FallbearbeiterInnen »behandeln dich wie einen Penner. Sie verhalten sich, als ob jeder Dollar, den du bekommst, von ihrem eigenen Gehalt abginge.« 

Die Parentes stellten fest, dass erwartet wurde, dass sie beide sich wöchentlich auf jeweils 40 Jobs bewarben, obwohl ihr Auto fast den Geist aufgab und es keinerlei Erstattung für Benzin, Mautgebühren oder Kinderbetreuung gab. Überdies musste Kristen täglich 35 Meilen fahren, um an Kursen zu »Arbeitswilligkeit« teilzunehmen, die von einer Privatfirma namens Arbor angeboten wurden und, wie sie sagte, »der reinste Witz« waren. 

Auf nationaler Ebene, so Kaaryn Gustafson von der University of Connecticut Law School, kommt die Beantragung von Sozialhilfe »einer Polizeiverwarnung gleich«. Es kann zur Erfassung von Fotografien der AntragstellerInnen oder ihrer Fingerabdrücke kommen, oder langwierigen Befragungen zur tatsächlichen Vaterschaft der eigenen Kinder. Das vermeintliche Ziel ist, Sozialhilfebetrug zu verhindern. Doch die psychologische Wirkung ist, dass Armut selbst sich in eine Art von Verbrechen verwandelt.

Wie das Sozialnetz zu einem Fahndungsnetz wurde

Das schockierendste, was ich durch meine Forschung über das Schicksal der working poor in der Rezession herausfand, war der Grad, in dem Armut in den USA tatsächlich kriminalisiert worden ist. 

Vielleicht hätten mir die ständigen Verdächtigungen wegen Drogengebrauchs oder Diebstahls zu Bewusstsein bringen sollen, dass in dem Moment, da du die relative Sicherheit der Mittelklasse verlässt, du ebenso gut deine Staatsbürgerschaft aufgeben und ein Leben in einer feindlichen Nation beginnen kannst. 

Die meisten Städte haben beispielsweise Regelungen, mittels derer die Verarmten von der Straße ferngehalten werden sollen, indem notwendige Handlungen des täglichen Lebens wie Sitzen, Herumbummeln, Schlafen oder sich hinlegen verboten werden. VertreterInnen offizieller Stellen behaupten, an solchen Erlässen sei nichts Diskriminierendes: „Wenn Sie auf dem Gehweg liegen, ob als Obdachloser oder als Millionär, verstoßen Sie gegen die Verordnung“, so verlautbarte im Juni 2009 ein Stadtbeauftragter in St. Petersburg, Florida, unintendiert die unsterbliche Beobachtung von Anatole France wiederholend „das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es den Armen wie den Reichen, unter Brücken zu schlafen“. 

Aller Vernunft und allem menschlichen Mitgefühl zum Trotz hat sich die Kriminalisierung von Armut in dem Augenblick verschärft, in dem die geschwächte Ökonomie noch mehr Armut erzeugt. So ergab eine Studie des National Law Center on Poverty and Homelessness, dass sich die Anzahl der gesetzlichen Verordnungen gegen die öffentlich sichtbaren Armen seit 2006 ständig erhöht hat. 

Die Studie listet die zehn »bösesten« Städte der USA auf – von denen die größten beispielsweise Los Angeles, Atlanta und Orlando sind. Doch täglich tauchen neue Anwärter auf. In Colorado erwägt die Stadtverwaltung von Grand Junction ein Bettelverbot; Tempe, Arizona, veranstaltete Ende Juni eine viertägige Razzia gegen die Mittellosen. Und in welchem Fall ist jemand mittellos? Ein Statut in Las Vegas drückt es so aus: »eine mittellose Person ist eine Person, von der eine vernünftige gewöhnliche Person annehmen würde, dass sie berechtigt ist, öffentliche Hilfe zu beantragen oder diese annimmt«. 

Eine solche Person – das könnte ich vor dem Föhnen und dem Auftragen von Eyeliner sein. Ganz sicher aber ist es Al Szekeley zu irgendeiner Zeit des Tages. Der silberhaarige 62-Jährige bewohnt einen Rollstuhl und ist oft auf der Straße in Washington, D.C., anzutreffen –  der Stadt, die schlussendlich die Verantwortung für die Kugel trägt, die ihn 1972 in Vietnam in die Wirbelsäule traf. 

Bis Dezember 2008 genoss er den Luxus eines Bettes in einem geschlossenen Raum – bis die Polizei mitten in der Nacht durch die Notunterkunft rauschte, auf der Suche nach Männern mit ausstehenden Haftbefehlen. Es stellte sich heraus, dass Szekeley, der ein ordinierter Priester ist und nicht trinkt, keine Drogen nimmt, und nicht vor Damen flucht, einen hatte, und zwar wegen „kriminellen Eindringens“, wie das Schlafen auf der Straße manchmal vor dem Gesetz definiert wird. Entsprechend wurde er aus der Unterkunft vertrieben und ins Gefängnis gesteckt. 

»Können Sie sich so etwas vorstellen?«, fragte Eric Sheptock, obdachloser Anwalt und selbst ein Einwohner der Unterkunft, der mich Szekeley vorstellte. »Sie verhaften einen Obdachlosen in einer Notunterkunft, und zwar für Obdachlosigkeit?« Wie bösartig die Abneigung gegen die Armen ist, kann einem den Atem rauben. Vor einigen Jahren begann eine Gruppe namens Essen statt Bomben damit, in Parks im ganzen Land umsonst veganes Essen an Hungrige zu vergeben. Eine Reihe von Stadtverwaltungen, angeführt von Las Vegas, verabschiedete Bestimmungen, denen zufolge das Teilen von Nahrungsmitteln mit Armen in öffentlichen Parks verboten ist – was zum Arrest einiger weißer VeganerInnen mittleren Alters führte. 

Eines der gegen das gemeinsame Teilen gerichteten Gesetze wurde in Orlando erst kürzlich gekippt, doch die Kriegführung gegen gesetzeswidrige Großzügigkeit dauert an. Orlando legt Berufung gegen die Entscheidung ein, und Middletown in Connecticut führt weiter Razzien durch. Gainesville in Florida begann eine Regelung anzuwenden, die die Anzahl von Mahlzeiten, die Suppenküchen ausgeben dürfen, auf maximal 130 Menschen begrenzt, und Phoenix in Arizona, wendet neuerdings ein Zonierungsgesetz an, um eine örtliche Kirche daran zu hindern, Frühstück an Wohnungslose auszugeben. 

Für die noch nicht Wohnungslosen gibt es zwei hauptsächliche Wege in die Kriminalisierung, und einer davon sind Schulden. Jede kann zur Schuldnerin werden, und auch wenn wir uns der Abschaffung der Inhaftierung von SchuldnerInnen in zumindest einem Staat, Texas, rühmen, kann es passieren, dass Leute, die Kosten für ihre abgelaufenen Prüfplaketten nicht bezahlen können, dazu verurteilt werden, ihre »Tickets« im Gefängnis abzusitzen. 

Gängigerweise beginnt der Weg ins Gefängnis in dem Moment, in dem einer von mehreren Gläubigern ein gerichtliches Mahnverfahren einleitet, und du aus irgendeinem Grund, sei es Adressänderung, durch die die Post nicht zugestellt wird, versäumst zu reagieren. Dann hast du dich der »Missachtung des Gerichts« schuldig gemacht. 

Oder stellen wir uns vor, du lässt eine Beitragszahlung aus und die Versicherung für dein Auto verfällt, und dann wirst du wegen eines kaputten Scheinwerfers angehalten (130 Dollar allein für die Glühbirne). Nun, je nach Staat, kann dein Auto beschlagnahmt werden, oder du zahlst eine gepfefferte Strafe – für die du dich wiederum einem gerichtlichen Mahnverfahren gegenübersehen magst. »Es gibt kein Ende der Sache, sobald der Zirkel einmal begonnen hat«, so Robert Solomon von der Yale Law School. »Es beschleunigt sich nur immer mehr.« 

Der zweite – und bei weitem sicherste – Weg, für Armut kriminalisiert zu werden, ist, die falsche Hautfarbe zu haben. Entrüstung brandet auf, wenn eine bekannte Professorin einer Verfolgung oder Beobachtung wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft unterliegt, doch ganze communities werden regelrecht „durchleuchtet“ aufgrund der verdächtigen Kombination, sowohl dunkelhäutig als auch arm zu sein. Schmeiß eine Zigarette weg, und du »verstreust Abfälle auf der Straße«, trag ein T-Shirt der falschen Farbe, und du drückst Loyalität zu einer Gang aus. Nur in einer zwielichtigen Gegend herumzulaufen, kann dich als potentiell Verdächtige ausweisen. Und werde nur nicht ungehalten darüber, oder du »widersetzt dich einer Verhaftung«. 

Und die Regierung baut Einrichtungen ab, die den Armen helfen könnten. Sie forciert stattdessen die Repression: Beende den sozialen Wohnungsbau, mach dann ein Vergehen daraus, obdachlos zu sein. Schaffe keine Jobs, dann strafe arme Menschen dafür, sich zu überschulden. Die Erfahrung der Armen, und vor allem der farbigen Armen, nähert sich derjenigen einer Ratte an, die in einem Käfig versucht, unberechenbar verabreichten Stromstößen auszuweichen. Und falls du versuchst, diesem Alptraum in ein kurzes, drogeninduziertes Hoch hinein zu entkommen, heißt es wieder ›Hab dich!‹, denn auch das ist illegal. 

Ein Ergebnis all dessen ist unsere steigende Inhaftierungsrate, die höchste in der Welt. Heute leben ebenso viele US-AmerikanerInnen – 2,3 Millionen – im Gefängnis wie in Sozialwohnungen. Und was an sozialem Wohnungsbau übrig ist, ähnelt immer mehr dem Gefängnis, mit willkürlichen Polizeirazzien und Drogentests für die BewohnerInnen. Das Netz sozialer Sicherheit, oder was davon bleibt, hat sich zu einem Fahndungsnetz gewandelt. 

Es ist nicht absehbar, ob ökonomische Nöte uns letztlich zwingen werden, den verrückten Zirkel von Armut und Strafe zu durchbrechen. Mit steigender Armutsquote sind einige Staaten dazu übergegangen, die Kriminalisierung von Armut zurückzunehmen, Bewährungszeiten zu verkürzen, und die Anzahl von Menschen, die für technische Vergehen wie das Versäumen von Gerichtsterminen einsitzen, zu verringern. Doch andere, diabolisch genug, ziehen derweil die Schrauben an: Nicht nur durch die Schaffung neuer Straftatbestände, sondern auch, indem Häftlingen für ihre Zelle und ihr Bett Kosten in Rechnung gestellt werden. Das liefert die Garantie, dass sie, wenn sie einmal entlassen sind, mit einem potenziell weiter kriminalisierenden Schuldenstand konfrontiert sein werden. 

Was also ist die Lösung für die Armut so vieler arbeitender Menschen in den USA? Vor zehn Jahren, als Arbeit poor gerade erschienen war, antwortete ich darauf oft mit der liberalen Standard-Wunschliste: Ein höherer Mindestlohn, umfassende Gesundheitsversorgung, erschwingliche Wohnungen, gute Schulen, verlässlicher öffentlicher Verkehr, und all die anderen Dinge, die wir in einer unter den entwickelten Nationen einmaligen Weise vernachlässigt haben. 

Heute scheint die Antwort einerseits bescheidener auszufallen. Andererseits ist die eine noch größere Herausforderung: Wenn wir die Armut reduzieren wollen, müssen wir aufhören, Dinge zu tun, die Leute arm machen und arm bleiben lassen. Hört auf, die Leute unter zu bezahlen für die Arbeit, die sie tun. Hört auf, arbeitende Menschen als Kriminelle zu behandeln und gebt ihnen das Recht, sich für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne zu organisieren. 

Hört mit der institutionellen Belästigung derjenigen auf, die sich um Hilfe an die Regierung wenden oder sich verarmt in den Straßen wiederfinden. Vielleicht können wir uns, wie heute so viele US-AmerikanerInnen glauben, die öffentlichen Programme, die Armut wirklich lindern würden, nicht leisten – wenn ich auch dagegen argumentieren würde. Aber zumindest sollten wir, im Sinne eines schieren Minimalprinzips, damit aufhören, Leute zu treten, wenn sie unten sind. Wir sollten stattdessen die Aufmerksamkeit auf jene lenken, die sich am anderen Ende der sozialen Hierarchie auf geradezu obszöne Weise bereichern.

Die Produktion der 99%

Die ›anderen‹ in der aktuellen Klassenanordnung der USA, das ist jenes eine Prozent, auf das Occupy Wall Street zielte – die Bänker, HedgeFonds-Manager und Generaldirektoren. Sie gab es immer, doch erst in den letzten Jahren erschienen sie als distinkte und sichtbare Gruppe, als die Superreichen. 

Extravaganter Konsum half, die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken: Privatjets, mehrere 4500m2-Prunkhäuser, mit Goldstaub verschönerte Schokoladendesserts. Doch solange die Mittelklasse noch den Kredit fürs College und gelegentliche Verbesserungen am Haus aufbringen konnte, schien es ungehobelt, sich zu beschweren. Dann kam der finanzielle Zusammenbruch von 2007 und 2008, gefolgt von der Großen Rezession, und das eine Prozent, dem wir unsere Renten, unsere Ökonomie, und unser politisches System anvertraut hatten, stand enttarnt als eine Bande von inkompetenten, habgierigen Narzissten und möglichen Soziopathen da. 

Bis dahin waren die 99% noch kaum eine Gruppe, die (wie Thompson sagt) fähig gewesen wäre, »die Identität ihrer Interessen« zu artikulieren. Die Bewegung war nicht nur durch Klassendifferenzen gespalten, sondern am sichtbarsten durch race und Ethnizität – eine Spaltung, die sich seit 2008 vertieft hat. AfroamerikanerInnen und Latinas aller Einkommensgruppen waren überproportional vom Verlust von Wohneigentum durch Zwangsvollstreckung in den Jahren 2007 und 2008 betroffen, und ebenso verloren sie überproportional ihre Jobs in der Welle der Entlassungen, die folgte. Beim Aufkommen der Occupy-Bewegung war die schwarze Mittelklasse bereits zerstört. Im Grunde war die einzige Bewegung, die vor Occupy aus den 99% hervorging, die Tea Party-Bewegung, und auf der anderen Seite des politischen Spektrums der Widerstand gegen die Beschränkungen des Tarifrechts in Wisconsin. 

Doch Occupy hätte sich nicht ereignen können, wenn nicht große Teile der 99% begonnen hätten, gemeinsame Interessen zu entdecken, oder zumindest Differenzen untereinander beiseite zu stellen. Jahrzehnte lang dominierte die am schrillsten propagierte Spaltung der 99% zwischen dem, was die Rechte die „liberale Elite“ nennt – zusammengesetzt aus AkademikerInnen, JournalistInnen, Medienpersönlichkeiten etc. – und praktisch allen anderen. Tom Frank, Kolumnist bei Harper’s Magazine, zufolge, verdiente sich die Rechte ihren falschen Anspruch auf Populismus, indem sie sich gegen diese „liberale Elite“ richtete. Sie beschuldigte diese, unbesonnen Regierungsausgaben auszuweiten, welche dann überhöhte Steuern nötig machten, oder »redistributive« Sozialpolitiken zu befördern, die die Chancen der weißen Mittelklasse beschneiden würden. Die liberale Elite sorge für immer mehr Vorgaben (wie z.B. Schutz der Umwelt) und vernichte so Jobs für die arbeitende Klasse. Schließlich propagiere sie abnorme gegenkulturelle Vorstellungen wie schwule Heiraten. Die ›liberale Elite‹, so konservative Intellektuelle, sah auf die ›gewöhnlichen‹ Amerikaner der Mittel- und Arbeiterklasse herab, fand sie geschmacklos und politisch nicht korrekt. Die Elite war der Feind, während die Superreichen gerade so wie jede sonst, nur »zielstrebiger« und vielleicht ein bisschen besser vernetzt schienen. 

Natürlich machte die Mär von der »liberalen Elite« nie irgendeinen soziologischen Sinn. Nicht alle AkademikerInnen oder Medienpersönlichkeiten sind liberal (Newt Gingrich, George Will, Rupert Murdoch). Etliche gutgebildete mittlere ManagerInnen und hochspezialisierte IngenieurInnen mögen lieber Cafe Latte als Red Bull, jedoch wurden sie niemals zum Angriffsziel der Rechten. Und wie konnten Strafverteidiger Mitglied der ruchlosen Elite sein, wenn es ihre Ehefrauen in Anwaltskanzleien für große Unternehmen nicht sind?

Der Kollaps der Mittelklassen

Der wirklichen Elite begegnete die überwiegende Mehrheit der Amerikaner kaum; das eine Prozent lebt meist abgeschlossen in seiner eigenen Blase aus Privatflugzeugen und gated communities. Die Autoritäten, mit denen die meisten Leute alltäglich zu tun haben, sind Lehrer, Ärzte, Sozialarbeiter und Professoren. Diese Gruppen (zusammen mit dem mittleren Management) besetzen eine weit niedrigere Position in der Klassenhierarchie. Gegen sie gab es reale, langlebige Ressentiments. Diese lenkte die populistische Rechte geschickt gegen die »Liberalen« um. So trugen sie schon maßgeblich zum Scheitern der Rebellion der Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre bei. 

Die Idee der »liberalen Elite« überlebte die Verwüstungen des einen Prozents in Folge der Krise jedoch nicht. Sie wurde durch das Hervortreten der Wall Street-Elite und ihrer Verbrechen in den Hintergrund gedrängt. Im Vergleich zu ihnen waren Fachleute und Manager nur kleine Fische. Der Arzt oder die Schuldirektorin mochte anmaßend sein, die Professorin und der Sozialarbeiter herablassend, aber nur das eine Prozent nahm dir dein Haus weg.

 Schon 2000, sicherlich aber um 2010, verschlechterte sich der Zustand der Klasse von Leuten, die sich aus Sicht der Rechten als liberale Elite qualifizieren ließen. Kürzungen im öffentlichen Budget dezimierten die Reihen ordentlich besoldeter AkademikerInnen. Sie wurden von freien Lehrenden ersetzt, welche für schiere Subsistenzeinkommen arbeiteten. Medienfirmen strichen ihre newsrooms und Redaktionsbudgets zusammen. Anwaltskanzleien begannen mit dem outsourcing von Routineaufgaben nach Indien. Krankenhäuser vergaben Röntgenuntersuchungen an billige ausländische RadiologInnen. Finanzierungen für Nonprofit-Unternehmen im Bereich Kunst und in den öffentlichen Diensten wurden ausgetrocknet. So kam es zur ikonischen Figur der Occupy-Bewegung: Die College-Absolventin mit zehntausenden Dollars Schulden aus dem Studium, qualifiziert und arbeitslos oder mit einem McJob. 

Diese Entwicklungen waren nicht neu. Aber es brauchte den finanziellen Zusammenbruch um den 99% ein Bewusstsein von geteilter Gefahr zu geben. Im Jahr 2008 mochte die Sehnsucht, in einem Jahr eine Viertelmillion Dollar zu verdienen, vielleicht noch halbwegs plausibel erscheinen. Mit der Krise war sie zur Illusion geworden. Plötzlicher Abstieg war zur Erfahrung des Mainstreams in den USA geworden, und sogar einige der verlässlichsten neoliberalen Medienintellektuellen begannen einzuräumen, dass etwas mit dem amerikanischen Traum nicht mehr stimmte. 

Vormals wohlhabende Leute verloren ihre finanziellen Polster, als die Häuserpreise in den Keller fielen. Entlassene Manager mittleren Alters und hochqualifizierte Fachleute stellten verblüfft fest, dass ihr Alter potenzielle Arbeitgeber abschreckte. Schulden für medizinische Behandlungen trieben Mittelklassehaushalte in den Bankrott. Das alte konservative Diktum, dass es unklug sei, die Reichen zu kritisieren oder zu stark zu besteuern, weil wir selbst einmal dazugehören könnten, machte der Erkenntnis Platz, dass die Klasse, zu der wir selbst am wahrscheinlichsten einmal gehören werden, wohl eher die Armen sind. 

Und eine neue Erfahrung trat hinzu: Der Absturz in die Armut konnte mit atemberaubender Geschwindigkeit vor sich gehen. Wir haben wenig sozialstaatliche Mittel, um eine Familie oder ein Individuum vor dem freien Fall zu schützen. Arbeitslosenunterstützung gibt es nicht länger als ein halbes Jahr und ohnehin nur für etwa die Hälfte der Arbeitslosen. Das Sozialwesen wurde vor 15 Jahren so gut wie abgeschafft, und die Krankenversicherung ist von jeher an Erwerbstätigkeit gebunden. 

Wo andere ehemals wohlhabende Nationen ein Sicherheitsnetz haben, haben die USA eine gut gefettete Rutschbahn, die mit alarmierender Geschwindigkeit in die Verarmung führt.

Making Sense of the 99%

Die Occupy-Camps, die 2011 Schwung in etwa 1400 Städte brachten, gaben ein lebendiges  Bild vom wachsenden Einheitsbewusstsein der 99% ab. Hier kamen Tausende von Menschen aus unterschiedlichen Lebenslagen zusammen und lebten gemeinsam auf den Plätzen, ganz so wie die Ärmsten der Armen immer gelebt haben: Ohne Elektrizität, Wärme, Wasser oder Toiletten. Im Verlauf der Ereignisse vermochten sie es, Gemeinschaften der Selbstregierung zu gründen. 

Kann die in den Camps kultivierte Einheit überleben, nachdem Occupy von den Plätzen vertrieben wurde und sich in lokale Zusammenhänge dezentralisierte? (Zu regionalen und lokalen Kämpfen s. Mogilyanskaya in LuXemburg 3/2014; Dreier und Ogmann in 3,4/2013). 

Klasse passiert, wie Thompson es fasst, doch sie passiert am entschiedensten, wenn Menschen bereit sind, sie zu nähren und aufzubauen. Wenn die 99% eine Kraft zur Veränderung der Welt werden sollen, werden wir nicht umhin kommen, uns mit einigen inneren Spaltungen nach Klasse und race zu konfrontieren. Doch dies müssen wir mit Geduld und Respekt tun und immer mit Blick auf die nächste große Aktion – die nächste Demonstration oder Gebäudebesetzung, den nächsten Kampf gegen Zwangsvollstreckung, so wie die Situation es erfordert. 

Dieser Artikel ist eine Reflektion des ›Prekarisierungsklassikers‹ »Nickel and Dimed« (2001), ergänzt durch »The Making of the American 99% and the Collaps of the Middleclass« (zuerst erschienen in The Nation 2011). 

Aus dem Englischen von Corinna Trogisch