»Wir haben’s richtig gemacht. Seht doch, wie es dem Rest Europas ergeht.« Das grimmige Märchen vom erfolgreichen Krisenmanagement der deutschen Regierung sichert relativ breite Zustimmung in der Bevölkerung. Noch. Bei einigen ist es die Hoffnung, es werde schon nicht so schlimm werden, andere halten still aus Angst. Trotz diffuser Unsicherheit, rasant wachsender Ungleichheit und der Verfestigung sozialer Spaltungen bleibt noch genug, um durchzukommen. Wenngleich sich Prekarisierung nicht mehr im selben Tempo ausbreitet wie in den vergangenen 20 Jahren, sind Unsicherheit, Erschöpfung und Hamsterrad alltägliche Begleiter geworden. Wer lange Zeit arbeitslos ist, bleibt es. Die Zahl der von Armut Betroffenen hat sich auf ein Viertel der Bevölkerung erhöht. Wohnraum zu bezahlbaren Preisen wird nicht nur in den Metropolen zum Megaproblem. Zukunftsperspektiven sind für viele unsicher – alles keine Randgruppenphänomene: Die Angst vor dem Abstieg wirkt auch in den vermeintlich abgesicherten Milieus.
Um dieser Kultur der Unsicherheit in einem Mitte-unten-Bündnis (Brie) etwas Attraktives entgegenzusetzen, muss ein »neuer strategischer Anker« (Kipping) her. Es reicht nicht mehr, sich vor allem auf Probleme der Erwerbsarbeit zu fokussieren. Die Lage ist komplexer, denn es geht im umfassenden Sinne um prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse. »Prekarität ist überall«, schrieb Pierre Bourdieu bereits 1997, also lange vor der Agenda 2010. Nach Jahren der Debatte bestehen aber nach wie vor einige offene strategische Probleme.Prekarisierung betrifft nicht nur die Abgehängten
Prekarisierung betrifft nicht nur die Abgehängten
Nach langem Nischendasein in linken Diskursen gewann das ›Phänomen‹ der Prekarisierung mit einer Studie von Gero Neugebauer im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (2007) mediale Aufmerksamkeit. Allerdings mit einer problematischen Engführung: Das Prekariat, das sind die ›Abgehängten‹, das ist die »Unterschicht« (Beck), derer man sich annehmen müsse. Die Beschränkung auf eine kleine (wenngleich wachsende) Gruppe am unteren Rand der Gesellschaft entdramatisierte die sich zuspitzende soziale Frage. Die Mittelschichten seien stabil und zufrieden – das wird bis heute gern wiederholt, vor allem in Zeiten der vermeintlich guten Konjunktur. Dass zwei Drittel der seit der Krise geschaffenen Stellen prekär sind, spielt kaum eine Rolle.
Prekarisierung ist aber längst kein Problem einiger weniger. Sie betrifft illegalisierte migrantische Putzfrauen, Sicherheitskräfte oder Friseurinnen mit Stundenlöhnen weit unter dem Existenzminimum, die Kassiererin auf 450-Euro-Basis ebenso wie den gut ausgebildeten ostdeutschen Leiharbeiter im Ruhrgebiet oder den (schein-)selbständigen Fernfahrer. Sie betrifft ebenso (zwangs-)mobile Kurzzeit-Projektarbeiter in der IT-Industrie, freie Journalistinnen, solo-selbständige Kulturschaffende oder Masseure, befristet beschäftigte Sozialarbeiter und Wissenschaftlerinnen, die Bibliothekarin mit einem Ein-Euro-Job oder das Computer-Proletariat in den Call-Centern. Sie alle unterliegen verschiedenen Formen der Flexploitation, der flexiblen Ausbeutung. Der Unsicherheit unterworfen sind auch die vielen Berufseinsteiger oder -umsteiger, die häufig Karrieren schlecht oder nicht bezahlter Praktika in Kauf nehmen, um irgendwann eine Stelle zu ergattern. Frauen, insbesondere alleinerziehende Mütter und ihre Kinder, sind überdurchschnittlich betroffen. Im Zuge transnationaler Verlagerungen und immer neuer Entlassungswellen sind selbst die Stammbelegschaften nicht mehr sicher. Der Druck – auch durch die Prekären – ist allgegenwärtig. Eine strategische Aufgabe ist es also, die Debatte um Prekarisierung aus ihrer Engführung zu lösen.
Das Prekariat ist vielfach gespalten
Tatsächlich ist eine Vielfalt von Gruppen betroffen. Denn prekär meint nicht nur Arbeits- und Lebensverhältnisse ohne existenzsicherndes Einkommen. Es geht auch um mangelnde Anerkennung der Arbeit und der Person, um betriebliche und soziale Isolierung, mangelnden Sozialversicherungsschutz und fehlende Qualifizierungsmöglichkeiten, um erschwerten Zugang zu oder die Verteuerung von öffentlichen Dienstleistungen und Sozialer Infrastruktur, um Verdrängung durch explodierende Mieten etc. Besonders schmerzlich ist die Planungsunsicherheit für den eigenen Lebensentwurf, was die Familiengründung erschwert. Damit verbunden sind Überarbeitung, die Suche nach dem nächsten Job, ebenso Versuche, mit dem vorhandenen Geld über die Runden zu kommen, hier noch etwas zu sparen, dort noch etwas dazuzuverdienen, einen neuen Auftrag an Land zu ziehen, die Kinder bei der Oma abzustellen, sich gegen die Zumutungen des Job-Centers oder des Vermieters zu wehren. Bei vielen MigrantInnen kommen noch unterschiedliche Formen der Illegalisierung und Entrechtung hinzu. Dies alles führt zu einer massiven Verunsicherung in Bezug auf die individuelle und damit auch die kollektive Handlungsfähigkeit.
Jeder spürt den Druck der Prekarisierung, jede kann es treffen. Doch die vielfältigen Dimensionen prekärer Existenz wirken in sehr unterschiedlicher Weise – je nach Klassenzugehörigkeit, geschlechtlichen, ethnischen, nationalen und anderen Zuschreibungen. Das Prekariat ist als Teil der Lohnabhängigen in verschärfter Weise mit den Bedingungen des Arbeitsmarktes und der Reproduktion ihrer Arbeitskraft konfrontiert. Es steht somit in einem untergeordneten Verhältnis zu anderen Klassenfraktionen. Und die geteilte Klassenlage produziert noch lange kein gemeinsames politisches Bewusstsein. Eine weitere strategische Aufgabe ist also, die Erfahrungen mit Prekarisierung, vor allem auch zwischen den unterschiedlichen Gruppen von Prekären, zu verallgemeinern. So können gemeinsame Interessen, Forderungen und Praxen entwickelt werden. Denn trotz aller Spaltungen bieten sich mehr Berührungspunkte als weithin angenommen (vgl. Candeias 2007).
Das Prekariat ist nicht organisierbar und organisiert sich doch
Es ist »eine Art unmöglicher Gruppe, deren Geburt notwendigerweise unvollendet bleibt«, so Loïc Wacquant (2007, 407), »zerrissen durch spaltende Impulse und zentrifugale Tendenzen, denn jeder sehnt sich danach zu fliehen, nicht Teil davon zu sein« (ders. in diesem Heft). Hier liegt ein strategisches Problem verborgen: Mit welcher Sprache lässt sich das Problem beschreiben, wenn niemand zum Prekariat gehören möchte? Die Unsicherheit wird geteilt, eine positive Umdeutung (wie einst beim Proletariat) steht aber noch aus. Eine angstfreie Perspektive ist noch nicht formuliert.
Angesichts von Entsolidarisierung und individuellen Strategien des »provisorischen Durchwurstelns« (Castel 2000, 357) beschreibt Wacquant den Trend gesellschaftlicher Desintegration. So symbolisiert das Prekariat die vermeintlich Unorganisierbaren, was auch von gewerkschaftlicher Seite lange so gesehen wurde. Wird jedoch die Analyse von Resilienz und Widerständigkeit vernachlässigt, bleiben das durchaus vorhandene Selbstbewusstsein der Betreffenden, die Taktiken des Durchhaltens oder die Subkulturen wechselseitiger Unterstützung unterbelichtet.
Erst in den letzten Jahren rückte die Organisierung der Prekären stärker in den gewerkschaftlichen Fokus: Ver.di etwa experimentiert seit Jahren mit Plattformen für Solo-Selbständige oder mit Organisierungskampagnen in unorganisierten Betrieben und Branchen. Viele der innovativsten Arbeitskämpfe finden mittlerweile in weiblich und migrantisch geprägten Bereichen prekärer Beschäftigung statt, die lange als unorganisierbar galten: vom Einzelhandel bis zur Pflege. Selbst die IG Metall versucht es angesichts der Ausdehnung von häufig gewerkschaftsfeindlichen Unternehmen im Bereich Solar- und Windenergie mit Organizing.
Eine strategische Aufgabe ist es, diese Erfahrungen sichtbar zu machen und systematisch auszuwerten. Entscheidend für den Schritt zur Organisierung ist weniger die Forderung nach höheren Löhnen. Vielmehr führen verletzter Gebrauchswertstolz und missachtete Würde dazu, dass Leid in Wut und Widerständigkeit umschlägt – sofern sie auf attraktive Organisierungsangebote treffen: ob bei Gängelung durch Vorgesetzte wie bei den Janitors (Reinigungskräften) in Los Angeles, bei fehlenden Toiletten wie bei Amazon, bei der Verletzung des Pflegeethos wie bei den Krankenschwestern an der Berliner Charité oder bei enormem Zeit- und Kostendruck in der ambulanten Pflege bis hin zur IT-Branche (vgl. Artus in diesem Heft).
Nicht das Normarbeitsverhältnis, die Prekarität ist Normalität
Lange galt der dauerhaft Vollzeitbeschäftigte, mit umfangreichen sozialen Rechten ausgestattete, häufig gewerkschaftlich organisierte, weiße, männliche ›Arbeitnehmer‹ als der weitläufige Maßstab für ein ›normales‹ Arbeitsverhältnis. Es bleibt umstritten, inwieweit er noch als Orientierung dienen kann: 1. Weil die damit verbundene Normierung einer bestimmten Lebensweise von der Neuen Linken und der Frauenbewegung aus guten Gründen kritisiert wurde; viele verbinden damit eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach den alten Zeiten. 2. Weil das Normalarbeitsverhältnis für viele Jüngere gar kein Bezug mehr ist (wobei die eben kritisierte Sehnsucht trotz mangelnder Erfahrung auch unter Jüngeren zu finden ist). 3. Weil viele nicht mehr so leben und arbeiten möchten, andere Ansprüche für ein gutes Leben und mehr Zeitsouveränität formulieren. Es ist also offen, ob der Bezug auf ein neues ›Normalarbeitsverhältnis‹ – zum Beispiel mit Arbeitsplatzsicherheit und ›kurzer Vollzeit‹ für alle – breit anknüpfungsfähig wäre beziehungsweise wie eine positive Perspektive einer angstfreien Gesellschaft formuliert werden könnte.
Die Interessen von Rand- und Kernbelegschaften müssen verknüpft werden
Die Verunsicherung in den Kernbelegschaften wird besonders spürbar, wenn reguläre Arbeitsplätze durch flexible Beschäftigung, etwa Leiharbeit und Werkverträge, ersetzt werden. Prekäre Arbeitskräfte werden dann als Bedrohung wahrgenommen, Spaltungen zwischen den Beschäftigten vertiefen sich. Flexibilisierung, In- und Outsourcing, hohe Fluktuation und häufige Arbeitsplatzwechsel erschweren stabile Kommunikation, die Herausbildung eines Solidargefühls, von Organisationsstrukturen ganz zu schweigen. Das Vordringen von Leiharbeit oder befristeter Beschäftigung in die Betriebe setzt beide Gruppen in direkte Konkurrenz zueinander (Castel 2000, 355). In nicht wenigen Extremfällen übersteigt die Randbelegschaft zahlenmäßig die Kernbelegschaft um bis zu 200 Prozent.
Lange wurden die Standards der Kernbelegschaften verteidigt, indem der Einsatz von Leiharbeitskräften oder massive Verschlechterung bei den Beschäftigten im Dienstleistungsbereich akzeptiert wurden, also bei Kantinen-, Reinigungs- und Servicepersonal, aber auch in der Buchhaltung oder im Kundenservice. Doch letztlich sind auch die Verhältnisse der unbefristet Festangestellten unsicher geworden. Die permanenten Angriffe von Kapitalseite, selbst in den erfolgreichen Großunternehmen der Automobilindustrie, haben quasi allen Arbeitsverhältnissen nur noch temporäre Gültigkeit verliehen: Die mühsam ausgehandelten Beschäftigungsgarantien, meist gegen Lohnverzicht und längere Arbeitszeiten, gelten für wenige Jahre.
Es schleicht sich ein diffuses Gefühl der Ersetzbarkeit ein, da sich die Externen (LeiharbeiterIn oder Freelancer) in kurzer Zeit als mindestens ebenso leistungsfähig, jedoch flexibler, gefügiger und vor allem billiger erweisen. Ihre Präsenz wirkt disziplinierend (Dörre 2005, 254). Es dominiert die Sorge um den Erhalt des Arbeitsplatzes, so »widerwärtig er auch sein mag« (Bourdieu 2000, 72). Progressive Arbeitspolitiken etwa zur Arbeitzeitverkürzung oder besseren Vereinbarkeit von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit geraten in die Defensive, gehören nicht länger zu den vordringlichen Interessen der Beschäftigten (nicht einmal bei Frauen).
Mittlerweile ist das Problem erkannt. Die IG Metall beispielsweise versucht, LeiharbeiterInnen wieder in die Tarifverträge zu integrieren, mit gleichem Lohn für gleiche Arbeit und mit dem üblichen Urlaubsanspruch, samt Zulagen etc. Doch unter dem Druck drohender Standortverlagerungen und Betriebsschließungen oder bei der nächsten Forderung nach Einsparungen werden die Tarifverträge immer wieder durch Betriebsvereinbarungen unterlaufen, häufig auf Kosten der Randbelegschaften. Sicherten Flächentarifverträge früher die Untergrenze von Lohn- und Arbeitsstandards, markieren sie heute die Obergrenze, die durch betriebliche Vereinbarungen unterschritten werden kann und wird. Es bleibt ein offenes strategisches Problem, wie unter diesem Druck solidarische Praxen von Kern- und Randbelegschaften entwickelt werden können.
Attraktive Angebote statt klassenspezifischer Entmutigung
Die soziale Demokratie als Voraussetzung einer zumindest dem Anspruch nach gleichberechtigten Teilhabe an gesellschaftlichen Entscheidungen wird durch Prekarisierung und Verfestigung sozialer Spaltungen untergraben und führt zur klassenspezifischen Entmutigung des Prekariats. Die Teilnahme an demokratischer Willensbildung ist angesichts mangelnder Einflussmöglichkeiten wenig erfolgversprechend (vgl. Kahrs in diesem Heft).
Wie lässt sich dieser Entmutigung entgegenwirken? Hier könnte die Artikulation der Unzufriedenheit über Interventionen in die konkreten sozialen Alltagsprobleme, getragen vom schwierigen, aber nicht unmöglichen Aufbau solidarischer Strukturen (wie in Spanien oder Griechenland), neue Attraktivität entfalten. Indem Protest mit direkter Verbesserung sozialer Lagen und mit erlebter Selbstermächtigung verbunden wird, könnte erreicht werden, dass die Empörung der Unzufriedenen auf erreichbare Gegner gelenkt wird (statt auf Sündenböcke) und sich weniger von ihnen rechten Protestparteien zuwenden.
Prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse
Das Gegenstück zur Entmutigung ist eine klassenspezifische Ermutigung, wie beispielsweise bei den Wirtschaftsbürgern der AfD oder durch neue Protestformationen wie PEGIDA, die populistische Ressentiment pflegen wie: »Die da oben sind doof und machen sich die Taschen voll« (Harald Schmidt). In Entmutigung und Ermutigung drückt sich eine wachsende Krise der Repräsentation aus. Sie öffnet Raum für antidemokratische und teilweise rassistische Positionen.
Hier geht es um Sorgen, Unbehagen und Unsicherheiten, die sich aus der Prekarisierung des Lebens und der eigenen Reproduktion ergeben. Diese wiederum ist nicht nur Folge prekärer Beschäftigung (oder Nicht-Beschäftigung), sondern einer umfassenden neoliberalen Logik geschuldet: Verbetriebswirtschaftlichung und Ausdünnung des Öffentlichen, Privatisierung von Bildung, Pflege und Gesundheit, Verdrängung infolge explodierender Mieten — theoretisch gefasst als »Akkumulation durch Enteignung« (Harvey).
Verschiedene Kämpfe um Lebensweisen treten in den Fokus, um Wohnen, gute Pflege, öffentliche Soziale Infrastruktur, repressionsfreie Existenzsicherung, Gesundheit und Bildung etc. Sie waren immer präsent, oft überschattet von (klassischen) Arbeitskämpfen. Strategisch stellen sich drei Fragen: Wie lassen sich diese vielfältigen Kämpfe verbinden? Konkret: Wie lassen sich nicht nur solidarische Perspektiven von Kern- und Randbelegschaften, sondern auch zwischen einem vielfältigen Prekariat und der ›bedrohten Mitte‹ entwickeln? Und wie lässt sich darüber hinaus die Grundlage für ein tragfähiges Mitte-unten-Bündnis legen? Neben der bedrohten gibt es nach wie vor eine ›solidarische Mitte‹. Sie fühlt sich angesichts grassierender Entmutigung ›da unten‹ von den ›abgehängten‹ sozialen Gruppen zunehmend entfremdet. Ihr eignes zivilgesellschaftliches Engagement verläuft getrennt davon, organisiert sich um Themen (Stuttgart 21, Castor-Proteste oder Bewegungen für eine ökologische Ernährungsweise und Postwachstum), die an den Bedürfnissen der Prekären als Prekäre vorbeigehen oder sich nicht mit ihren Anliegen verbinden. Eine verbindende Perspektive wäre vielleicht, eine entgeltfreie Soziale Infrastruktur zu fordern. Dies umfasst eine bedingungslose sozialökologische Grundversorgung, etwa in den Bereichen Energie, Trinkwasser, Mobilität und Internet, sowie eine kostenlose Gesundheitsversorgung, Bildung und Weiterbildung und ein Recht auf bezahlbares Wohnen. Das sind Felder, auf denen Kämpfe der solidarischen Mitte (z.B. Initiativen für Rekommunalisierung oder gegen Gentrifizierung) und erneuerte solidarische Netzwerke (z.B. für die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen, gegen Zwangsräumungen und überhöhte Mieten) zusammenkommen könnten. Die entsprechenden Artikulations- und Organisationsformen müssen noch gefunden werden.
Prekarisierung wird durch das autoritäre Krisenregime verstärkt
Kürzungspolitiken, Schuldenbremse und Agenda 2010 wurden den europäischen Nachbarn übergeholfen oder in vorauseilendem Gehorsam von ihnen selbst umgesetzt. Das Ergebnis ist bekannt: eine Spirale des Elends in den Krisenländern. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die Wohlstandsverluste wieder aufgeholt sind. Zugleich übt sich die Bundesregierung weiterhin als Prekarisierungsmotor: Sie besteht – etwa gegenüber der neuen griechischen Regierung – auf Begleichung der (illegitimen) Schulden, auf weitere Kürzungen, Privatisierungen und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Auch hierzulande kehrt der Krisendiskurs zurück: Man dürfe sich nicht auf den Lorbeeren der Agenda 2010 ausruhen. Es bedürfe anhaltender ›Strukturreformen‹, etwa der Durchsetzung diverser Freihandelsabkommen wie TIPP & Co.
Europaweit sind die Kämpfe zurückgekehrt, gegen Austerität und Prekarisierung. Doch eine europäische Koordinierung fällt schwer. Die europäische Linke bekundet ihre Solidarität mit Griechenland und anderen Krisenländern, ist jedoch zu einer gemeinsamen Politik nicht in der Lage. Auch die europäischen Gewerkschaften haben kein gemeinsames Projekt: Insbesondere deutsche Gewerkschaften wie die IG Metall sind zerrissen zwischen ihrer Kritik an der neoliberalen Kürzungspolitik und den Vorteilen, die sie durch ihre Einbindung in das deutsche Krisenmanagement genießen, zulasten anderer Lohnabhängiger. Immerhin gibt es endlich wieder eine deutlichere Positionierung der Gewerkschaften in Deutschland und Österreich: »Griechenland nach der Wahl − Keine Gefahr, sondern eine Chance für Europa«.1 Erneut stellt sich die Frage, ob und welche Praxis dieser Erklärung folgen wird.