100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges sehen wir uns mit neuen Kriegen konfrontiert. Das ist freilich keine Besonderheit des Jahres 2014. Ebenfalls nicht neu ist die Tatsache, dass die politische Linke diesen Kriegen hilflos gegenübersteht. Sie kann den Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg erklären, die geopolitischen und innenpolitischen Interessen analysieren – aber mehr als ein Nein zu Waffenlieferungen und Auslandseinsätzen im Moment des Krieges kann sie nicht anbieten. Die Forderung nach dem Boykott der Geld- und Waffenquellen des IS ist richtig, aber hilft den von deren Terror betroffenen Menschen nicht.
Dieser Boykott hätte dann viel früher einsetzen müssen – wir wissen aber, das dem mächtige Interessen entgegenstehen, die Forderung also kurzfristig zahnlos bleibt. Es entsteht ein Dilemma: Das Prinzip des Auftretens gegen Waffenlieferungen kollidiert mit einiger Wahrscheinlichkeit mit dem Interesse an der Rettung von Menschenleben. Das Beharren auf diesem Prinzip verwandelt sich gleichzeitig, und das ist das Schlimme, in ein Hindernis für eine strategische Diskussion. Das Dilemma ist jetzt im Moment nicht lösbar, jede Lösung ist falsch. Aber – warum sind wir in die Situation gekommen, nur Fehler machen zu können? Das ist die eigentlich interessante Frage – nicht die, ob man bei Prinzipien bleibt oder nicht.
Für Rosa Luxemburg war der Umgang mit dem imperialistisch-kaiserlichen deutschen Staat von einem Prinzip bestimmt: Soweit demokratische und soziale Rechte gewährleistet wurden, war er für sie wichtige Bedingung für den erfolgreichen Kampf der ArbeiterInnen. Insofern war er zu akzeptieren und zu nutzen, ansonsten zu bekämpfen. Krieg und Militarismus sah sie prinzipiell als unvereinbar mit sozialdemokratischer Politik. Sie stützte sich in dieser Bewertung auf einen entscheidenden Faktor: eine mächtige Sozialdemokratie – die durch internationale Massenaktionen 1914 einen Krieg hätte verhindern können. Antikoloniale Kämpfe waren für sie selbstverständliches Recht. Was bedeutet aber dieses Prinzip, wenn eine solche Massenbewegung nicht existiert und wenn es auch nicht um einen klassischen imperialistischen Krieg, sondern um eine Kombination aus spätfeudal-religiös-fundamentalistischem und Stellvertreterkrieg geht? Die Widerspruchskonstellation in den kurdischen Gebieten ist weit komplexer als zu Luxemburgs Zeiten – ähnlich wie übrigens auch im ukrainischen Bürgerkrieg, in dem sich die Linke ähnlich hilflos zeigt. Natürlich ist IS ein Produkt der Politik ›des Westens‹, aber es ist ein Produkt, das nun auch den Interessen ›des Westens‹ im Wege steht. Natürlich spielt die Türkei ihr eigens Spiel, will durch Nichtstun oder auch durch aktive dosierte Unterstützung der IS die Kurden schwächen – egal, welcher Strömung sie nahe stehen – gleichzeitig aber verhindern, dass IS zum Konkurrenten wird. Natürlich steht hinter diesem Krieg ein ganzes Bündel sozialer Fragen, die bis in die Zeiten der Kolonialreiche nachzuverfolgen wäre. Dass in diesem Gestrüpp der Interessen die ›Weltgemeinschaft‹ versagen muss, ist nicht verwunderlich. Die ›Weltgemeinschaft‹ ist eben nun mal eine, die heute von den Interessen des Kapitals – oder wenn man das lieber hört –, des freien Marktes bestimmt wird. Freilich gibt es hier einen gemeinsamen Fluchtpunkt dieser ominösen Gemeinschaft – Alternativen müssen undenkbar und unlebbar gemacht werden. Hin und hergerissen zwischen diesem Prinzip und dem Bewusstsein, dass der IS ein noch schwerer zu fassender Gegner ›westlicher Werte‹ ist, bleibt das Verhalten zu beiden Seiten unentschieden – im Zweifel eher IS-freundlich. Was bedeutet vor diesem Hintergrund das programmatische Prinzip der Ablehnung militärischer Intervention und von Rüstungslieferungen? Als Anleitung zum augenblicklichen Handeln nicht viel. Lediglich die Erinnerung daran, dass der Krieg seine Geschichte hat, die eben eng mit der Funktionsweise der kapitalistischen Globalisierung zu tun hat und dass es andere notwendige Formen der Intervention – etwa die Isolation der Geld- und Waffenquellen des IS – gibt. Das ist eine prinzipielle und richtige Aussage. Verbessern sich damit aber die Bedingungen für den Kampf emanzipatorischer Bewegungen in der betroffenen Region? Das ist unwahrscheinlich. Der IS verfolgt eine Politik der Ausrottung, nicht einfach der Beherrschung. Wenn die Ausrottung der KurdInnen in Kobane zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen in der Türkei führt, so wird das auch nicht gerade die Spielräume für die in den kurdischen Bewegungen präsenten emanzipatorischen Projekte erweitern. Der Fall von Kobane bringt die Türkei – und das ist ja auch das Kalkül der türkischen Regierung – in eine komfortable Situation: Die Gewalt gegen die Kurden, sei es offen, sei es durch gezielte Regulierung der Flüchtlingsströme oder andere Formen des Desorganisation der kurdischen Bewegungen, kann gezielter eingesetzt und wie gehabt als Krieg gegen den Terror legitimiert werden. Der Fall von Kobane wird genau das Ziel der Isolierung der Türkei und der Geldgeber des IS nicht erreichen – die USA und andere westliche Mächte werden ein Arrangement mit ihnen finden, in der die Kurden keine Rolle spielen werden.
Wenn eine programmatische Aussage dieser Komplexität von Widersprüchen nicht gerecht werden kann, ist sie falsch. Die Reduktion aller Konflikte dieser Welt auf den Widerspruch Kapital-Arbeit ist spätestens seit dem sowjetischen Afghanistan-Krieg und dem innersowjetischen Krieg um Nagorny Karabach obsolet. Der von den früheren imperialistischen Kriegen geprägte Pazifismus bietet offensichtlich auch keine Lösung. Dass frühere Marionetten politischer und wirtschaftlicher Ambitionen Eigeninteressen entwickeln und zu konkurrierenden Machtfaktoren werden, ist inzwischen ein Normalfall. Eine Ursache dessen ist nebenbei bemerkt auch die Unfähigkeit der Linken, wirksame Solidarität zu entwickeln. Es rächt sich, dass der Beschluss des Münsteraner Parteitages der PDS nicht als Beginn einer Debatte, sondern als Fixierung einer ewigen Wahrheit behandelt wurde. Die Diskussionen und Aktionen von PDS und LINKER wurden bzw. werden so der Komplexität der Widersprüche nicht gerecht. Das ist es, was sie unglaubwürdig – und ungefährlich – macht.