Ein Projekt wäre notwendig, vergleichbar dem New Deal, in dem sich eine Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppierungen zu einem Bündnis vereinigt hatte. Die Anforderungen an ein solches Projekt sind jedoch hoch: Es müsste sozial tiefere und zeitlich weiter reichende Ziele verfolgen als der New Deal. Kleine Initiativen könnten eine solche Konstellation vorbereiten. Von Seiten der LINKEN gab es den Vorschlag, dass Rot-Rot-Grün im sich neu konstituierenden Bundestag die Zeit vor der Wahl einer neuen Bundesregierung in diesem Sinne nutzen könnte, um mit einer »sozialen Veränderungsmehrheit« (Katja Kipping) erste wichtige Gesetze zu verabschieden. Darin könnten gemeinsame politische Ziele dieser drei Parteien zum Ausdruck kommen – sei es die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns oder die Abschaffung des Betreuungsgeldes. Dieser Vorschlag, konkret und pragmatisch gemeinsame Reformziele auf den Weg zu bringen, wurde nicht aufgegriffen.

Ein linkes Lager?

Wie realistisch ist vor diesem Hintergrund eine Crossover-Perspektive? 2008 und 2009 konnte noch erwartet werden, dass sich SPD und Grüne allmählich für eine Koalition mit der LINKEN öffnen würden. Es gab die Hoffnung, Erfahrungen zu sammeln und Vertrauen zwischen den politischen Akteuren zu bilden, die ab 2013, spätestens 2017, auch im Bund zu einer Koalition führen könnten. Unterstellt wurde und wird dabei, dass es ein linkes Lager gäbe, das, gestützt auf Lohnabhängige, Prekäre, Gewerkschaften und soziale Bewegungen, einem bürgerlichen, konservativen und neoliberalen Lager entgegenstünde. Ein solches linkes Lager hätte eine gemeinsame Grundlage in einem umfassenden gesellschaftlichen Reformprojekt, einer sozial-ökologisch-demokratischen Transformation. Das Verhalten von SPD und Grünen nach den jüngsten Wahlen spricht nicht dafür, dass sich solche Crossover-Hoffnungen in absehbarer Zeit erfüllen werden. Es ist wohl falsch, davon zu sprechen, dass es sich bei SPD und Grünen überhaupt um Parteien eines linken Lagers handelt und dass sie gleichsam die ›natürlichen‹ Koalitionspartner der LINKEN wären. Auch wenn es in beiden Parteien einzelne Personen und Gruppen gibt, die im weitesten Sinn des Wortes eine emanzipatorische und linke Politik verfolgen, so bestimmt dies doch nicht die Logik der Parteien selbst. Beide sind abgeschnitten von den gesellschaftlichen Kräften und Debatten, in denen über Alternativen zum kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus und seiner zerstörerischen Dynamik nachgedacht wird. Die LINKE hatte sich während der gemeinsamen Regierungszeit von SPD und Grünen als Partei ausdrücklich gegen deren neoliberale Politik gegründet. Nur eine deutliche Akzentverschiebung und ein anderes Führungspersonal könnte die Grundlage für ein gemeinsames sozial-ökologisches Projekt bilden. Danach sieht es gegenwärtig nicht aus. Eher lassen sie sich als Parteien der Mitte verstehen.

Die SPD und das etatistische Allgemeine

Die Bundestagswahl kannte nur Deutsche, keine Parteien. Mit Ausnahme der Partei Die LINKE. Alle anderen nahmen in Anspruch, das deutsche Gesamtinteresse zu vertreten. Die FDP stilisierte sich als Stimme der Freiheit, für die nun, nach ihrer Wahlniederlage, niemand mehr sprechen würde. Die CDU/CSU beansprucht ohnehin, die Anliegen Deutschlands, seiner Bevölkerung und der Mitte wahrzunehmen: Gemeinsam erfolgreich für Deutschland, damit es ein starkes und erfolgreiches Land bleiben kann. Die VertreterInnen der SPD waren vor den Wahlen etwas beleidigt, weil Kanzlerin Merkel ihnen europapolitische Unzuverlässigkeit vorgeworfen hatte. Das wurde von Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel immer wieder zurückgewiesen. Sie hätten in Verantwortung für den Staat und für Deutschland gehandelt (die Reform des Arbeitsmarkts, die Rettung der Banken) und würden dies auch weiter tun. Da war sie wieder, die Angst, als vaterlandslose Gesellen zu gelten. Das Bekenntnis zur staatlichen Verantwortung war schnell parat, der Etatismus brachte sich zur Geltung, der die Sozialdemokratie seit 150 Jahren kennzeichnet und sie zu so vielen problematischen Entscheidungen getrieben hat. Seit der Godesberger Wende handelt die SPD nicht mehr im Interesse der lohnabhängigen Klasse, aber sie argumentiert auch nicht mehr wie eine Volkspartei, die einen demokratisch popularen Block der Menschen von unten bildet und das Interesse des Volkes gegen die Herrschenden, die Reichen organisiert. Das war Anfang der 1970er Jahre unter Willy Brandt noch der Fall; die Perspektive einer sozial-ökologischen Erneuerung, wie sie von Björn Engholm oder Volker Hauff, den ›Enkeln Willy Brandts‹, ansatzweise verfolgt wurde, wurde unter Schröder vertan. Die SPD tritt nicht ein für ein Partikularinteresse und einen politischen Kampf, es zu verallgemeinern; vielmehr möchte sie sich direkt auf dem Niveau des vom Staat definierten gesellschaftlichen Allgemeinen sehen. Damit folgt sie dem bürgerlichen Tabu über den Egoismus. »Die Kritik am Egoismus paßt besser in das System dieser egoistischen Wirklichkeit als seine offene Verteidigung; denn es beruht in steigendem Maß auf der Verleugnung seines Charakters; das öffentliche Gelten der Regel wäre gleichzeitig auch ihr Untergang.« (Horkheimer 1936, 18) Den Standpunkt der Allgemeinheit vermag jedoch in dieser von gegensätzlichen Interessen zerrissenen Gesellschaft niemand einzunehmen, er steht nicht zur Verfügung – weder staatlich als Allgemeininteresse, noch moralisch als eine allgemeine Norm. Es bedürfte ganz neuer Koordinaten gesellschaftlichen Handelns, damit sich das Partikulare mit dem Universellen verbinden könnte. Wenn die SPD im Namen des Staates argumentiert, werden viele an Kriegseinsätze denken und daran, dass sie vermeintlich realitätstüchtig immer wieder bestrebt ist, die weltwirtschaftlichen Zwänge als Imperativ der Wettbewerbsfähigkeit direkt und in aller Härte an die Gesellschaft weiterzugeben, an die Deregulierung des Finanzmarktes, um Investoren anzuziehen, an die Umgestaltung des Arbeitsmarktes durch die Agenda 2010, durch Schaffung eines Niedriglohnsektors, durch Abbau der Rechte von Arbeitslosen, daran, dass wir uns angeblich die sichere Rentenversorgung nicht mehr leisten könnten, an die Rede über Exzellenz und wissenschaftliche Leuchttürme oder die Zwölf-Jahres-Beschäftigungsfrist für WissenschaftlerInnen. Moralische Normen wie die der sozialen Gerechtigkeit sind vage und in der philosophischen Diskussion durchaus umstritten. Es war paradox genug, dass die SPD sich auf sie bezog. Denn in welcher Weise konnte sie bei den Wahlen einen solchen Bezug glaubwürdig vertreten? Mussten das nicht viele WählerInnen für zynisch halten? Hatten Gerhard Schröder und etliche Mitglieder aus seinen Kabinetten nicht deutlich gemacht, dass sie nach 16 Jahren Kohl-Regierung und geistig-moralischer Wende den Neoliberalismus noch radikaler fortsetzen würden; dass sie bereit waren, ihre politische Glaubwürdigkeit direkt oder durch zahlreiche Nebentätigkeiten indirekt an die Wirtschaft zu verkaufen? Es ist eine eigene, die ganze Politik korrumpierende Art und Weise, den kategorischen Imperativ Kants auszulegen, demzufolge die Maximen des eigenen Handelns allgemeines Gesetz werden sollten. Zum Sinn von Demokratie gehört, dass partikulare Interessen gerade nicht geleugnet werden, sondern dass in einer konfliktreichen Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen, Verbänden, sozialen Bewegungen oder Parteien sich ein Gesamtinteresse herausbildet, das von einer breiteren Koalition gesellschaftlicher Kräfte getragen wird. Die Bestimmung dieses gesellschaftlichen Gesamtinteresses wird notwendig auch weiterhin prekär bleiben, weil die besonderen Interessen zu einem erheblichen Teil nicht angemessen berücksichtigt werden oder durch getroffene Entscheidungen neue Interessen entstehen, die auf eine weitere und neue politische Willensbildung drängen. Auch hier hat die SPD unter Schröder mit der sogenannten Basta-Politik, mit der Rede davon, dass Entscheidungen in demokratischen Verfahren nur zerredet würden, reichlich Schaden angerichtet: Prozesse wurden blockiert. Äußerungen von einzelnen SPD-PolitikerInnen oder ihre Praxis legen nahe, dass sie gegenüber sozialen Bewegungen oder Linken eine Politik mit administrativen Mitteln verfolgen, um Führung von oben zu erlangen. Das Personal wurde nicht wesentlich erneuert, es handelt sich weiterhin um diejenigen, die die Agenda-Politik mitgetragen haben und sich selbst für diese mutigen Reformen loben, die sie vielen Menschen zumuten.

Ende des Klassenkompromisses

Die Probleme für einen Crossover liegen jedoch tiefer als die Kontinuität des Personals, die Bindung an frühere Entscheidungen oder machtpolitische Kalküle. Der Personalwechsel müsste mit einer theoretischen und politischen Besinnung auf die Grundlagen einer heutigen Reformpolitik selbst einhergehen. Es geht insbesondere um zwei Säulen der Reformpolitik, die ihre Tragekraft verloren haben, weil ihnen zunehmend die gesellschaftlichen Grundlagen fehlen: die parlamentarische Demokratie und der Sozialstaat. Mit beiden Zielen war historisch insbesondere die Sozialdemokratie verbunden – das bürgerliche Lager wollte weniger, die Linke wollte mehr. Die partikularen Interessen des Bürgertums, das den Staatsapparat für sich beanspruchte, sollten nach sozialdemokratischer Vorstellung durch das wirkliche Allgemeininteresse des Volkes, das mittels allgemeiner und gleicher Wahlen zur Geltung käme und die Gesetzgebung bestimmte, begrenzt oder zurückgewiesen werden. Mithilfe des Interventionsstaates und einer Vielzahl von wirtschaftspolitischen Instrumenten – progressive Besteuerung und hohe Kapitalsteuern, Sozialtransfers, Wirtschaftslenkung durch Investitionsförderung oder Wettbewerbspolitik, staatliche Nachfrage, breiter öffentlicher Sektor, Förderung von Bildung und Forschung, Stärkung der Arbeitnehmerrechte und der Gewerkschaften – sollte die demokratische Beteiligung am Staat und die Fähigkeit zur Willensbildung des Volkes gestärkt sowie der gesamtwirtschaftliche Kreislauf gegen Krisen verteidigt und auf einen stabilen Wachstumspfad gebracht werden. Schon seit langem konnte von der Regulationstheorie gezeigt werden, dass das nicht dauerhaft funktionieren und die fordistische und die ihr folgende postfordistische, finanzmarktdominierte Akkumulation und die neue Tendenz einer sich globalisierenden kapitalistischen Ökonomie zu einer umfassenden Krise der kapitalistischen Gesellschaftsformation führen würde. Der wohlfahrtsstaatliche Reproduktionsprozess konnte nicht mehr gelingen, er verlor schleichend die Grundlage. Der Versuch von Clinton, Blair oder Schröder, den Sozialstaat durch harte Workfare-Maßnahmen abzusichern, musste den umfassenden Wohlfahrtsklassenkompromiss verletzen und damit wichtige Grundlagen der Demokratie aushöhlen: Einschränkung des öffentlichen Dienstes durch Verschlankung und Privatisierung; Spaltung der Lohnabhängigen in einen hochqualifizierten Sektor, in Kernbelegschaften und in einen breiten Niedriglohnbereich etc.

Kritik aus den eigenen Reihen

Das Bemerkenswerte an neueren Veröffentlichungen wie der von Wolfgang Streeck (2013) ist, dass nun auch aus der Sozialdemokratie heraus diese Einsichten vertreten werden. Streeck, vor Jahren noch enger Berater von Gerhard Schröder und an der Ausarbeitung einer neoliberalen sozialdemokratischen Politik maßgeblich beteiligt, zeigt, dass die Wirtschaftspolitik seit Ende der 1960er Jahre verfehlt war. Sie lief letztlich nur darauf hinaus, die unvermeidlichen kapitalistischen Krisentendenzen auf die Zukunft zu verlagern und Zeit zu kaufen. Nach Ende des Wiederaufbaus ab Mitte der 1960er Jahre durchlief die Wirtschaft der BRD ebenso wie andere wichtige OECD-Staaten einen umfassenden kaskadenartigen Krisenzyklus. Die Lösung der Krise auf einer Stufe schuf die Bedingungen für den Ausbruch der nächsten Krise auf höherem Niveau: Der Inflation in den 1970er Jahren folgte die Staatsverschuldung und schließlich die Privatverschuldung (vgl. Streeck 2013, 72ff). Am Ende mündete diese Tendenz in die Finanzkrise mit ihren eigenen heteromorphen Krisenmerkmalen (Immobilienkrise, Bankenkrise, Staatsschuldenkrise, Krise der Eurozone). Die Dynamik der sozialdemokratisch-keynesianischen Wirtschafts- und Antikrisenpolitik seit den späten 1960er Jahren hat die Grundlagen des sozialdemokratischen Projekts selbst untergraben. Es war nicht mehr auf das Ziel des Sozialismus ausgerichtet, weil es so schien, als könne mittels Reformpolitik und Eingriffen in den Wirtschaftskreislauf eine demokratische Entwicklung in Gang gesetzt werden, die sich auf eine breite Allianz immer besser ausgebildeter sozialer Gruppen stützen konnte. Weder wurde mit starkem Widerstand von Seiten des bürgerlichen Lagers gerechnet, das eine Anspruchsinflation bei der lohnabhängigen Bevölkerung erwartete und bekämpfte  – höhere materielle Entschädigung, geringere Folgebereitschaft, sich in eine von oben vorgegebene Arbeitsteilung einzufügen, Veränderung der Lebensformen und starke Wünsche nach Bildung und demokratischer Beteiligung –, noch damit, dass solche Kreisläufe ihre eigenen Widersprüche hervorbringen würden: hohe Exporte und damit Ungleichgewichte, hoher Ressourcenaufwand und entsprechende Outputs mit negativen Folgen für die Umwelt sowie gesundheitliche, zeitliche und emotionale Belastungen für die Lohnabhängigen. Die krisenhafte Tendenz seit den 1960er Jahren habe, so Streeck, die kapitalistische Wirtschaft von der politischen Regulierung befreit und die enge Verbindung von Kapital und Demokratie aufgelöst. Zu Recht ist er der Ansicht, dass es einer grundlegenden Neubestimmung des Verhältnisses von Politik und Ökonomie mittels eines Totalumbaus des Staatensystems – insbesondere in Europa – bedürfte (ebd., 76), aber vor den Konsequenzen weicht er zurück. Im Angesicht der Krise, die die sozialdemokratischen »Zauberlehrlinge« politisch mit bewirkt haben, will er zurück zum Nationalstaat. Im Widerspruch zu eigenen früheren Analysen gibt er zu verstehen, wirtschaftliche Prozesse und staatliche Entscheidungskompetenz könnten im Nationalstaat wieder zusammengeführt werden. Doch angesichts des wachsenden Maßes an globaler Vergesellschaftung, angesichts der Energie- und ökologischen Krise in all ihren Facetten (Klima, Verwüstung, knapper werdendes Wasser, Erwärmung der Ozeane, geringere Biodiversität), erscheint dieser Vorschlag unrealistisch und kaum problemadäquat. Die einzige Lösung erwägt Streeck nicht ernsthaft: nämlich die demokratische Kontrolle der Antriebskräfte einer auf Verwertung von Wert, von Erzeugung von monetärem Reichtum um des Reichtums willen basierenden Produktionsweise, so dass die Möglichkeit der Veränderung der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten geschaffen würde.

Auf dem Weg zu einem neuen gesellschaftlichen Allgemeinwillen?

Es bedarf also der Formierung eines neuen gesellschaftlichen Allgemeinwillens für einen sozialen, ökologischen, demokratischen Entwicklungspfad. Damit verbindet sich ein strategisches Dilemma. Ein solcher neuer Allgemeinwille setzt eine Abspaltung und Polarisierung voraus, also die Einsicht der vielen, dass es so nicht weitergehen kann, die Einsicht, dass so weiterzumachen für die meisten Menschen eine Katastrophe darstellt, die am Ende alle treffen wird. In Deutschland sind die meisten Menschen beunruhigt und äußern Angst. Sie wissen, dass die Ruhe eine Scheinruhe ist, aber in der Zwischenzeit profitieren viele davon, dass die deutsche Wirtschaft die Krise gut überstanden hat. Das korrumpiert; und gerade deswegen wird die Einsicht in die wirklichen Verhältnisse weiter und weiter mit Ressentiment und kulturindustriellem Zeitvertreib abgewehrt. Der Gestaltungs- und Kontrollverlust über die globale Situation führt paradoxerweise zum Vertrauen gerade in die Kräfte, die maßgeblich zur Erhaltung der Misere beitragen und von ihr profitieren. Man rechnet sich offensichtlich aus, dass der Gehorsam wenigstens ein bisschen ökonomische Sicherheit abwirft. Es handelt sich also um ein komplexes strategisches Dilemma: So, wie in den letzten Jahrzehnten politisch gehandelt wurde, wird es nicht weiter möglich sein; ebensowenig wird es ein Zurück geben, auch wenn manche Linke das glauben, wenn sie davon sprechen, dass der Neoliberalismus nur eine Ideologie, nur ein Glaube sei. Doch ein Glaube kann bedeutende und nachhaltige Praktiken hervorbringen, der Kapitalismus hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren verändert und ist in eine ganz neue historische Phase eingetreten. Die Formulierung deutlicher Alternativen wäre notwendig, und gleichzeitig schrecken viele – bis hinein in die Linke  – davor zurück, weil sie die Ungewissheit bedrohlich finden. Warum sollten sie das Gute, was sie haben, für das Versprechen eines Besseren aufgeben, wenn sie befürchten müssen, dass dann alles schlechter sein würde? Das ist eine Frage des Vertrauens der Individuen und sozialen Gruppen in die eigene und gemeinsame Kompetenz zur tiefer ansetzenden und langfristig angelegten demokratischen Lösung der Probleme. Dieses Vertrauen zu bilden, ist eine der entscheidenden Aufgaben der Linken, die allein in einer langfristigen, kontinuierlichen und verlässlichen Praxis im politischen Alltag zu bewerkstelligen ist. Sie steht in einem konfliktreichen Verhältnis zu den beschleunigten und vielfach engen Zeithorizonten, die die herrschenden Verhältnisse lassen. Diese Aufgabe kann die Linke auch nur allein bewältigen. Sie hat keine ›natürlichen‹ Koalitionspartner. So wie SPD und Grüne sich offen halten, mit wem sie zukünftig koalieren wollen, muss dies auch für die Linke gelten. Das mag merkwürdig klingen. Aber wenn SPD und Grüne sich stärker in der Mitte positionieren, dann bedeutet dies auch, dass die LINKE sich nicht einseitig auf ein Crossover-Projekt mit SPD und Grünen festlegen kann. Vielmehr geht es dann darum, auf der Grundlage eines umfassenden Projekts auf der Höhe der Zeit politische Koalitionen von Fall zu Fall zu verfolgen. Auf kommunaler oder Landesebene, wo die LINKE ja in einigen Bundesländern durchaus den Charakter einer Volkspartei erreicht, kann dies gegebenenfalls auch Absprachen mit konservativen Kräften beinhalten. Vor allem aber bedarf es einer Politik, die allen plausibel macht, dass allein eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse Bedingungen dafür schaffen kann, keine Sorge und Angst um sich, die Kinder und die gesellschaftliche Zukunft mehr haben zu müssen.   Literatur Horkheimer, Max, 1936: Egoismus und Freiheitsbewegung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt/M, 1988 Streeck, Wolfgang, 2013: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin