Doch er ist nicht zufrieden. Von Beginn an wollte er seine »politische Revolution« nicht auf die Wahlkampagne beschränken. Vielmehr gelte es auch bei gewonnener Präsidentschaft eine Bewegung voranzubringen, die Druck macht für eine progressive Politik gegen den Wall-Street-Washington-Komplex. Doch wie geht es jetzt weiter mit der Bewegung? Seine Kampagne war auch eine Rebellion gegen das Parteiestablishment der Demokratischen Partei. Wie geht es jetzt weiter mit der Erneuerung der Partei? Hillary Clinton? Sie haben Differenzen, doch er unterstützt sie: Denn Donald Trump muss verhindert werden. Doch wie wird das Verhältnis mit Hillary Clinton sein, falls sie die Wahlen für sich entscheidet?

Bernie Sanders: Ich betrachte die Zukunft dieses Landes mit weit mehr Optimismus als zu Beginn meiner Kampagne. Wir haben so fantastische Leute getroffen, die über den Tellerrand hinaus denken, die verstehen, dass das Establishment unserem Denken Grenzen auferlegt, darüber, was wir für machbar halten und uns zutrauen. Leute, die wissen, wir können weit, weit mehr zuwege bringen.

Vor mehr als zwei Jahren bereiteten Sie sich gerade auf die Kandidatur vor und meinten: »Ich muss hinausgehen und mit den Leuten reden, und herausfinden, ob sie bereit sind.« Hatten Sie Befürchtungen, ein großes Risiko einzugehen – zu einer Zeit, als Ihre Umfragewerte bei drei Prozent lagen?

BS: Ich wollte keine Kampagne beginnen, die sich als kontraproduktiv für die progressive Vision, die so viele Menschen in diesem Land teilen, herausstellen würde. Wenn wir eine schlechte Kampagne gemacht hätten, für eine Gesundheitsversorgung für alle und für öffentliche Colleges und Universitäten ohne Gebühren und für progressive Besteuerung, und wir keinen Erfolg gehabt hätten bei Umfragen, was hätte dann das Establishment gesagt? »Bernie Sanders kam mit all diesen fortschrittlichen Ideen, keiner hat ihm Gehör geschenkt – das ist es nicht, worum sich die Sorgen der Menschen drehen. Diese Ideen bewegen die USA nicht.«

Eine gescheiterte Kampagne hätte sich sehr negativ auf die Vision niederschlagen, die viele von uns teilen. Wir hätten unsere Vorstellung eines demokratischen Sozialismus, einer guten Gesellschaft, lächerlich gemacht. Das war ein großes Risiko. Deshalb war ich, waren wir, motiviert und entschlossen.

Haben Sie etwas über die USA herausgefunden, was Ihren Kritikern entgangen ist?

Ich glaubte aus tiefstem Herzen daran, dass unsere Vorstellungen nicht einfach nur große Ideale waren, sondern etwas, was die meisten Amerikaner*innen unterstützen würden, wenn sie die Chance hätten, davon zu erfahren – eine Chance, die sie unter normalen Umständen nicht haben. Sie können sich die nächsten 14 Jahre CNN ansehen, ohne eine Diskussion über die Notwendigkeit eines ausschließlich staatlich finanzierten Gesundheitssystems für alle zu sehen. Sie sehen keine Kritik der Pharmaunternehmen, und kaum etwas über Einkommensungleichheit. Meine Ansicht war, dass wenn es uns gelänge, die Menschen in Amerika zu erreichen, wenn wir die notwendige Aufmerksamkeit bekämen, persönliche Kontakte knüpfen könnten, dass wir dann viel erreichen könnten.

Sie waren Senator eines kleinen Bundesstaates und mussten sich zunächst der ganzen Bevölkerung des Landes vorstellen.Waren Sie überrascht, frustriert oder ärgerlich über die Zweifel an Ihrem Einsatz für Bürgerrechte, an Ihrem Einsatz gegen Rassismus und für racial justice?

Was ich nicht vorausgesehen hatte, war das Ausmaß, in dem meine Kampagne an bestimmte Generationen gebunden war. Unser Erfolg bei Jungwähler*innen war  phänomenal, und gegen Ende der Kampagne gewannen wir auch die Stimmen der jungen afroamerikanischen Wähler*innen. Darauf bin ich sehr stolz. Aber bei den Älteren hatten wir ungleich weniger Erfolg, insbesondere unter älteren schwarzen Frauen. Im Vergleich zur Zustimmung von acht oder neun bei jungen Wähler*innen kamen wir in dieser Gruppe nur auf eine Stimme. Ich möchte nicht zu viel hineininterpretieren. Bill Clinton war populär in der afroamerikanischen Community, und das übertrug sich auf die Popularität Hillary Clintons. Sie kannten die Clintons über Dekaden hinweg. Im Süden kannten sie sie als die First Lady von Arkansas. Wir hingegen traten als völlig Unbekannte auf. Wir blieben in der afroamerikanischen Community hinter unseren Hoffnungen zurück. Doch wir gewannen gegen Ende der Kampagne junge afroamerikanische Wähler*innen, vor allem aber bei Latinas und Latinos. Wir haben in beiden Communities einen langen Weg zurückgelegt. Doch es braucht mehr Zeit, um die tiefen Gräben zwischen den Bevölkerungsgruppen in den USA zu überbrücken.

Was haben Sie von der Bewegung Black Lives Matter gelernt?

Ich habe mich mit zahlreichen Black Lives-Aktivist*innen in verschiedenen Staaten unterhalten. Dabei erfuhr ich, dass die Beziehung zwischen Polizei und schwarzer Community noch fürchterlicher und ernster ist, als ich ursprünglich angenommen hatte, überall im Land. Die Einschüchterung durch die Polizei, das Erschießen Unbewaffneter, dieser Frevel, dass Menschen kaltblütig erschossen werden – all das drängte uns dazu, das, wie ich glaube, konsequenteste Vorhaben zu einer wirklichen Reform von Polizei und Justiz zu entwickeln.

Aber das reicht nicht aus. Ich glaube auch an das, woran Martin Luther King Jr. geglaubt hat. Erinnern Sie sich an den Titel des Marsches auf Washington: »Arbeit und Freiheit«. King hatte verstanden, dass wir uns um die ökonomischen Interessen ebenso kümmern müssen wie um politische und Bürgerrechte. Während der ganzen Kampagne haben wir versucht, dies zusammenzubringen, denn unter jungen Afroamerikanern liegt die Arbeitslosigkeit bei 30 bis 40 Prozent. Die jungen Leute haben keine Jobs, sie haben keine Zukunft. Dieser Perspektivlosigkeit müssen wir uns genauso annehmen wie der Polizeibrutalität oder der Unterdrückung von Wähler*innen, und jedem weiteren Angriff auf die afroamerikanische Community.

Als Sie Ihre Kampagne begannen, sagten Sie, Sie hätten keine Angst vor dem Wort Sozialismus. Hätten Sie die haben sollen? Hat das Ihrer Kampagne geschadet?

Nein. Dies ist möglicherweise einer der Gründe, weshalb wir bei älteren Wähler*innen nicht ganz so erfolgreich waren. Das ärgert mich persönlich, denn was den Kampf für die Belange älterer Bürger*innen angeht sind wir anderen sicher weit voraus. Wir streiten gegen Einschnitte bei der sozialen Sicherheit. Aber einige Ältere verwechselten den Begriff »demokratischer Sozialismus« mit Erzählung über den »Kommunismus«, die Sowjetunion und das »Reich des Bösen«. Doch bei den jüngeren Menschen ist das ganz anders und ich bin froh, dass mit der Kampagne die Unterstützung für einen demokratischen Sozialismus gewachsen ist. Über die Kampagne hinweg haben wir nicht nur versucht, den moralischen Wert der Positionen zu vermitteln, die wir etwa in Sachen Armut oder Gesundheitsversorgung vertreten, sondern auch zu sagen: »Wisst ihr was? Diese Ideen sind bereits in vielen anderen Ländern der Welt realisiert. Bernie Sanders ist nicht letzte Nacht mit einer großartigen Idee erwacht, allen eine Gesundheitsversorgung als Recht gesetzlich zu garantieren. Eigentlich ist das in allen Industrieländern und darüber hinaus der Fall – außer in den USA. Ihr wisst es nicht, weil die Medien vergessen haben, es euch zu sagen. Doch es ist so: In Dänemark haben Gewerkschaften einen Mindestlohn von umgerechnet 20 US-Dollar pro Stunde erkämpft. In Deutschland geht ihr umsonst zur Uni. In Finnland bekommt ihr im Grunde Geld dafür, dass ihr zur Uni geht. Nun, ihr wisst es nicht, weil CBS vergessen hat, es euch zu sagen. Doch dies ist die Realität.« Und dann denken die Leute: »Vielleicht ist das gar keine so verrückte Idee. Vielleicht sind die Deutschen nicht ganz blöd. Vielleicht investieren sie in ihre jungen Leute, so dass sie die am besten ausgebildeten Arbeitskräfte haben.«

Sie unterstützen nun Hillary Clinton. Einige Ihrer Unterstützer*innen fühlen sich verraten. Was sagen Sie denen jetzt?

Ich bin Senator der Vereinigten Staaten: Das erste, worüber ich nachdenken muss, ist: Was bedeutet eine Präsidentschaft Donald Trumps für die  Bevölkerung meines Staates, und die meines Landes? Und für die Welt? Ich glaube, sie wäre ein absolutes Desaster. Deshalb muss ich alles in meiner Macht stehende tun, damit Trump nicht Präsident wird.

Nun habe ich starke Meinungsdifferenzen mit Hillary Clinton? Das weiß jede*r. Es geht nicht darum zu sagen, Hillary Clinton sei die Beste, sie sei großartig, wunderbar, hervorragend. Wenn wir uns aber praktisch alle für die Menschen in diesem Land wichtigen Themen ansehen – Punkte wie die Gebührenfreiheit von Colleges und Universitäten – tritt Clinton inzwischen klar dafür ein, dies für Leute mit einem Einkommen von weniger als  125.000 US-Dollar pro Jahr zu verwirklichen. Wissen Sie was? Das ist ziemlich revolutionär. Es wird die Leben von Millionen von Familien in diesem Land verändern. Das ist es, wofür Clinton steht. Sie spricht sich für die Verdoppelung von Gemeindegesundheitszentren im Land aus, was bedeuten wird, dass Millionen von Leuten, armen Leuten, die jetzt keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung haben, ihn erhalten. Ist das bedeutsam? Ohne Zweifel. Clinton setzt sich für gleichen Lohn für Frauen ein, damit Frauen nicht weiterhin 79 Cent verdienen, während Männer einen Dollar bekommen. Ich glaube, dass der Klimawandel eine der größten Krisen ist, vor der dieser Planet steht. Donald Trump meint, der Klimawandel sei nicht real. Doch Clinton nimmt ihn ernst. Wir müssen abwägen, welcher Kandidat für Mittelklasse- und Arbeiterfamilien einen besseren Job machen wird? Die Antwort, denke ich, ist offenkundig.

Ebenso wichtig ist mir: Politik hört nicht am Tag der Wahl auf. Am Tag nach der Wahl, so Hillary Clinton gewinnt, können Sie sicher sein, dass ich und andere Progressive die frisch gewählte Präsidentin erinnern werden, dass die Forderungen der Demokratischen Plattform, die sie unterstützt hat, auch umgesetzt werden müssen, dass die großen Banken der Wall Street zerschlagen werden, Bildung entgeltfrei, der Klimawandel aufgehalten und das Energiesystem transformiert wird. Wir werden Millionen von Leuten in diesen Prozess einbeziehen.

Doch wenn Trump zum Präsidenten gewählt wird – ich vermag mir nicht vorzustellen, wie Amerika vier Jahre nach seiner Wahl aussehen wird, welche eifernde Bigotterie ausbrechen wird, welche Demagogie wirken wird, wie die Gesellschaft weiter gespalten wird.

Russ Feingold aus Wisconsin verlautet, er wolle in den Senat zurückgewählt werden und Teil der Formung eines wirklich demokratischen Blocks dort werden. Er erwähnt Sie, Elizabeth Warren, die bekannteste Linksdemokratin derzeit, Jeff Merkley, Senator aus Oregon, und noch eine Handvoll anderer. Können Sie sich ein progressives Gremium im Senat vorstellen?

Ich glaube, Russ hat ganz recht. Wir brauchen einen Block von Progressiven, die mit eigenen Positionen und Initiativen Druck auf die Führung ausüben können, und nicht als vereinzelte Stimmen im Apparat verpuffen. Dies wurde viel zu lange versäumt. Wenn Russ gewählt wird – und ich hoffe sehr, er wird gewählt –, dann wird er ein sehr wichtiger Player in diesem progressiven Block.

Wenn Sie jetzt Präsidentschaftskandidat wären – was würden Sie tun?

 Ganz bestimmt würde ich nicht hier sitzen, sondern mit Leuten reden.

Aber wäre darüber hinaus zu tun, für die Demokratische Partei?

Es ist die bleibende Schwäche der Demokraten, sich viel zu abhängig von Berater*innen und Fernsehwerbung zu machen, statt Leute zu mobilisieren. Seit 40 Jahren erleben wir wie die Mittelklasse schwindet. Die Menschen sind hungrig, sie leiden, und sie sind sehr, sehr besorgt: Werden ihre Kinder jemals die Studienkredite abzahlen können? Werden sie jemals einen vernünftig bezahlten Job haben? Die Demokraten brauchen, so denke ich, eine Graswurzelkampagne, sie müssen Menschen mobilisieren und bereit sein, es mit dem einen Prozent aufzunehmen, mit einer Agenda, die die Bedürfnisse normaler Arbeiter*innen anspricht.

Muss die Partei sich verändern?

Sie braucht revolutionäre Veränderung. Wenn Sie in den Senat der Vereinigten Staaten gewählt werden wollen, stellen sie einen Berater an, der Umfragen organisiert, der Ihnen erzählt, welche Fernsehwerbung Sie haben sollten, der Ihnen sagt, dass das meiste Geld ins Fernsehen fließen muss. Geld auftreiben und dieses Geld dann in die Hände von Berater*innen geben, die TV-Spots daraus machen – das ist mehr oder weniger, woraus Kampagnen bestehen. Das müssen wir verändern.

Die Demokrat*innen müssen jungen Leuten die Tür öffnen. Sie müssen sie willkommen heißen und begreifen, dass es Unordnung geben wird, Politik nicht nur von einer Klasse professioneller Politiker*innen gemacht wird. Die Demokratische Partei wird sich deren Realität anpassen müssen, anstatt junge Leute zu zwingen, von der Realität der Parteiführung angepasst zu werden.

Wie ist die neue Plattform »Our Revolution« damit verbunden? Sie haben ihr ganzes Leben lang gegen das große Geld gekämpft. Our Revolution ist nun eine steuerrechtlich eingetragene Wohlfahrtsorganisation. Als solche von der Einkommenssteuer befreit, muss sie jedoch ihre Finanzen offenlegen, auch wenn sie Geld sammelt, um linke Kandidat*innen zu unterstützen. Was sagen Sie dazu?

Vorab, ich bin nicht Teil von Our Revolution. Our Revolution hat den Apparat der Kampagne geerbt – ich gehöre nicht dazu.

Wären Sie dafür, dass sie Unterstützungszahlungen offenlegen?

Ja, das sollten sie. Und soweit ich weiß, werden sie alles offenlegen.

Wie steht es mit der Politik von Our Revolution? Wie wird es weitergehen?

Vielleicht wissen Sie es nicht, aber Kandidat*innen von Our Revolution haben schon eine Reihe Vorwahlen gewonnen. In Massachusetts hat ein junger Anwalt, ein sehr progressiver Mann, mit Unterstützung von Our Revolution einen langjährigen Amtsinhaber geschlagen. In Rhode Island wurde der Mehrheitsführer des Hauses vor die Tür gesetzt. Mir scheint, Our Revolution beginnt zu tun, was Ziel der Initiative war, sich nicht nur auf profilbildende Kämpfe (wie die Vorwahlen zur Präsidentschaft) zu fokussieren, sondern bis zur staatlichen Legislative zu gehen. Ein paar Unruhestifter*innen in der staatlichen Legislative können die Gesetzgebung auf Trab bringen. Wenige Leute können einen wirklich bedeutenden Einfluss erreichen.

Sie waren offensichtlich frustriert über die Medienberichterstattung zu Ihrer Kampagne.

Sehen Sie sich um. Die Medien konzentrieren sich auf den Klatsch, auf die Schlammschlacht, sie lenken ab von den brennenden Themen, die die amerikanische Bevölkerung betreffen. Sie berichteten auch bei uns nur über die Bernie Sanders Kampagne, nicht über die Bedürfnisse der Amerikaner*innen, noch über das, was wir vorschlugen, um diesen zu begegnen. Das ist betrüblich. Soweit wir konnten wirkten wir dem über die sozialen Medien entgegen. Einer der Gründe, warum wir so viel Zuspruch unter jungen Leuten fanden, ist meiner Meinung nach, dass diese weder die Abendnachrichten sehen noch dieWashington Post lesen. Vielmehr konnten wir über soziale Medien direkt mit vielen Millionen von ihnen kommunizieren. Es genügt nicht, dass Ihre Zeitschrift etwas schreibt oder Bernie Sanders etwas sagt. Unsere Ideen müssen ein Teil alltäglicher Diskussion werden. Jeden Morgen, jeden Nachmittag und jeden Abend müssen Themen präsent sein, die relevant für ihr Leben sind, für die sie sich einsetzen können. Es braucht eine politische Bewegung. Die gilt es zu organisieren.

Erschienen in ©The Nation am 20. 9.2016. Das Interview führten  Katrina vanden Heuvel und John Nichols. Aus dem Englischen von Corinna Trogisch und Mario Candeias

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