Niemand weiß, wie sich Corona weiterentwickelt, doch schon heute ist klar, dass die Pandemie die Arbeitswelt tiefgreifend erschüttert. Einerseits wurden Reformen umgesetzt, für die lange vergeblich gekämpft worden war und die bisher herrschende ökonomische Grundsätze infrage stellen. Andererseits vertieften sich im Zuge des Shutdowns Spaltungslinien unter den Beschäftigten, und steigende Arbeitslosenzahlen sowie die Aussicht auf leere öffentliche Kassen und hohe Staatsverschuldung lassen schärfere Verteilungskämpfe erwarten. Sind dennoch Ansatzpunkte für linke Politik und eine Stärkung des Sozialstaats zu erkennen?
Corona schlägt TINA?
Jahrzehntelang galt neoklassische Ökonomie als alternativlos („There is no alternative“, kurz: TINA). Zwar fand nie ein Rückzug des Staates statt, wie es der Begriff „Deregulierung“ nahelegt. Wohl aber herrschte weitgehende Einigkeit darüber, dass dessen Hauptaufgabe darin bestehe, ein reibungsloses Funktionieren der Wirtschaft sicherzustellen. Weil man den Nutzen staatlicher Aktivitäten (etwa im öffentlichen Dienst) ohnehin skeptisch betrachtete, erschienen deren Kosten umso inakzeptabler – der Staat sollte sparen, Schulden tilgen und möglichst wenig neues Geld aufnehmen. Das Ideal war die „Schwarze Null“, das Mittel Austeritätspolitik.
Schon im Zuge der letzten Weltwirtschaftskrise (ab 2008) hatte allerdings zum Beispiel die deutsche Regierung durch staatliche Interventionen in die Ökonomie (wie Abwrackprämie und die Ausweitung von Kurzarbeit) neoliberale Grundsätze über Bord geworfen – und diese Tendenz hat sich massiv verstärkt. So betonte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) am 18. April 2020, die Pandemie sei für ihn Anlass, „darüber nach[zu]denken, […] dass wir vieles übertrieben haben“: „Wir müssen das Verhältnis zwischen Marktwirtschaft und staatlicher Regulierung neu definieren.“ Die Krise offenbare nicht nur Probleme der globalen Vernetzung, sondern stelle auch die Sparpolitik der öffentlichen Hand infrage: „In einer Situation wie der jetzigen müssen wir […] das Notwendige tun, also Ausgaben erhöhen und auch neue Schulden machen.“ (Schäuble 2020) Zwar will Schäuble die „marktwirtschaftlichen Mechanismen“ gewahrt sehen und stellt die Schuldenbremse nicht prinzipiell infrage, doch selbst er behauptet nicht länger, dass Austeritätspolitik ohne Alternative und jede Kritik daran weltfremd sei. Die erste Lehre aus den Pandemiemonaten lautet demnach: Corona erschüttert scheinbare Gewissheiten, eine andere Welt ist möglich.
Rückkehr des starken Staates?
Seit Einsetzen der Corona-Krise ist der Staat mit Macht zurück. Das öffentliche Leben wurde in Kooperation der Bundesregierung mit Landesregierungen und medizinischen Expert*innen heruntergefahren, die Schuldenbremse ausgesetzt, das nach 2008 erfolgreiche Instrument der Kurzarbeit in bisher ungekanntem Ausmaß genutzt, milliardenschwere Konjunkturpakete geschnürt und „systemrelevante“ Unternehmen gerettet. Begleitet wird dies durch kontroverse öffentliche Grundsatzdebatten über die Rolle des Staates. So wetterte Gabriel Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, in einem „ARD Brennpunkt“ am 28. April 2020 gegen Pläne, die staatlichen Investitionen von neun Milliarden Euro in die Lufthansa mit einer Sperrminorität im Aufsichtsrat zu verbinden. Der Staat, so Felbermayer, habe den Konzern durch seine Shutdown-Politik erst zum Straucheln gebracht und trage „eine besondere Verantwortung den Aktionären der Lufthansa gegenüber, aber auch ihren Gläubigern und ihren Mitarbeitern“ gegenüber. Staatlichen Einfluss auf die Konzernpolitik aber soll es nicht geben, denn: „Der Staat ist kein guter Unternehmer, er ist auch kein guter Aktionär.“ Selbst Felbermayr fordert also einen aktiven Staat – dieser soll offenbar die Aktionäre für den Shutdown entschädigen, die Verluste der Lufthansa sozialisieren. Den Ausbau wirtschaftsdemokratischer Strukturen hingegen, den Wissenschaftler*innen oder Gewerkschaftsvertreter*innen in Reaktion auf die Corona-Krise einfordern (vgl. Herzog/Kuch 2020 und Urban 2020), lehnt er mit Vehemenz ab – das Unternehmen, seine Entscheidungen und seine Gewinne sollen privat bleiben. Auch die Kritik an der Ökonomisierung von privaten wie öffentlichen Dienstleistungen, die sich in Zeiten der Pandemie als überlebenswichtig erwiesen haben, dürfte an Freunden des freien Marktes weiter abprallen. Doch sie wird lauter. So forderte etwa der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, am 21. April 2020: „Krankenhäuser müssen dem Patienten dienen, nicht dem Profit. Das muss sich ins kollektive Gedächtnis einbrennen.“ (Bundesärztekammer 2020)
Der Streit um das künftige Verhältnis zwischen Wirtschaft und Staat nimmt also Fahrt auf – und dies eröffnet Spielräume für linke Politik. Der Schuss kann allerdings auch nach hinten losgehen. Zum einen steigt die Staatsverschuldung durch die Corona-Maßnahmen massiv an – die Erfahrung lehrt, dass viele staatliche Leistungen bald für „objektiv“ nicht finanzierbar erklärt werden dürften. Einen Vorgeschmack darauf bot die Debatte über eine Verschiebung der Grundrente. Zum anderen muss der starke Staat, der sich gerade formiert, nicht unbedingt demokratisch sein. Der weltweite Aufschwung autoritärer Politik belegt, dass der Ausbau staatlicher Macht durchaus mit der politisch forcierten Entfesselung von Märkten, mit dem Abbau demokratischer Rechte und einer repressiven Politik gegen Minderheiten einhergehen kann.
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik – Spaltungslinien vertiefen sich
In den ersten Monaten der Pandemie wurden Veränderungen vorgenommen, für die Gewerkschaften und soziale Bewegungen lange vergeblich eingetreten waren. Das Kurzarbeitergeld wurde (befristet bis zum Jahresende) erhöht, der Zugang zu Leistungen der Grundsicherung vorübergehend erleichtert. Selbst Sanktionen für Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) wurden gelockert. Plötzlich und unerwartet schien sich selbst bei Vertreter*innen einer Politik der „Aktivierung“ die Erkenntnis durchzusetzen, dass mehr Fördern und weniger Fordern notwendig ist, weil Arbeitslosigkeit eben nicht in erster Linie mit individuellem Versagen auf dem Arbeitsmarkt erklärt werden kann.
Sollten die wirtschaftlichen Erschütterungen so deutlich, die Arbeitslosenzahlen so hoch werden, wie viele vermuten, ist nicht auszuschließen, dass derlei Erleichterungen schnell zurückgenommen werden. Auch im Fall der Hartz-Reformen stand der Wunsch nach einer Senkung der Ausgaben der Arbeitslosenversicherung hinter den Debatten über Sozialmissbrauch, Eigenverantwortung und „Beschäftigungsfähigkeit“. Auf jeden Fall ist schon heute abzusehen, dass die Corona-Krise altbekannte arbeitsmarkt- und sozialpolitische Konflikte und bestehende Spaltungen zwischen Arbeitenden weiter vertieft: So kommt das Kurzarbeitergeld vor allem abhängig Beschäftigten mit dauerhaftem Job und mittlerem bis höherem Einkommen zugute – wer hingegen befristet oder in Leiharbeit tätig ist, wurde im Shutdown häufig nach Hause geschickt; wer Niedriglohn bezieht, kann weder von 60 noch von 70 Prozent des Einkommens leben. Und in neuerdings als „systemrelevant“ geltenden Branchen wie dem Einzelhandel ist die Mehrheit der Beschäftigten in Teilzeit (mit anteiligem Gehalt) oder in Minijobs tätig (die keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld begründen). Das Elend der Alleinselbständigen, die von heute auf morgen ihr Einkommen verloren und weder Anspruch auf Arbeitslosen- noch auf Kurzarbeitergeld haben, wurden in der Krise besonders sichtbar. Das wirft ein grelles Licht auf den Umstand, dass ein wachsender Anteil der Erwerbstätigen nicht länger in die Sozialversicherung integriert ist. Viele Alleinselbständige steuern bekanntermaßen auf die Altersarmut zu, Minijobber*innen sind per Definition nicht sozialversichert, und wer (etwa wegen befristeter Jobs) häufig Erwerbsunterbrechungen erlebt, muss Einschnitte bei Leistungen der Arbeitslosen- und Rentenversicherung in Kauf nehmen. Selbst unter günstigen konjunkturellen Bedingungen war der Graben zwischen stabil Beschäftigten und diesen Gruppen tiefer geworden. Wenn nun Wirtschaft und Arbeitsmarkt durch Corona in die erwartete Krise geraten, dürfte die Verknüpfung von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherung für immer mehr Menschen immer weniger funktionieren. Auch die Lockerung der ALG-II-Sanktionen wird dann sicher schnell zurückgenommen werden. Die Vorgeschichte der Hartz-Reformen zeigt, dass bei steigenden Arbeitslosenzahlen der Druck auf die Arbeitslosenversicherung (durch sinkende Einnahmen und steigende Ausgaben) wächst – und unter Klagen über zu hohe „Lohnnebenkosten“ und Sozialmissbrauch Leistungskürzungen leichter durchsetzbar sind.
Moralische Aufwertung „systemrelevanter“ Berufe – ohne substanzielle Besserstellung
In den Wochen des Shutdowns verbreitete sich die überfällige Erkenntnis, dass Dienstleistungen, die Gesundheit und den Zugang zu lebenswichtigen Waren sicherstellen, „systemrelevant“ sind, weil ohne sie die Reproduktion von Arbeitskraft und gesellschaftlichen Strukturen unmöglich ist. Selbst Carsten Bätzold, Betriebsratsvorsitzender von VW in Kassel, betont, dass dies bisherige Prioritäten auf den Kopf stellt: „Diese Coronakrise macht sehr deutlich: Wenn über acht oder zwölf Wochen keine Autos gebaut werden, passiert nichts in diesem Land. Es ist also kein systemrelevantes Produkt, das wir herstellen.“ (vgl. Bätzold/Lacher 2020) Ausgerechnet die Frauen (und teilweise auch Männer), die oft mit prekären Verträgen und Niedriglöhnen in Krankenhäusern, Altersheimen oder Supermärkten arbeiten, hielten hingegen das Land am Laufen. Entsprechend dankbar wurden die „Held*innen des Alltags“ beklatscht und wurde die Aufwertung ihrer Tätigkeiten gefordert. Doch davon ist kaum noch die Rede – im Gegenteil.
Eine „Aufwertung“ von Arbeit in Pflege und Einzelhandel könnte etwa höhere Vergütungen beinhalten. Doch selbst an der Finanzierung einmaliger Bonuszahlungen an Pflegekräfte entzündete sich ein offener Streit. Die gewerkschaftliche Forderung, die Tarifverträge im Einzelhandel, die ohnehin recht geringe Gehälter vorsehen, für allgemeinverbindlich zu erklären, wurde vom Handelsverband zurückgewiesen. Jener verlangte im Gegenteil, die für Mai/Juni 2020 vereinbarte Tariferhöhung bis Jahresende aufzuschieben (vgl. Kläsgen 2020). Und der Mindestlohn sollte, wenn es nach dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband gegangen wäre, 2020 nicht erhöht, besser noch gesenkt werden, um durch Corona gebeutelte Unternehmen, die Niedriglöhne zahlen, nicht weiter zu belasten (vgl. Specht 2020). Von einer materiellen Aufwertung kann also keine Rede sein.
Zwar könnte „Aufwertung“ durchaus auch bedeuten, dass man die Arbeitsbedingungen der „Held*innen des Alltags“ verbessert, doch selbst die Kritik an den Bedingungen, die Arbeit in Pflege oder Verkauf unattraktiv machen, ist merkwürdig verhalten. In der Krankenpflege etwa lässt die fortschreitende Leistungsverdichtung im Zeichen von Fallpauschalensystem und Personalmangel immer weniger Zeit für die angemessene Verpflegung von Kranken. Dies zwingt qualifizierte Beschäftigte, vorzeitig auszuscheiden, wenn Belastungsgrenzen überschritten sind. Im Einzelhandel werden Vollzeitstellen seit Langem systematisch in Teilzeit- oder Minijobs unterteilt, und speziell Supermärkte und Discounter bauen immer feingliedrigere Subunternehmerpyramiden auf. Sollte die Corona-Krise die seit Langem zu beobachtenden Konzentrationsprozesse verstärken, weil kleinere Geschäfte den Shutdown nicht überstehen, ist sogar eine beschleunigte Entwertung von Tätigkeiten zu erwarten.
Konkrete Maßnahmen für eine tatsächliche Aufwertung dieser „systemrelevanten“ Tätigkeiten sind hingegen nicht in Sicht. Stattdessen wurde für Beschäftigte, die Lebensmittel, Medikamente oder Hygieneprodukte herstellen, liefern und verkaufen, die im Gesundheitswesen, in den Sicherheitsbehörden, in Energie- und Wasserbetrieben, in der Landwirtschaft, der IT-Branche oder im Wachschutz arbeiten, eine Arbeitszeitverordnung erlassen, die (befristet zunächst bis Ende Juni) eine Ausweitung der Wochenarbeitszeit auf bis zu 60 Stunden, die Verkürzung von Ruhezeiten und die Ausweitung von Sonntagsarbeit erlaubt (vgl. Ludwig 2020). In Nordrhein-Westfalen sollte die Landesregierung sogar in die Lage versetzt werden, Ärzte oder Pflegekräfte per Verordnung zum Seucheneinsatz zu zwingen (vgl. Süddeutsche Zeitung, 25.6.2020). Durch Proteste konnte dieser gefährliche Präzedenzfall für die Aushöhlung von Kündigungs- oder Streikrecht glücklicherweise abgewendet werden. Dennoch wurde in der Pandemie sehr konkret über die Stärkung des Zwangscharakters von abhängiger Beschäftigung nachgedacht, um den Zugriff auf „systemrelevante“ Arbeitskraft zu erweitern. Die Aufwertung blieb demgegenüber ein abstrakter frommer Wunsch.
Homeoffice: Vom Recht zur Pflicht?
Andere Beschäftigte machten die überraschende Erfahrung, dass das Arbeiten im Homeoffice, das bislang von vielen Vorgesetzten abgelehnt worden war, plötzlich möglich wurde. Laut Befunden der Mannheimer Corona-Studie arbeitete zwischen Mitte März und Mitte April 2020 „ein gutes Viertel der Beschäftigten“ von Zuhause aus, „darunter deutlich mehr Personen mit hohem Bildungsabschluss und gutem Verdienst“ (Möhring u.a. 2020, 2). Insgesamt trug die Ausweitung des Homeoffice erheblich zur Auseinanderentwicklung der Arbeits- und Lebensrealitäten von Beschäftigten bei. Während Verwaltungsangestellte ihren Arbeitsplatz bei vollem Gehalt in die eigenen vier Wände verlagerten, waren Arbeiter*innen, Pfleger*innen oder Verkäufer*innen gezwungen, sich in Fabrik oder Schlachthof, Logistikzentrum, Krankenhaus, Altenheim oder Supermarkt einem mehr oder minder hohen Infektionsrisiko auszusetzen. Während das Arbeiten von Zuhause für Singles (trotz sozialer Isolation) halbwegs zu bewältigen war, ächzten Eltern unter der Kombination aus beruflichen Verpflichtungen, Kinderbetreuung und Home-Schooling. Während Mütter im Homeoffice (wie schon vor Corona) „nebenbei“ Haushalt und Kindererziehung übernehmen, widmen sich viele Väter ihren beruflichen Pflichten dort konzentrierter als im Büro (vgl. Lott 2019). Während das Arbeiten vom Einfamilienhaus oder der großzügigen Etagenwohnung aus recht angenehm gestaltet werden kann, ist es unter beengten Wohnverhältnissen eine Qual – und Letzteres betrifft angesichts steigender Mieten immer mehr Menschen. Kurz: Das Homeoffice wurde allem Anschein nach extrem unterschiedlich erlebt.
Zugleich schafft das Arbeiten im Homeoffice Probleme, mit denen potenziell alle davon betroffenen Beschäftigten gleichermaßen konfrontiert sind. Sie könnten an Bedeutung gewinnen, falls Unternehmen (wie derzeit diskutiert) tatsächlich Büroflächen abbauen, um Mietkosten zu sparen (vgl. Hulverscheidt u.a. 2020). Das „Recht auf Homeoffice“, das Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ankündigte, könnte dann schnell zur „Pflicht zum Homeoffice“ werden. Dies wäre keine gute Nachricht für Beschäftigte, denn es ist bekannt, dass Arbeiten von Zuhause die Leistungsverdichtung begünstigt, während die Kooperation im Arbeitsprozess sowie die kollektive Interessenvertretung durch den fehlenden persönlichen Kontakt zu Kolleg*innen erschwert werden.
Ansatzpunkte für linke Politik?
Die ersten Monate der Pandemie waren demnach durch widersprüchliche Entwicklungen geprägt: Einerseits wurde zuvor Undenkbares nicht nur denkbar, sondern von heute auf morgen umgesetzt – und darunter waren durchaus Maßnahmen (wie die zeitweise Lockerung des Sanktionsregimes bei “Hartz IV”), die für Arbeitende eine reale Verbesserung darstellten. Andererseits wurden die Erschütterungen durch die Pandemie offensichtlich genutzt, um altbekannte Unternehmensforderungen durchzusetzen oder mit größerem Nachdruck zu formulieren. Dies gilt für die „Flexibilisierung“ von Arbeitszeiten (60-Stunden-Woche) und Arbeitsorten (Homeoffice), für das Aufschieben von Mindestlohn- oder Tariferhöhungen und die Umsetzung betrieblicher Vereinbarungen. Zugleich haben sich die Arbeits- und Lebensrealitäten von Arbeitenden weiter auseinanderentwickelt, speziell wenn manche Beschäftigte auf Kosten anderer abgesichert wurden. So nahm man etwa Infektionsrisiken und steigende Arbeitsbelastung bei Fahrer*innen von Liefer- und Paketdiensten billigend in Kauf, um die Versorgung von Angestellten im Homeoffice zu gewährleisten, oder stabilisierte (wie aus der Krise um 2008 bekannt) Stammbelegschaften, indem man befristet Beschäftigte, Leiharbeiter*innen oder alleinselbständige Subunternehmer*innen kurzfristig nach Hause schickte. Für eine linke Politik, die unterschiedliche Gruppen von Arbeitenden solidarisch verbinden und bestehende Spaltungen zwischen ihnen überwinden will (vgl. Riexinger 2018), sind dies denkbar schlechte Voraussetzungen – und doch könnten manche Projekte angesichts der Corona bedingten Verwerfungen breitere Unterstützung finden als zuvor. Dies gilt etwa für den Ausbau öffentlicher Dienste, für die Einführung einer Bürger*innen-Versicherung oder die Durchsetzung von „kurzer Vollzeit“.
In Bezug auf die Rolle des Staates lautet eine wichtige Lehre aus den vergangenen Monaten: „Neoliberalismus ist schlecht für die Gesundheit.“ (Illouz 2020) Wenn man die Gesundheitsversorgung dem „freien Spiel der Marktkräfte“ überlässt, sterben Menschen. Wenn Krankenhäuser in erster Linie Gewinn machen sollen, werden weder Betten noch Ausrüstung für Notfälle vorgehalten. Die überfällige Aufwertung von Pflegeberufen muss deshalb mit der grundsätzlichen Frage verbunden werden, wie viel Privatisierung und Profitlogik sich eine Gesellschaft leisten kann, in welchen Bereichen öffentliche Dienste unverzichtbar sind und wie man den Rechtsanspruch von Arbeitenden auf die Nutzung von „Sozialeigentum“ (vgl. Castel 2000) durchsetzen kann, das etwa im Bereich der Sozialversicherung nicht zuletzt durch Abgaben aus Lohnarbeit finanziert wird. Corona lehrt, dass der Ausbau öffentlicher Dienste unbedingt notwendig ist – und neoliberale Denkverbote beginnen ihre Überzeugungskraft zu verlieren.
Die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Erfahrungen mit Corona bekräftigen die Notwendigkeit, eine Bürger*innen-Versicherung zu etablieren, die eine verlässliche Kopplung von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherung gewährleistet – etwa durch die Einbeziehung von Alleinselbständigen und die Abschaffung von Minijobs. Zudem schafft die verbreitete Dankbarkeit gegenüber den „Held*innen des Alltags“ gute Grundlagen, um statt Applaus und milder Gaben (etwa in Form von Einkaufsgutscheinen) existenzsichernde Vergütungen durchzusetzen. Eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns, die Einführung und der Ausbau der Grundrente, eine Abkehr vom Sanktionsregime bei “Hartz IV” und eine Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen dürften aktuell deutlich mehr Unterstützung finden als vor Corona.
In Sachen Arbeitsgestaltung schließlich legt die Pandemie-Krise eine breite Mobilisierung für „kurze Vollzeit“ nahe. Schon vor Corona drifteten die Arbeitszeiten vollzeitbeschäftigter und exzessiv Überstunden leistender Männer einerseits und die Arbeitszeiten von Frauen in Teilzeit- bzw. Minijobs andererseits immer weiter auseinander. In den vergangenen Monaten mussten außerdem Beschäftigte in Krankenhäusern, Supermärkten oder bei Paketdiensten überlange Schichten bewältigen, während andere (etwa in Fabriken, denen Zulieferungen fehlten, in Geschäften außerhalb des Lebensmittelbereichs oder in der Gastronomie) in Kurzarbeit oder ganz ohne Beschäftigung waren. Angesichts der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit realen Arbeitszeiten, die Überbeschäftigte seit Jahren ebenso zum Ausdruck bringen wie Unterbeschäftigte, könnte die Verallgemeinerung von „kurzer Vollzeit“ ein Projekt sein, das sehr unterschiedliche Gruppen von Arbeitenden zusammenbringt. Zugleich fordert es (gerade angesichts der drohenden wirtschaftlichen Krise) den bisher herrschenden „gesunden Menschenverstand“ heraus. „Kurze Vollzeit“ würde nur dann nicht mit massiven Lohneinbußen und weiterer Leistungsverdichtung einhergehen, wenn Lohn- und Personalausgleich gesichert wären – und diese Forderungen werden selbst von Gewerkschaften seit Langem kaum noch vertreten.
Ob der Ausbau öffentlicher Dienste, die Einführung einer Bürger*innen-Versicherung oder „kurze Vollzeit“ – alle Projekte, die durch Corona neue Dringlichkeit erlangt haben, werfen sehr prinzipielle Fragen auf: nach dem Verhältnis von Profitlogik und gesellschaftlichem Bedarf, nach der Verteilung des erwirtschafteten Reichtums (sei es in Bezug auf Löhne oder soziale Absicherung), nach der Entscheidungsgewalt über Unternehmenspolitik und nach der Nutzung von menschlicher Arbeitskraft. Immer geht es dabei um die Verschiebung von Grenzen im komplexen Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie. Die Rückkehr des starken Staates könnte demokratische Eingriffsmöglichkeiten stärken – doch bislang haben vor allem Unternehmen die Pandemie genutzt, um die Grenzen in ihrem Sinne neu zu ziehen. Die offene Frage lautet: Was hat linke Politik dem entgegenzusetzen? Wenn derzeit tatsächlich Undenkbares denkbar wird, ist es an der Zeit, die Diskussion über Alternativen voranzutreiben und über den Kreis der „üblichen Verdächtigen“ auszuweiten. Die Erschütterungen durch Corona wären dann eine Chance: für produktiven Streit um mehr Demokratie in Arbeitswelt und Sozialstaat.