Nicht dass die Klassenfrage je ganz verdrängt werden konnte. Sie fristete ein marxististisches Schattendasein. Doch manchmal brach sie überraschend an die Oberfläche der Feuilletons, um kurz darauf wieder zu verschwinden. Inzwischen wird kaum noch bestritten: Wir leben (wieder) in einer Klassengesellschaft. Ungleichheiten nehmen zu, soziale Spaltungen verfestigen sich, selbstverständliche soziale Sicherheiten sind einer verallgemeinerten Kultur der Unsicherheit und der Angst vor Abstieg gewichen. Selbst die vermeintlich gesicherte Mitte muss immer mehr Anstrengungen unternehmen, um ihren Status zu halten. Oliver Nachtwey (2016) fand dafür das Bild der Rolltreppe, die nach unten fährt: Man darf nicht stehen bleiben, will man nicht abgleiten und man muss sich ganz schön anstrengen, will man sogar gegen die Fahrtrichtung ein bisschen nach oben gelangen. Oben ankommen tun die wenigsten. Der Eintritt in die oberen Klassen ist versperrt, die Vermögenden schotten sich ab.
Einst war es die LINKE, die dem Protest des Prekariats einen Ausdruck gab. Eine Klassenfraktion, die so schwer zu fassen war, weil sie sich vor allem negativ definierte: Niemand will zu den Prekären gehören. Dabei ist Prekarisierung längst kein Problem einiger weniger. Sie betrifft illegalisierte migrantische Putzfrauen, Sicherheitskräfte oder Kassiererinnen ebenso wie den gut ausgebildeten ostdeutschen Leiharbeiter im Ruhrgebiet oder den (schein)selbständigen Fernfahrer oder das Computer-Proletariat in den Call-Centern. Sie betrifft ebenso (zwangs)mobile Kurzzeit-Projektarbeiter in der IT-Industrie, freie Journalistinnen, solo-selbständige Kulturschaffende oder Wissenschaftlerinnen. Sie alle unterliegen verschiedenen Formen der Flexploitation (Bourdieu), der flexiblen Ausbeutung. Im Zuge transnationaler Verlagerungen und neuer Entlassungswellen sind selbst die Stammbelegschaften nicht mehr sicher. Der Druck – auch durch die Prekären – ist allgegenwärtig. Dabei geht es nicht nur um unsichere Arbeitsverhältnisse, sondern auch um Lebensbedingungen, um mangelnde Anerkennung und Perspektive, Abbau sozialer Infrastrukturen, Verdrängung durch explodierende Mieten oder die mangelnde Planungsunsicherheit für den eigenen Lebensentwurf. Was trennt diese Gruppen, was eint sie vielleicht auch? Es geht also darum das »re-making of the working class« (Candeias 2009) herauszuarbeiten.
Klassenfrage von rechts
Heute wird die Klassenfrage nicht mehr mit linken, sondern mit rechtem Protest assoziiert. Obwohl Parteien wie die AfD oder der Front National und Bewegungen wie Pegida oder »Manif pour tous« (gegen die »Homo-Ehe« in Frankreich) mehrheitlich von Gruppen aus der etablierten Mitte oder dem Kleinbürgertum – überwiegend Männern – getragen werden, sprechen sie mittlerweile auch einen relevanten Teil von Arbeitern und Arbeitslosen an. Didier Eribon (2016) nennt deren Wahlentscheidung für die radikale Rechte einen »Akt politischer Notwehr«, um überhaupt noch irgendwie im politischen Diskurs vorzukommen, wenn auch nur als »negative Selbstaffirmation». Sein autobiografischer Selbstversuch der »Rückkehr nach Reims« war sicher der politische Überraschungsbestseller des letzten Jahres. Ein Buch über die Rückkehr in sein Elternhaus, dass er als »Klassenflüchtling« verlassen hatte, um seine schwule Sexualität leben zu können und Soziologieprofessor zu werden – und über Jahrzehnte nicht zurück zu kehren. Das vielfältige Buch, das über Scham, das Leben und den Alb der Arbeiterklasse und insbesondere auch der Frauen erzählt, versucht eben Momente der Erklärung zu liefern, warum eine Arbeiterklasse, die einst – zumindest relevant – links wählte, heute teilweise rechts wählt. Verkauft von der Sozialdemokratie, enttäuscht von der Wirkungslosigkeit der KP, wenden sie sich einer machtvollen neuen Erzählung zu: der Verteidigung hart arbeitender Menschen, der Nation, der Kultur gegen andere, ›den Islam‹, ›die Migranten‹, die Globalisierung, die Schwulen und LGBTs, die ›moralisierenden 68er‹ an der Macht etc. Eribon trifft einen Nerv.
Auch zur Erklärung des Wahlverhaltens beim Brexit wurde die Klassenfrage herangezogen:
Das Votum für den Brexit, so Owen Jones (2016) in der Zeitschrift LuXemburg, sei »eine Revolte der Arbeiterklasse. Vielleicht ist es nicht die Art von Revolte gegen das politische Establishment, die viele von uns sich gewünscht hätten. Zweifelsohne ist dieses Ergebnis aber den Stimmen einer wütenden und politisch entfremdeten«, weißen, vorwiegend männlichen Arbeiterklasse zu verdanken. Diese Entwicklung zeigt sich in vielen Ländern Europas (am wenigsten noch in Griechenland, Spanien und Portugal).
Bei der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA war es nicht mehrheitlich die Arbeiterklasse, die ihn unterstützte. Doch markierte der Wechsel von relevanten Teilen der weißen, männlichen Arbeiter zu Trump in ausgewählten Bundesstaaten den entscheidenden Unterschied für seinen Sieg. Noch bedeutender war vielleicht die Entfremdung großer Teile der Arbeiterklasse von Hilary Clinton, der Repräsentantin des Establishments schlechthin. Sie wählten nicht rechts, sondern gar nicht mehr (vgl. auch Hochschild in LuXemburg 3/2016).
Wie soll auf eine solche Entwicklung von links reagiert werden? Jan Korte, Vorstandsmitglied der RLS, plädiert in einem Strategiepapier von Eribon ausgehend für mehr Klassenanalyse und ihre praktische Wendung.
Dritter Pol: Mitte-Unten-Bündnis ohne ›Unten‹?
Die radikale Rechte artikuliert den Gegenpol zum autoritär regierenden Neoliberalismus von Merkel und Schäuble bis Macron. Kurzzeitig konnte die SPD mit Martin Schulz diese Polarisierung zwischen einem neoliberalem Weiter-so und dem rechtsautoritären Versprechen, allen »Deutschen« Schutz in der nationalen Wettbewerbsgemeinschaft zu gewähren, durchbrechen. Die Hoffnung vieler war groß, die SPD würde nun endlich von links um Mehrheiten kämpfen. Dazu ist sie aber offensichtlich nicht bereit. Der kurze Moment von Aufbruchstimmung ist vorbei, die Blase geplatzt. Die Sozialdemokratie bleibt in einer Existenzkrise. Sie will sich nicht daran beteiligen, dem »großen Lager der Solidarität« (Kipping/Riexinger) – also allen, die eine demokratische, soziale und ökologische Lebensweise anstreben –, eine Stimme zu geben. Doch ohne eine echte Linkswende kann die neue Rechte nicht wirksam bekämpft werden. Das zeigt der Ausgang zahlreicher Wahlen. Mélenchon konnte diesem »Dritten Pol« bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Frankreich kurz zur Sichtbarkeit verhelfen, so wie zuvor Bernie Sanders im US-Wahlkampf. Die LINKE muss sich dieser Aufgabe nun vorläufig ohne die Unterstützung anderer Parteien stellen.
Es braucht gegen den Autoritarismus von oben und rechts eine Verteidigung einer demokratischen und solidarischen Lebensweise, weit über die Elemente eines linken Mosaiks hinaus, tief bis in bürgerliche Kreise hinein. Ein solcher Dritter Pol existiert schon »an sich«, am sichtbarsten ist er sicherlich in den unzähligen Willkommens- und Bürgerinitiativen und in den sozialen Bewegungen. Er hat aber noch keinen politischen Ausdruck (es ist fraglich, ob man dabei an einen im engen Sinne parteipolitischen Ausdruck denken sollte). Daran gilt es zu arbeiten, um die Voraussetzungen für einen Richtungswechsel in der Gesellschaft – und an der Regierung – zu schaffen. Die LINKE ist unverzichtbarer Teil und Motor eines solchen Vorhabens. Und sie hat viel für eine offene und solidarische Gesellschaft getan, als Teile der Gesellschaft sich gegen Geflüchtete und Migrant*innen richteten, die Unsicherheit wuchs. Wie die Wahlen in anderen Ländern zeigen, sind die Chancen gestiegen, auch wahlarithmetisch über die ›Zehn-Prozent-Nische‹ hinauszukommen. Die LINKE ist in der Pflicht, den parteipolitischen Raum, den SPD und Grüne offen lassen, offensiv zu besetzen.
Der Dritte Pol manifestiert sich bisher jedoch vor allem in der »solidarischen Mitte«, bei den formal höher Qualifizierten, in den städtischen Milieus und Klassenfraktionen – kaum verankert ist er dagegen bei den sogenannten popularen Klassen, in der »bedrohten Mitte« und unter den Prekarisierten. Das »dissidente Drittel« (Thomas Seibert) ist zu klein – sich darauf zu konzentrieren, ist zu wenig. Diese Schieflage in der gesellschaftlichen Zusammensetzung gilt auch für die Partei die LINKE, die mittlerweile stark akademisch geprägt ist – trotz teilweise besserer Verankerung bei sogenannten Abgehängten. Für ein unverzichtbares Mitte-Unten-Bündnis (Michael Brie) fehlt weitgehend das ›Unten‹. Die Partei erreicht große Teile der popularen Klassen nicht (mehr), verliert sie an die Rechten. Noch häufiger ziehen sich diese zurück. Diese klassenspezifische Entmutigung ist ein existenzielles Problem für die LINKE – egal wie viele werteorientierte Menschen sie wählen würden, käme dies einer inneren Aushöhlung gleich. Ändert sich nichts an dieser Situation, bleibt ihr im besten Fall nur eine imaginierte Stellvertreterpolitik.
Neue Klassenpolitik
Daher ist ein Perspektivenwechsel erforderlich: eine neue Klassenpolitik, die die Vielfältigkeit von Interessen des linken Mosaiks nicht negiert. Ein bloßes Zurück zum alten Klassenkampf kann es nicht sein. Rassismus, Geschlechterverhältnisse und soziale Fragen, Ökologie und Frieden etwa sind untrennbar verwoben. Es gibt einen Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen. Schließlich heißt es nicht umsonst »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes… Wesen ist« (MEW 1, 385).
Autoritarismus und Rechtspopulismus haben emanzipative Kräfte in die Defensive gedrängt. Zu viel »Genderwahn«, »Frühsexualisierung«, »Quote«, »rosa Gedöns«, »grüne Bevormundung« habe auch die gesellschaftliche Linke von den »normalen« Leuten und Arbeitern entfremdet. Feminismus, LGBTIQ-Rechte und Ökologie seien Elitenprojekte. Nun hat ein linker Feminismus oder eine kritische politische Ökologie selbst immer die Formen eines Feminismus von »oben« oder eines »ökologischen Lebenstils« für Besserverdiener kritisiert, der Anerkennung oder ein ökologisches »gutes Gewissen« ohne Umverteilung von Reichtum und Macht (Fraser) ermöglicht, unfähig Geschlechter- und gesellschaftliche Naturverhältnisse als (gesamt)gesellschaftliche, gar als Produktionsverhältnisse zu denken. Mit der Kritik an der einseitigen Orientierung auf Anerkennung dürfen aber nicht die Errungenschaften emanzipativer Annerkennungskämpfe über Bord gehen: Was an Gleichstellung von Frauen, Anerkennung von schwulen oder lesbischen Lebensweisen, Diversität sexueller Orientierung, an kultureller Offenheit, an kleinen Schritten einer ökologischeren Lebensweise etc. erstritten wurde, gilt es zu verteidigen. Es braucht eher mehr als weniger.
Differenzen sollten also nicht als Nebenwiderspruch behandelt, hierarchisiert werden. Auch lassen sich die unterschiedlichen Anliegen und Interessen nicht einfach addieren – sie müssen aktiv verbunden werden. Das geht nur, wenn man es mit den Leuten selbst macht, präsent ist, in ihrem Lebensalltag gemeinsam organisiert, in den Vierteln und im Betrieb, Menschen zur Selbstermächtigung befähigt. Auf dieser Basis kann auch die Glaubwürdigkeit der LINKEN zurückgewonnen werden, auf die eine funktionierende parlamentarische Vertretung aufsetzen kann, und die eine Anziehung entwickelt auch für die Vielen, die nicht politisch aktiv werden wollen oder können.
Es bedarf einer Stärkung der sozial-ökonomischen Themen. Aber wer ist die Klasse? Wer steht für die Klasse: der Kohlekumpel in der Lausitz, der von Digitalisierung bedrohte Industriearbeiter, der DHL-Bote am Ende einer informatisierten Logistikkette oder doch die Krankenschwester in den modernen Krankenhauskonzernen? Die Klasse ist in permanenter Veränderung.
Sie sollte nicht verwechselt werden, mit der alten, weißen, männlichen Arbeiterklasse benachteiligter alt-industrieller Regionen. Dies ist der Teil der Arbeiterklasse, der so gern angerufen wird, wenn vom Brexit, von Trump, Le Pen, AfD etc. gesprochen wird. Natürlich hat auch diese Klassenfraktion legitime Interessen. Aber die Klasse insgesamt ist vielfältiger, immer schon, heute erst recht: Wir haben ein riesiges Prekariat, ein Teil davon gehört zum akademisch ausgebildeten, kosmopolitisch urbanen Prekariat, welches relativ offen ist für emanzipative Positionen und wesentlicher Teil jener Protestbewegungen der letzten Jahrzehnte, von denen viele von uns selbst Teil sind. Und dann ist da ein formal weniger gut ausgebildetes, meist in anderen, benachteiligten urbanen Vierteln wohnendes Prekariat, das meist nicht organisiert ist, seltener wählen geht, wenn überhaupt, aber dennoch ansprechbar für linke Politiken, wenn nur jemand sie fragen würde.
Nichtzuletzt ist die Klasse heute eine viel weiblichere, migrantischere, vielfarbigere, mit unterschiedlichster sexueller Orientierung und Identität. Auch der allergrößte Teil der ins Land kommenden Migrant_innen und Geflüchteten ist selbst Teil der Arbeiterklasse. Und längst ist die Arbeiterklasse in globalen Produktionsketten grenzüberschreitend in der Arbeit verbunden, zumindest grenzüberschreitend ausgebeutet, die transnationale Organisierung hingegen steht noch am Anfang. Die soziale Frage muss also (immer schon) auch aus der Sicht der Migration gestellt werden, denn die Einwanderungsgesellschaft ist längst Realität (vgl. Stefanie Kron in LuXemburg 1/2017). Wenn wir also von einer notwendigen Rückkehr zur Klassenfrage sprechen, reden wir nicht über eine Rückkehr zu einem reduktionistischen Konzept von Klasse oder zum vermeintlichen Hauptwiderspruch, sondern eben über eine neue Klassenpolitik, die ohne belehrende Political Correctness von Beginn an die Verwobenheit der Unterdrückungsverhältnisse – neudeutsch: intersektional – denkt, so etwa Lia Becker auf der BdWi-/RLS-Herbstakademie 2016 »Europe what’s next?«.
Das heißt, die Klasse in ihrer Vielfältigkeit erst einmal sichtbar werden zu lassen. Was denken, fühlen und wollen die Kohlarbeiter in der Lausitz, der prekär Beschäftigte bei Amazon, die Krankenschwester in der Gesundheitsfabrik, die junge Studentin, die einfachen Leute aus den Willkommensinitiativen oder der seit 40 Jahren hier lebende Migrant, der sich zunehmendem Anti-Islamismus und Gewalt gegenüber sieht? Diesen unterschiedlichen Lagen, Sorgen und Nöten ist erst einmal mit Empathie zu begegnen.
Klassenpolitik konkret und vor Ort
Klassenpolitik heißt auch, rausgehen, reale Verbindungen mit den popularen Klassen aufbauen, besonders in benachteiligten Gebieten, jenseits der üblichen Verdächtigen. Solidarstrukturen, rebellische Nachbarschaften und rebellische Städte schaffen, mehr werden, eine stärkere soziale Basis organisieren, all dies ist unverzichtbar um als Linke wirksam zu werden (Candeias/Brie 2016). Einiges ist in dieser Hinsicht bereits auf den Weg gebracht. Die LINKE hat hier eine Verantwortung, der sich SPD und Grüne (bisher) nicht stellen wollen: Sie muss eine Alternative verkörpern, die mit dem Weiter-so bricht.
Das heißt konkret auch einfach Dinge zu tun, die so schwer erscheinen: etwa die Leute aufzusuchen, an den Türen zu klingeln, vor allem in bestehenden oder ehemaligen Hochburgen der LINKEN, insbesondere in benachteiligten Vierteln, bundesweit (vgl. Steckner in LuXemburg 1/2017). Und zwar ganz gleich ob es sich um, Bio-Deutsche, Migrat*innen jedweder Generation mit oder ohne Wahlrecht oder neuangekommene Geflüchtete handelt: Verbindungen knüpfen. Das braucht einen langen Atem. Zuhören, diskutieren, zu lokalen Treffen einladen, die sich um lokale Alltagsprobleme drehen, etwa rund ums Thema Wohnen. Wiederkommen, noch einmal versuchen. Für beide Seiten eine überraschende Erfahrung, überhaupt mal gefragt zu werden und persönlich in ein Gespräch über Alltagsprobleme und Politik zu kommen. Dabei kann es nicht einfach nur instrumentell darum gehen, Mitglieder für die eigene Organisation oder Wählerstimmen zu gewinnen. Es geht darum, lokale Knoten des Widerstands und des Aufbruchs zu etablieren.
Die Aktivist*innen an den Haustüren sind auch »immer wieder auf vorurteilsbeladene Ressentiments, Alltagsrassismus und sprachliche Gewalt gestoßen, auch bei der LINKEN gegenüber aufgeschlossenen Personen. Aber: Die wenigsten verfügten über ein geschlossenes Weltbild oder sind mit Argumenten völlig unerreichbar – anders als die gegenwärtige Debatte um postfaktisches Denken vermuten ließe. Vielmehr bestand die Herausforderung darin, über kluge Nachfragen oder knapp gehaltene Vorschläge gemeinsame Interessen – da wo vorhanden – zur Sprache zu bringen, und dabei weder die eigenen Positionen zu schleifen noch den Leuten ihre Erfahrungen abzusprechen«, meint Anne Steckner bei einer ersten Auswertung der Haustürbefragungen. Genau hinschauen und die Erreichbaren unter den Befragten ernstnehmen, Gemeinsamkeiten so weit ausloten, wie es möglich ist, ohne sich zu verbiegen. Und Ansichten so zu hinterfragen, dass man das Gegenüber nicht ganz verliert: »Meine Erfahrung von heute sagt mir, dass es nicht nur falsch, sondern auch gar nicht nötig ist, unseren Antirassismus zu verstecken oder gar abzulegen, um (wieder?) mit Menschen ins Gespräch zu kommen, deren Alltagsverstand zumindest von rassistischen Versatzstücken gespickt ist. Ich habe rassistische Äußerungen hinterfragt oder ihnen offen widersprochen, und konnte dennoch mit den Leuten über zu niedrige Renten und zu teure Kitas sprechen«, so Felix Pithan, Landessprecher der LINKEN Bremen.
»Der größte Effekt geht nicht in Richtung der Leute, bei denen man klingelt, sondern in Richtung derer, die an den Haustüren unterwegs sind. Das ist aus meiner Sicht eine ›heilsame‹ und produktive Erfahrung, weil man sich nicht in dem linken Geschwurbel in seinem linken Freundeskreis über die Welt aufregen kann, sondern die eigene Politik sprechbar machen muss, so dass man in einfacher Sprache innerhalb weniger Sätze erklären können muss, was das Problem ist und warum linke Politik darauf eine richtige Antwort ist«, sagt Moritz Warnke bei einem Treffen des Berliner Parteivorstandes der LINKEN.
Von dort geht es weiter in konkrete Organisierung in benachteiligten Wohnvierteln, sogenannten sozialen Brennpunkten, in Mieterinitiativen, Hartz-IV-Beratung, systematische Unterstützung von Arbeitskämpfen der Beschäftigten ob bei Amazon oder an den Krankenhäusern, in Willkommensinitiativen etc. – kurz beim Aufbau solidarischer Strukturen im Alltag, als Ort wechselseitiger Hilfe und politischer Organisierung.
Wie das geht, kann gelernt werden. Daher braucht es neben dem Training für eine aufsuchende Praxis auch Schulungen für transformative organizing. Im Organisierungsprozess, der nicht im Lokalismus stecken bleiben will, kommt die Frage nach dem Zusammenhang und der Verbindung der unterschiedlichen Ebenen von Politik wieder rasch ins Gespräch. Also neu starten von der lokalen Ebene, aus den Nachbarschaften heraus, durchaus inspiriert von den Rebel Cities, aber integriert in landesweite und auch europäische Perspektiven und Praxen. Auch das Nachdenken über die Adaption des Modells von Solidarity4all[1] lohnt, damit ausreichend Personal und Ressourcen vorhanden sind, um zu unterstützen und befördern, was Menschen in solchen Organisierungsprozessen – ob innerhalb oder außerhalb der LINKEN – beginnen.
Dies ist bisher auch der einzige Weg, verlorene Teile der popularen Klassen zurückzugewinnen. Dabei geht es um zum Teil berechtigte Ängste und Probleme der bedrohten Mitte und der Prekären, die sich eben nicht mehr repräsentiert, aus dem politischen Diskurs gedrängt sehen. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, an allen Interessen dieser Gruppen von links anzuschließen: Gegenüber gruppenbezogenen Abwertungsdiskursen und antiemanzipatorischen, Herrschaft reproduzierenden Positionen muss eine Grenze gezogen werden. Schließlich kann es nicht darum gehen, auf demselben Terrain wie die Rechte zu agieren. Sinnvoll wäre es, »andere Themen, Perspektiven und Werte« zu (wahl)entscheidenden Punkten zu machen, so Horst Kahrs (2015a) in einer seiner Analysen zu Rechtsentwicklung und Klassenfrage. Denn gern werden etwa jene 8 Millionen Menschen vergessen, die sich aktiv in der Arbeit mit Geflüchteten einsetzen. Ihre Interessen und ihr stiller politischer Einsatz für eine solidarische und demokratische Lebensweise wird in der öffentlichen Debatte weit weniger diskutiert als der Protest der radikalen Rechten.
Doch es kommt ganz darauf an, wovon die jeweilige Alltagserfahrung geprägt ist, von praktischer Solidarität in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz oder von Konkurrenz und Vereinzelung. Deshalb ist es auch alles andere als unmöglich, dass eine gelingende solidarische Praxis anziehender ist, als ein rechtes Projekt, welches nur eine imaginierte Selbstermächtigung mit sich bringt. Allerdings darf man zwei Dinge nicht unterschätzen: a) die »imaginierten Gemeinschaften« (Anderson) wie die »Nation« sind seit jeher enorm mobilisierende Anrufungen, während linke Organisierung viel Geduld und Mut erfordert, sich den wirklichen Mächten entgegenzustellen; b) die Einordnung in ein rechtes Projekt verändert jene Teile der popularen Klassen. Sie zurückzugewinnen ist sicher schwerer, als sie einst zu gewinnen.
Von der Solidarität zum Sozialismus
Die Rechten arbeiten mit Angst, Ressentiment und Hass. Wir müssen dagegen die Solidarität und die Hoffnung setzen, nicht als Appell, sondern als konkrete Praxis. Bernie Sanders’ politische Revolution oder auch die Rebellischen Städte im spanischen Staat stehen paradigmatisch für eine solche Perspektive. Es ist gut und es tut gut, solidarisch zu sein. Eine solidarische Praxis, die sich sowohl an Geflüchtete und Minderheiten richtet als auch an die sozial Deklassierten und die verunsicherte Mitte: Hartz-IV-Bezieher*innen, Arbeitslose und Niedriglöhner*innen, an jene, die im Hamsterrad rennend, versuchen ein »gutes Leben« zu verdienen und vielleicht manchmal sauer sind, über die vermeintlich weniger Leistungsfähigen. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass nicht nur ihre Interessen wahrgenommen werden, sondern ihrer Lage und ihrer Existenz Empathie entgegengebracht wird. Auf dieser Basis der Anerkennung von Bedürfnissen, lassen sich verbindende und solidarische Praxen entwickeln.Die Frage einer neuen Klassenpolitik muss jeweils konkret entwickelt werden also auch als inklusive feministische/intersektionale Klassenpolitik, als ökologische Klassenpolitik, als internationalistische, antirassistische/postmigrantische Klassenpolitik, bei sozial-ökonomischen Themen in der Bundesrepublik oder in Europa, bei der Frage sozialer Infrastrukturen von Gesundheit bis Wohnen für alle, ob Geflüchtete oder Hart-IV-Empfänger*innen. Aber auch bei der Arbeit 4.0, wie in der bei der Frage der Konversion von Kohleregionen, bei Fragen der Einwanderung und dem Kampf gegen Rechts, in der Gewerkschaftsarbeit, bei Schulpolitik, bei der Demokratiefrage, bei Fragen der Organisierung dem Mosaik und Parteientwicklung etc.
Die Problematik auf Klassenpolitik auszurichten dient zwei Zielen: 1.) soll sie linke Thematisierungsweisen und Perspektiven im Feminismus, in der Ökologie, im Antirassismus oder bei LGBTIQ-Themen stärken, eine stärkere Unterscheidung von beschränkten liberalen Ansätzen der Gleichstellung, ökologischen Modernisierung etc. ermöglichen, die positiven Seiten darin aufnehmen und radikalisieren – in einer »feministischen« (Fried in dieser Online-Ausgabe) und »queeren« Klassenpolitik (Woltersdorf in dieser Online-Ausgabe), einer »ökologischen Klassenpolitik« (Wissen/Röttger in dieser Online-Ausgabe), einer »antirassistischen und postmigrantischen« Klassenpolitik. Letztere müssen jeweils ausbuchstabiert werden. Denn die Behauptung der Intersektionalität/Verwobenheit reicht nicht aus. In praktischen Projekten ist es schon schwierig, zwei Widersprüche, etwa Klasse und Rassismus, produktiv in Bewegung zu bringen. Und es müssen Projekte und Praxen entwickelt werden, die über die üblichen Verdächtigen hinaus in die Vielfältigkeit der popularen Klassen hineinreichen, von diesen selbst auch getragen werden.
2.) Soziale Gerechtigkeit war schon immer »Markenkern« der Linken. Mit einer neuen Klassenpolitik kann sie dies prononcierter, mit klarem Bezug auf und Verbindung mit der Klasse »unten« und deutlichem Gegnerbezug zu den führenden Klasse »oben« und »rechts« (vgl. Candeias 2015). Eine solche neue Klassenpolitik könnte eine Art verbindender Antagonismus werden.
Die LINKE kann als Partei diese verkörpern und zugleich den falschen Gegensatz zu den vermeintlich ›weichen lila, rosa, grünen‹ Themen überwinden. Feminismus und Ökologie sind nicht nur für die Elite – es sind Klassenfragen. Immer wieder werden beide – vielleicht nicht als Nebenwidersprüche – aber doch nur als eine Art weiterer Themen behandelt, neben den ›harten Feldern‹ wie Ökonomie und Soziales. Mit der neuen Klassenpolitik, sollen diese Themen wieder stärker ins Zentrum gerückt, untrennbar verwoben werden. Nebenbei wird damit die traditionelle Klassenpolitik aus den angestaubten Nischen des Hauptwiderspruchs herausgeholt und breiter und inklusiver gedacht. Nur zusammen gedacht lässt sich der »Knoten« der unterschiedlichen Herrschaftsverhältnisse durchtrennen (Frigga Haug).
Darüber hinaus lässt sich eine neue Klassenpolitik im nationalstaatlichen Rahmen nicht verwirklichen. Sie muss internationalistisch für globale soziale Rechte eintreten, wenn sie nicht neue Ausschlüsse produzieren soll. Ein Ansatz, der die sozialen, kulturellen und politischen Rechte ernstnimmt, ergänzt dabei einen klassenbasierten, beide zielen auf Organisierung und gemeinsame Aneignung von gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Wenn wir also von einer notwendigen Rückkehr zur Klassenfrage als eine sozial-ökonomische, feministische, inklusive, intersektionale, sozial-ökologische, antirassistische/postmigrantische und internationale Klassenpolitik sprechen, reden wir über etwas, das es noch zu entwickeln gilt, wofür es bisher keine Blaupause gibt.
Die Klasse ist vielfältig gespalten, entlang beruflicher und generationeller Linien, formaler Bildung, entlang geschlechtlicher, ethno-nationaler und anderer (Selbst-)Zuschreibungen, entlang ihrer Stellung im gesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozess. Das war nie anders. Insofern geht es immer um ein making und re-making of class. Und immer auch im Verhältnis zu anderen – vor allem subalternen – Klassen (nicht zuletzt das Verhältnis zur Klasse der (Klein- und Subsistenz-)Bauern, insbesondere in Zeiten der Transnationalisierung. Dabei geht es nicht um vermeintlich ›objektive‹, sondern vielmehr um vielfältige Interessen zwischen unterschiedlichen Gruppen und Klassenfraktionen, die nicht gegeben, sondern sich erst in der Auseinandersetzung mit anderen formieren. Hier entstehen Widersprüche, in denen wir uns bewegen müssen. Und viele dieser Widersprüche durchziehen die Einzelnen selbst, weil jede*r Einzelne (und ihre [Wahl-]Familien) eben auch vielfältige Interessen verbinden muss: das Streben nach Arbeit, möglichst guter Arbeit, aber auch nach Zeit – für die Sorge um andere und sich selbst, für politisches oder kulturelles Engagement –, Interessen an einer gesunden Umwelt, einer lebenswerten Perspektive für die eigenen Kinder, einer reichen öffentlichen sozialen Infrastruktur.
Es geht um die solidarische Bearbeitung von Widersprüchen, um eine neue Klassenpolitik, die sich mit einer demokratischen Lebensweise verbindet. Und dies ist ohne die Perspektive einer grundlegenden Transformation unmöglich.
In der notwendigen Radikalität gerät Die LINKE und die neue Klassenpolitik in eine Spannung zum Dritten Pol, der sich nicht primär als ›links‹ verstehen lässt und die Verteidigung einer solidarische und demokratische Lebensweise in den Vordergrund rückt. Doch unsere Vorstellungen von einer solidarischen, demokratischen, feministischen, antirassistischen Post-Wachstums-Gesellschaft gilt es bei einem neuen alten, bei einem unabgegoltenen Namen zu nennen: Sozialismus. Wir müssen darüber streiten, was dieser Sozialismus im 21. Jahrhundert bedeuten soll – eine gute, eine solidarische, eine gerechte Gesellschaft, das Einfache, das so schwer zu machen scheint. Nicht alle werden dies unterschreiben, aber es sollte als selbstverständlich akzeptiert sein, das eine Transformationslinke innerhalb des Mosaiks oder des Dritten Pols für Sozialismus steht.
Warum ist das alles wichtig? Einmal mehr droht die gesellschaftliche Linke an inneren Spaltungen zu scheitern. Es geht um schwierige Widersprüche und notwendige Auseinandersetzungen: Wie positioniert sich die Linke einerseits in Bezug auf Fluchtbewegungen und Einwanderung und andererseits wachsenden und sich radikalisierenden Rechtspopulismus sowie eine autoritäre Sicherheitspolitik der Regierung und des europäischen Grenzregimes. Wieder einmal ist die Debatte hoch emotionalisiert, über soziale Medien verstärkt. Das Trennende wird betont. Zuschreibungen, Unterstellungen und übertriebe Vereinfachungen, aus dem Kontext gerissene Halbsätze – alles wird eingesetzt und überhöht. Überlagert wird die Debatte von vielen kleinen Destinktionskämpfen und großen politischen Proflilierungsneurosen. Perspektiven werden gegeneinandergestellt statt gemeinsam nach Möglichkeiten der Perspektivverschränkung zu suchen. Gern wird die Zuspitzung gesucht, vermeintlich um die Debatte zu beflügeln – tatsächlich ist das Gegenteil meist der Fall: Die Debatte wird verstellt, im besten Fall wird sie durch Formelkompromisse zeitweilig überdeckt. Die etablierten Medien tun ihr Übriges dazu, die Spaltungen innerhalb der Linken zu vertiefen, falsche Gegensätze zu produzieren. In dieser Gemengelage wird es schwierig anderes überhaupt zu sprechen, ohne sofort in ein Lager, eine Schublade gesteckt zu werden. Die Sprache ist vermint, das Denken wird blockiert. Es mangelt ganz massiv an verbindenden Perspektiven und Praxen. Ein Luxus der Selbstfragmentierung, den wir uns in der dramatischen Situation einer Polarisierung des Politischen zwischen neoliberalen Autoritarismus und radikaler Rechten nicht leisten können. Es wäre eine vorrangige Arbeit der Organisierung daran zu arbeiten. Aber das wäre tatsächlich eine kulturelle Revolution in der Linken. Denn wir lieben unsere Spaltungen. Zu viel »grün-rosa« Themen, LGBTIQ- und Gender-»Kram«, Political Correctness heißt es von der einen Seite, »AfD-Versteher« von der anderen. Vermittlungsintellektuelle sind gefragt, mehr denn je. Aber sie haben einen schweren Stand. Eigentlich sollte das ja auch eine Aufgabe aller sein.