Bis 2011 haben viele Beobachter konstatiert, die Armen im Nahen Osten würden ihr Schicksal passiv erdulden. In ihrem Buch »Life as Politics« zeichnen Sie ein ganz anderes Bild. Die Armen und Marginalisierten sind nicht passiv, und sie waren das auch vor dem Beginn der Revolutionen 2011 nicht. Sie suchen im Gegenteil auf vielfältige und sehr kreative Weise nach Möglichkeiten, ihr Leben zu verbessern. Das Problem der Forschung ist, dass sie nach Bewegungen Ausschau hält, wie es sie in westlichen Ländern gibt: soziale Bewegungen, die eine klare politische Agenda haben, als Kollektiv agieren, Anführer oder Sprecher haben und offen politischen Druck auf die Machthaber ausüben. Oder nach Stadtteilgruppen und Suppenküchen, die sich als politische Akteure verstehen, wie es sie etwa in vielen Städten Lateinamerikas gibt. Aber Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen gibt es. Ja, die gibt es und sie spielen in vielen Ländern eine wichtige Rolle, sie werden häufig unterschätzt. Ich habe selbst viel zur Arbeiterbewegung geforscht. Mein erstes Buch hatte den Titel »Workers and Revolution in Iran« – es ist 1987 erschienen. Aber mit der Zeit merkte ich, dass die formell beschäftigten Industriearbeiter nur ein Teil der Wirklichkeit waren. In Ägypten, im Iran, ist der Anteil derer, die im informellen Sektor arbeiten, enorm. Daraus entstand für mich die Frage: Was ist eigentlich deren Politik? So habe ich angefangen, mich mit den »Informellen« zu beschäftigen, Menschen, die in informellen Siedlungen leben, unter informellen Bedingungen arbeiten. Da hatte ich auch einen persönlichen Bezug dazu. Ich bin in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen, erst in einem Dorf, dann in einem Armenviertel von Teheran. Der Alltag dort, die Beziehungen der Menschen untereinander sind mir bis heute sehr präsent. Welche Strategien wenden die Armen an, um zu überleben? Sie versuchen nicht nur zu ›überleben‹. Sie wollen ihre Situation aktiv verbessern und nutzen dazu die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten. Sie ziehen in die Städte, besetzen Land, bauen darauf, auch ohne offizielle Genehmigung. Sie zapfen Stromleitungen oder Wasserleitungen an. Straßenhändler nutzen die Innenstädte, um dort vor den Läden ihre Waren zu verkaufen. Arme Familien versuchen durch geschickte Heirat Zugang zu besseren Kreisen zu bekommen. Frauen gehen studieren und arbeiten, sie ziehen vor Gericht und legen die Gesetze sehr kreativ in ihrem Sinne aus. Aber das sind alles Einzelhandlungen. Genau. Deshalb spreche ich von den ›nonmovements‹, den Nicht-Bewegungen. Die Akteure handeln nicht als Gruppe, sondern individuell. Aber jede einzelne Handlung erweitert den Spielraum und erleichtert es den anderen, dasselbe zu tun. Etwa wenn Frauen vor Gericht durchsetzen, dass sie das Sorgerecht für ihre Kinder bekommen – die Nächste in derselben Situation wird sich auf dieses Urteil berufen können. Damit verändern sie den Handlungsspielraum und verschieben die Grenzen, die ihnen gesetzt sind. Sie nehmen sich den Raum einfach. Ohne großes Aufsehen, ohne laute Parolen. Ich habe das »quiet encroachment« genannt: stilles Vordringen. Warum handeln die Akteure nicht offen? Sie könnten ja auch politische Forderungen stellen: Eine funktionierende Wasserversorgung verlangen, zum Beispiel. Die Straßenhändler könnten sich organisieren und für ihre Rechte kämpfen. Es scheint, dass unter den Bedingungen in arabischen Staaten das stille Vordringen für die weniger Privilegierten attraktiver ist. Die Armen sind, eben weil sie arm sind und weil sie über wenig Sicherheiten verfügen, sehr verletzlich. Offenes politisches Agieren ist für sie vielleicht zu riskant. Vor allem aber verspricht das stille Vordringen unmittelbare und sichtbare Erfolge. Würde eine politische Bewegung Erfolge bringen? Das ist nicht sicher. Und selbst wenn, ist nicht klar, ob der Einzelne davon profitieren würde. Das stille Vordringen bildet sich also vor allem in autoritären Staaten heraus, wo politisches Agieren wegen der Repression zu gefährlich ist? Die Repression ist weniger entscheidend. Stilles Vordringen setzt voraus, dass ein gewisser Spielraum vorhanden ist. Dieser kann legaler Natur sein: beispielsweise Gesetze, die nicht eindeutig definiert sind und die unterschiedlich interpretiert werden können. Er kann aber auch praktischer Natur sein: Das stille Vordringen wäre nicht möglich in einem totalitären Regime, wo der Staat jedes kleinste Schlupfloch kontrolliert. Es wäre auch schwierig in einem demokratischen Staat, wo das Gesetz sehr exakt und strikt angewandt wird. Die Staaten im Nahen Osten waren immer sehr autoritär, gleichzeitig war ihre Kontrolle etwa über die armen Stadtteile begrenzt. Marginalität bedeutet also ein Mehr an Freiheit? Es kann Fluch und Chance zugleich sein. Der Norm zu entsprechen, Teil des Mainstream zu sein, gibt Sicherheit, Macht, Akzeptanz. Aber es kann auch furchtbar einengend sein. Die Ränder der Gesellschaft sind Räume von Ausschluss, Armut, Besitzlosigkeit. Aber sie sind weniger stark kontrolliert. Das bietet auch Potenzial für die Entwicklung alternativer Verhaltensweisen. Dieser Raum kann kreativ genutzt werden, um die Lebensbedingungen zu verbessern. Nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch in sozialer Hinsicht. In Ägypten sind etwa viele Künstler und Alternative in das Dorf Fayoum gezogen, gerade weil es als abgelegen gilt. Sie sind dort, ›am Rand‹ freier in ihren Ausdrucksformen, weiter weg von staatlicher und sozialer Kontrolle. Macht es nicht einen Unterschied, ob jemand sich freiwillig für einen alternativen Lebensentwurf entscheidet, oder gezwungen ist, in Armut zu leben? Natürlich. Aber viele der informell Lebenden sind sich der Widersprüche durchaus bewusst. Sie wissen: Ein fester Job bietet mehr Sicherheit, und es wäre gut, ihn zu haben. Allerdings muss ich dann jeden Tag von 9 bis 5 im Büro sein, ich muss mich auf eine bestimmte Art und Weise anziehen, verhalten. Selbst von Straßenhändlern habe ich immer wieder, trotz aller Armut, das Argument gehört: »Aber so bin ich freier und flexibler!« Sind sich die Akteure der politischen Implikationen ihres Tuns bewusst? Ist es ein politischer Akt, wenn sie etwa Gesetze ignorieren, oder pure Notwendigkeit? Viele haben ein sehr klares Bewusstsein für das, was sie tun. Die Straßenhändler, die in Kairo die Corniche besetzen, die Uferpromenade, und dort verbotenerweise ihre Waren verkaufen und wieder und wieder von der Polizei geräumt werden, die sagen ganz klar: Gebt uns ein Gesetz, wo wir verkaufen können und genug verdienen, um zu überleben! Gebt uns ein Gesetz, das uns Gewerkschaften erlaubt! Dann zahlen wir Steuern! Was sollen wir sonst tun? Wir haben ein Recht zu leben! Das stille Vordringen ist eine Praxis, und diese Praxis verändert die Menschen. Was die Menschen wollen, ist ein Leben in Würde. Sie wollen nicht bloß überleben. Bloßes Leben, das ist entwürdigend. Aber die Bedeutung davon, was ein würdevolles Leben ist, verändert sich. Eine Frau mag in ihrem Dorf vielleicht jeden Tag weit gelaufen sein, um Wasser von der Quelle zu holen. Aber wenn sie in der Stadt wohnt, sieht sie es als ihr Recht an, fließend Wasser und Strom zu haben. Sie sieht es als ihr Recht an, dass ihre Kinder zur Schule gehen können, auch wenn sie vielleicht selbst nicht lesen und schreiben gelernt hat. War dieses veränderte Selbstverständnis der Marginalisierten ein Grund für die Revolutionen 2011? Ich würde nicht sagen, dass sich die Revolutionen daraus entwickelt haben. Die Revolution in Ägypten wurde angestoßen von jungen AktivistInnen, von Teilen der neuen arabischen Öffentlichkeit, die sich in den letzten Jahren herausgebildet hat. Diese jungen Leute hatten nicht vor, eine Revolution zu beginnen. Aber Revolutionen lassen sich nie planen, sie sind immer unvorhersehbar, passieren einfach. In einer gewissen Weise waren die ›normalen‹ Leute, die Armen, aber offenbar bereit. Als diese sich dem Protest angeschlossen haben, wurde es eine Revolution. Das hat alles verändert. Was ist geschehen, dass die Nicht-Bewegungen dann auf einmal doch politisch wurden und zu den Protesten dazustießen? Gelegenheit dafür hätte es ja auch schon die Jahre zuvor gegeben. Das würde ich auch gern wissen: Was hat dieses Mal den Unterschied gemacht? Ich frage mich bis heute, warum es im Iran 2009 nicht funktioniert hat: Millionen von Menschen gehen in Teheran auf die Straße – und die Armen, die BewohnerInnen der informellen Viertel, die ArbeiterInnen schließen sich nicht an. 2011 hat es funktioniert. In Ägypten sind die ArbeiterInnen in den Streik getreten, in Tunesien haben Gewerkschaften das Rückgrat der Revolution gebildet. Die Armen, die Marginalisierten, waren mit auf den Straßen. Ich glaube, dass eine bestimmte Gruppe von Armen eine wichtige Rolle gespielt hat: die neuen Armen oder die ›gebildeten‹ Armen. Der gewachsene Wohlstand und die bessere Bildung war also ein Grund für die Aufstände? Eher umgekehrt: Die meisten der arabischen Staaten, die auf ein sozialistisches Modell setzten, bauten den Wohlfahrtsstaat stark aus. Es bildete sich eine Mittelschicht, sehr viel mehr Menschen hatten Zugang zu Bildung als zuvor, auch aus armen Familien. Ab 1990 verschärfte sich auch dort der Neoliberalismus. Die wirtschaftliche Realität prallte zusammen mit den Hoffnungen vieler junger Menschen auf Aufstieg mit ihrem Wissen, ihren Kenntnissen, die sie nicht einsetzen konnten. Es gab also eine große Gruppe sehr gebildeter, aber armer junger Menschen. Sie waren wütend, frustriert und das ist ein Nährboden für Revolten. Vor allem aber fungierten sie als Bindeglied. Diese jungen Menschen waren mit ihren Freunden und Mitstreitern, auch solchen aus der Oberschicht, über soziale Medien vernetzt. Sie bekamen die Informationen darüber, was geschah. Aber sie redeten auch mit ihren Familien, ihren Eltern, Onkeln, Tanten und Cousins. Sie genossen Vertrauen in den Armenvierteln, anders als den Aktivisten aus der Oberschicht glaubte man ihnen, weil man sie kannte. So konnte sich der Aufstand ausbreiten. Sie waren also für die Revolution entscheidend – aber haben die Marginalisierten etwas von ihr gewonnen? Hat sich ihre Situation durch die Umbrüche verändert? Das lässt sich noch nicht sagen. Sie werden jetzt verhandeln, nicht mit dem Staat, sondern mit sich selbst. Sich überlegen, was sie eigentlich fordern wollen und können. Das erste Ziel der Marginalisierten ist Sicherheit: Die Menschen in den informellen Siedlungen wollen Nutzungsrechte für zehn Jahre oder mehr, damit sie eine Perspektive haben. Sie werden darüber diskutieren, welche Freiheiten sie dafür bereit sind aufzugeben. Jeder für sich, aber auch als Gruppe. Die Revolution hat die Menschen politisiert, sie hat eine Welle der Organisierung ausgelöst. Überall organisieren sich die Menschen und treten für ihre Interessen ein: Arbeiter, Frauen, Jugendliche, Studenten... Das ist die größte Errungenschaft der Revolution. Wenn sich sonst nichts verändert hätte – das wäre es wert gewesen. Die Interessen derer, die sich organisieren, sind sehr heterogen, ebenso wie Ihre Beispiele für das stille Vordringen. Haben der Bewohner einer informellen Siedlung und die Frau aus der Oberschicht etwas gemeinsam? Sie sind alle auf die eine oder andere Art marginalisiert. Es kann sein, dass eine Frau ökonomisch sehr gut gestellt ist, aber sozial unterdrückt. Das kann sich natürlich stark unterscheiden und die Interessen können sehr verschiedene sein. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo, während der 18 Tage Revolution, waren all diese Unterschiede weggewischt. Aber diese1 8 Tage auf dem Tahrir-Platz waren in gewissem Sinn nicht real, das sind eben jene außergewöhnlichen, ganz besonderen Momente, wie es sie nur während einer solchen Revolution gibt. Sie sind ungeheuer wichtig, um eine Revolutionsbewegung zu bilden und zusammenzuhalten. Dieses utopische Moment ist nötig: Der unglaubliche Zusammenhalt zwischen Christen, Muslimen, Atheisten, das Fehlen jeglicher sexueller Übergriffe, der Respekt. Aber man kann eine Revolution nicht nach diesem Ausnahmemoment beurteilen. Die Frage ist: Was kommt danach? Was passiert, wenn der Alltag zurückkommt. Mich hat es nicht überrascht, dass danach erstmal Zusammenstöße stattfanden. Der Prozess einer »langen Revolution« wie Raymond Williams es genannt hat, hat erst angefangen, und er wird noch lange andauern. Mit der kurzen Revolution wird zunächst nur der Staat verändert. Die wirkliche Revolution findet erst statt, wenn die sozialen Beziehungen sich verändern, und das braucht Zeit. Im Fall von Ägypten ist auch der erste Schritt noch nicht getan. Dort hat Anfang Juli 2013 das Militär Präsident Mursi abgesetzt und selbst wieder offen die Macht übernommen. Ja, die Art und Weise, wie sich die Ereignisse in Ägypten gewendet haben, hat viele Revolutionäre verwirrt. Die Konterrevolutionäre, die Vertreter des alten Regimes, sind auf einmal wieder auf der Bühne und warten darauf, nach der Intervention der Armee gegen Mursi wieder die politische Kontrolle zu übernehmen. Aber was geschehen ist, kam nicht von ungefähr: Das alte Regime war nie verschwunden, die Konterrevolution hat nur auf eine Chance gewartet, um zurückzuschlagen. Mursis Regierung ist auf miserabelste Weise daran gescheitert, die Forderungen der Revolution aufzunehmen und umzusetzen. Das hat Revolutionäre und Konterrevolutionäre quasi auf eine Seite gebracht – gegen die Regierung Mursi. So sind am 30. Juni die Anhänger der Revolution und die Anhänger Mubaraks gemeinsam auf die Straße gegangen, um Mursis Rücktritt zu fordern. Die Armee hat die Ereignisse seit längerem beobachtet und nutzte den Aufstand gegen die regierenden Muslimbrüder, um Mursis Regierung abzusetzen. Damit hat sie praktisch den Weg für die Wiedereinsetzung des alten Regimes geöffnet. Und diejenigen, die die Ägyptische Revolution des 25. Januar begonnen haben, haben jetzt ein neues Ziel, gegen das sie kämpfen müssen: die Herrschaft des Militärs. Interview und Übersetzung Juliane Schumacher.